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Wirtschaft und Umwelt
John Virapen: „Nebenwirkung Tod - Korruption in der Pharmaindustrie“
Ein Ex-Manager packt aus
Von Markus Muehler

Das Buch von John Virapen ist eine Anklageschrift gegen einen mächtigen Industriezweig. Für den Mut, sie der Öffentlichkeit vorgelegt zu haben, muss man nicht nur dem Autor, sondern auch dem Verlag Anerkennung zollen. Aber der Verfasser ist nicht nur einer, der mit dem Finger auf andere weist. Er nimmt selbst auf der Anklagebank Platz. Denn er bekennt, bis vor nicht allzu langer Zeit zu denen gehört zu haben, die sich noch immer auf erschreckende Weise schuldig machen.

John Virapen
Quelle: PROVOkant
„Ich habe den Tod von Menschen mit zu verantworten, die ich nicht kannte“, schreibt John Virapen. „Ich habe sie nicht eigenhändig getötet. Nein, ich war ein williges Werkzeug der Pharmaindustrie.“ Damit macht er sich zugleich zum Kronzeugen, der die Wirkmechanismen der aufgedeckten Verbrechen aus eigenem Mittun, also von innen her kennt. Er beschreibt

- wie „Medikamente“ des Profits wegen auf den Markt gebracht werden, obwohl ihre Nebenwirkungen nicht nur gefährlich, sondern tödlich sind;

- wie „bittere Pillen“ auch jenen angedreht werden, die gar nicht krank sind;

- wie angesehene Wissenschaftler „gekauft“ werden, damit ihre Gutachten positiv ausfallen;

- wie man Ärzte, denen gesunde Patienten am Herzen liegen sollten, dazu bringt, krankmachende Präparate zu verordnen;

- wie die Ergebnisse von abgebrochenen Studien ganz legal unter den Tisch gekehrt werden, nur weil ihre negativen Aussagen die Zulassung eines Arzneimittels verhindern würden. 
 
Wer das Buch Virapens liest, wird viele solche Details zu verkraften haben. Aber nicht nur das. Er wird konfrontiert mit der Frage, ob uns vielleicht doch nur die Gnade der Zugehörigkeit zu einer anderen sozialen Schicht davor bewahrt hat, in gleichem Maße schuldig zu werden wie die Akteure jenes Buches. Sind wir möglicherweise alle eine Art Bürger mit genetisch vererbtem Korruptionshintergrund? Ist wirklich jeder Mensch korrumpierbar? Der Ex-Manager John Virapen behauptet das jedenfalls, wenn er damit auch die Schuld der von ihm angeklagten Pharma-Szene nicht verkleinern will. „Es ist alles eine Frage des Preises“, meint er. Dies sei übrigens die wichtigste Botschaft seines Buches. „Sie erreichen, was Sie wollen, Sie verbiegen jedes Rückgrat und unterlaufen jede legale Grenze, wenn Sie nur den richtigen Preis kennen - und ihn zu zahlen bereit sind.“
 
Kometenhafter Aufstieg
 
John Virapen muss es wissen. Er, der in den Marketing-Gefilden des amerikanisch-internationalen Arzneimittelkonzerns Eli Lilly einen kometenhaften Aufstieg nahm - eben weil er sich auf die Bestechlichkeit mit einer Kunst des Bestechens einstellte wie ein passender Schlüssel auf ein Schloss.
 
Es ist Sache der Psychologen, Hirnforscher und vielleicht noch der Philosophen, darüber zu befinden, ob und inwieweit wir tatsächlich als korrumpierbare Geschöpfe angelegt sind. Mit anderen Worten: warum nicht nur die Peitsche, sondern auch das Zuckerbrot funktioniert, die Lust auf Lust. Aber für die gesellschaftliche Praxis scheint es noch viel erheblicher, danach zu fragen, wie groß und wie süß das jeweilige Zuckerbrot ist - der geldwerte Vorteil, das unauffällig zugesteckte Kuvert, die Aussicht auf Anerkennung. Und: wie leicht es die Umstände machen, damit zu locken oder verlockt zu werden.
 
35.000 Euro pro Jahr und Arzt
 
Virapen liefert exakte Informationen, die der „kleine Mann“ im Wartezimmer seines Hausarztes kaum für möglich hält: „Wussten Sie“, heißt es im Vorwort des Buches u. a., „dass große Pharmakonzerne 35.000 Euro pro Jahr und pro niedergelassenem Arzt aufwenden, um den Arzt dazu zu bringen, ihre Produkte zu verschreiben?“ Und: „Wussten Sie, dass so genannte Meinungsführer - also anerkannte Wissenschaftler und Ärzte - mit teuren Reisen, Geschenken und ganz schlicht mit Geld bestochen werden, um über Medikamente, deren schwerwiegende oder gar tödliche Nebenwirkungen publik wurden, positiv zu berichten...?“ Wie süß muss wohl erst das Zuckerbrot sein, das jene dazu verleitet, andere zu bestechen, damit diese ihnen den Weg für Verbrechen frei machen?
 
Karl Marx zitierte einst einen englischen Gewerkschafter des 19. Jahrhunderts, der die Bedingungen formulierte, unter denen Kapital kühn wird. Für 100 Prozent Profit bereits stampfe es „alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß“; „300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf die Gefahr des Galgens“. Wo es um Milliarden geht, ist jene Kühnheit, ist das Wagnis des Kriminellen besonders groß. „Die Konzerne, für die ich arbeitete, sind keine Einzelfälle“, schreibt Virapen. Und: „Ich bin kein Einzelfall.“
 
Konkrete Vorschläge für Kontrolle
 
Persönliche Vergangenheit ehrlich offenbart zu haben, ist für den Autor nicht nur eine Frage seiner Seelenruhe. Er will damit eine lebensgefährliche Branchen-Gegenwart anprangern und die Öffentlichkeit ermuntern, sich gegen deren Verbrechen zu wehren. Dabei ist er nicht nur anklagend, sondern auch konstruktiv. Als Kenner der Materie macht er konkrete Vorschläge für ein Regime staatlicher und gesellschaftlicher Kontrolle. Ein Regime, das die ausufernde kriminelle Energie des Big Business zähmen könnte - zunächst auf dem Gebiet der Mittel, die Heilmittel sein sollten. Seine Anregungen betreffen solche Problemkreise wie eine verbesserte Zulassungsordnung für neue Pharmaka, den freien Zugang der Öffentlichkeit zu den Ergebnissen aller diese Zulassung betreffenden Studien, eine zurückhaltende Werbung für Arzneimittel sowie höhere Barrieren gegen die stillschweigende Ausdehnung ihres Einsatzgebietes und gegen eine PR-Variante von Prophylaxe, die von Kritikern wiederholt als Krankheitserfindung gebrandmarkt worden ist.
 
Zudem schlägt Virapen vor, Bestechung und Bestechlichkeit auch bei Personen unter Strafe zu stellen, die, wie Ärzte, Wissenschaftler und Pharmavertreter, keine Amtsträger sind. Würden derartige Anregungen politisch gewollt und auch umgesetzt, bewiese das: Die allgemeine (?) Veranlagung des Homo sapiens, sich korrumpieren zu lassen, muss bei entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnissen nicht unbedingt zum Ausbruch kommen.
 
Nachwort des Autors zu seinem Buch:
 
Das ist meine Geschichte. Ich möchte noch einmal betonen, dass ich kein genereller Gegner von Arzneimitteln bin. Ich bin selbst auf sie angewiesen, bin selbst von der Medizin abhängig - als Diabetiker und als Träger eines Herzschrittmachers. 
Jedes Medikament wird Nebenwirkungen haben, das ist mir klar. Ich sage nicht, wir sollten alle Arzneien in den Mülleimer werfen und sterben, wenn es so weit ist. 
Ich sage nicht einmal, dass man Pharmaunternehmen einen Vorwurf machen sollte, wenn ein Medikament, das Tausende von Menschen heilt, Nebenwirkungen hat. 
Wenn aber ein Medikament, das nicht heilt, sondern nur Symptome lindert, 50 Prozent der Anwender schwerste Nebenwirkungen beschert - dann finde ich das verantwortungslos. Wird dieses Medikament vermarktet, ohne vor seinen Nebenwirkungen zu warnen - dann nenne ich das ein Verbrechen. Und werden schließlich natürliche Befindlichkeiten zu Krankheiten gemacht, um unsere Kinder mit Psychodrogen abzufüllen - dann sehe ich rot.
 
Werkzeug dieser Logik war ich lange genug. Ich bin alt, aber nicht zu alt. Heute versuche ich, gegen die von mir selbst angewandten Praktiken, die noch weiter vorangetrieben werden, vorzugehen.
 
Heute lebe ich in Deutschland. Als ich hierher zog, dachte ich, dieses Land sei wegen seiner seriösen Forschung und Korrektheit immun gegen die kriminellen Machenschaften der Pharmaindustrie. Vorfälle wie Arztbesuche mit meinem kleinen Sohn, jene ADHS-Info und weitere Recherchen belehren mich jedoch eines Besseren, nämlich dass Deutschland genauso im Geflecht von Pharmaindustrie, Wissenschaft und Behörden verstrickt ist wie Schweden oder die USA. Deutschland ist Teil der hoch entwickelten westlichen Welt.
 
Und was ist mit der so genannten Dritten Welt? Wenn all das, was Sie hier gelesen haben, in der Ersten spielt, dann können Sie sich vorstellen, wie es in der Dritten zugeht. Thema für ein weiteres Buch.
 
Und auch die Politik muss sich fragen lassen, warum ihr Interesse an einem fairen Pharmamarkt so gering ist. Bedenken Sie - es fließt so viel Geld im Gesundheitssystem in Kanäle, die mit der Versorgung der Patienten überhaupt nichts zu tun haben. Meine Geschichte zeigt, dass dies ein generelles Problem ist. Wenn allein durch das Abstellen der Korruption das Gesundheitswesen saniert werden kann - warum unternimmt niemand etwas dagegen? Das wäre Aufgabe der Politik. Entsprechende Gesetze müssen her. Und es muss ein Interesse geben, sie durchzusetzen. Stattdessen wird die Alterung der Gesellschaft diskutiert. Es wäre doch viel einfacher! Und stattdessen wird über militärische Einsätze in fernen Ländern debattiert. Über die Probleme vor Ort redet niemand. Warum nicht?
 
Lassen Sie sich nicht ins Bockshorn jagen: Das Problem ist, zugegeben, ziemlich komplex, und alle Teile darin - Ärzte, Wissenschaftler, Industrie, Behörden, Richter und Politiker - sind ineinander verfranst. Aber immer noch entscheiden an jeder Schnittstelle Menschen. Das ist entscheidend.
 
Meine Geschichte zeigt dies in erschreckendem Maße. Behörden sind nicht gesichtslos. Die Pharmaindustrie ist nicht gesichtslos. Für Außenstehende ist es verdammt schwer, Zutritt zu derartig hermetischen Systemen zu bekommen - man wird bereits von der Empfangsdame abgewiesen. Diese Systeme sind aber nicht herrenlos. Menschen entscheiden dort, und Menschen sind nicht nur potenziell korrumpierbar - Korruption kommt vor. Häufiger als Sie zu glauben wagen. Das darf man nicht hinnehmen. Das lässt sich ändern!
 
Ich war Teil des Systems. Ich habe beschlossen zu handeln. Dieses Buch ist der erste Schritt. Es ist allerdings unmöglich, allein gegen die Pharmariesen anzutreten. Nur zusammen können wir - die Öffentlichkeit - etwas ändern. Indem wir Fragen stellen - auch unbequeme - beim Arzt, in der Apotheke, in den Zeitungen. Indem wir nicht auf neu geschaffene Krankheiten hereinfallen, die uns die Pharmaindustrie einreden will.
 
Und hier ist eine Botschaft an all die Ärzte, die Psychopharmaka an Kinder verschreiben:
Würden Sie das Zeug Ihren eigenen Kindern geben?
Denken Sie bitte darüber nach.
Sie sind in einer Schlüsselstellung.
 
John Virapen wurde 1943 in British-Guyana als Kind indischer Einwanderer geboren. Nach seinem Schulabschluss in England studierte er Medizin und promovierte in Psychologie in den USA. 1968 begann seine Karriere als Ausßendienstmitarbeiter für verschiedene Pharmaunternehmen. 1979 wurde er von Eli & Lilly & Company in Schweden angeworben, deren Geschäftsführer er schließlich wurde. (PK)

 
Dank an Günter Baumgart, Herausgeber von PROVOkant, wo dieser Beitrag zuerst erschien. Mehr unter www.provokant.net
 
John Virapens Buch „Nebenwirkung Tod. Korruption in der Pharmaindustrie“ erschien im August 2008 in 3. Auflage, Neuer Europa Verlag Leipzig, 267 Seiten, 16,90 € 

Online-Flyer Nr. 189  vom 18.03.2009

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