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Inland
Die Schule ist nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems
Zum „School Shooting" von Winnenden
Von Professor Freerk Huisken
Wenn der Philologenverband anlässlich des Amoklaufs von Winnenden eine „Gefahrenzulage für Lehrkräfte“ fordert, hat er in gewisser Hinsicht den Nagel auf den Kopf getroffen. Offensichtlich gibt es auch hierzulande - die US-amerikanische Schulen mit ihren Überwachungssystemen stehen ohnehin dafür - immer wieder Schüler, die die Schule als eine Art Frontabschnitt erfahren, an dem Lehrkräfte sie so drangsalieren, dass sie glatt an Gegenwehr oder Rache denken. Pure Einbildung oder verfehlte subjektive Deutung eines recht harmonischen Schullebens durch einen Schüler, der die Welt nur noch durch die Brille von Counterstrike-Szenarien sieht, ist das nicht. Man muss gar nicht viel geistigen Aufwand betreiben, um an der Schule Seiten festzuhalten, die Schüler derart „frustrieren“, dass sie immer mal wieder den „ungerechten“, autoritären oder rücksichtslosen Lehrern mindestens im Geiste Rache androhen.
„Vertrauenswürdige Vertrauenslehrer“?
Allein schon die gesonderte Einrichtung von „Vertrauenslehrern“ spricht Bände: Das normale Lehrer-Schüler-Verhältnis ist offensichtlich eher von Miss-, denn von Vertrauen charakterisiert. Und wenn jene bayrische Schulsprecherin, die nach dem Amoklauf von Winnenden in der Talk-Sendung von M.B. Illner von „vertrauenswürdigen Vertrauenslehrern“ sprach bzw. sich versprach, so unterstreicht das noch einmal, dass selbst diese Einrichtung der Schulbehörde zum schulinternen Auffangen von kleinen oder größeren Dissonanzen nicht dasselbe ist wie die Konstitution eines Vertrauensverhältnisses. Wie auch? Es bleibt doch der vertrauenswürdigste Vertrauenslehrer eben Lehrer, also Agent jener Schuleinrichtung, die eben zunächst einmal nicht das Vertrauen der Schüler zu genießen scheint.
Lernen als permanente Bewährungsprobe
Oder nehmen wir den ganz normalen Unterricht, in dem das Lernen als permanente Bewährungsprobe für die Schüler inszeniert ist, auf die sie sich mit allerlei „Tricks“ einstellen, die bei näherem Hinsehen ebenfalls verraten, wie es um das institutionalisierte Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern bestellt ist. So weiß jeder Schüler, dass er sich möglichst nicht bei Lerndefiziten ertappen lassen darf, obwohl die nichts als das Produkt des Unterrichts sind. Folglich muss er seine Wissenslücken und Unkenntnis vertuschen und ganz bei sich behalten, weil er weiß, dass ihre Offenlegung nicht deren Beseitigung, sondern deren Bestrafung durch schlechte Noten nach sich ziehen kann. Der Übergang zu Täuschungsmanövern aller Art ist bei Tests und Klassenarbeiten deswegen angesagt, weil auch sie nicht angesetzt werden, um dem Lehrer Auskunft über den Kenntnisstand der Klasse zu geben, sondern um diesen zu benoten. Was bedeutet, dass so eine Arbeit vom Lehrer nach einer gewissen Zeit rücksichtslos gegenüber der Frage angesetzt wird, inwieweit eigentlich die Klasse den Stoff beherrscht.
Irreversible Benotungen
In Kauf genommen wird damit, dass - wie die Zensurenverteilung zwischen 1 und 6 belegt - nicht wenige Schüler irreversibel benotet werden, denen der Unterricht wenig Chancen eröffnet hat, sich adäquat vorzubereiten.(Was mit Lehrern geschieht, die den Ehrgeiz haben, allen Schülern den verlangten Unterrichtsstoff nahe zu bringen, hat man jüngst in Bayern erfahren: Das zieht Disziplinarmaßnahmen nach sich.) Wenn Schüler das Material für solche Bewährungsproben aber nicht im Kopf haben, dann kommen sie auf die Idee, es sich anderweitig zu organisieren. Und dann heißt merkwürdigerweise jede Hilfeleistung, die man vom Nachbarn einholen möchte - vom Lehrer hat man sie gerade nicht erhalten - Betrug. Ratsam ist es für Schüler ebenfalls, mit seinem Urteil über Lehrer, Lehrermeinungen und Lehrstoff dann behutsam umzugehen, wenn es kritisch aus-, d.h. aus dem Rahmen fällt.
Leistungskonkurrenz
Und da das Lernen in der Schule als Konkurrenz um gute Noten, um gute Zeugnisse, die den Fortgang der Bildungskarriere ermöglichen sollen, organisiert ist, bekommt die „Klassenkameradschaft“ nicht selten merkwürdige Züge. Da wird das Abschneiden von Mitschülern misstrauisch daraufhin begutachtet, ob auch mit gleicher Elle gemessen worden ist. Die gute Note, die man selbst verfehlt hat, gönnt man anderen dann nicht, wenn man meint, dass sie ungerechtfertigterweise erworben worden ist, weil der Lehrer mal wieder gemäß seiner Vorurteile oder Vorlieben den Rotstift angesetzt hat. Der Übergang zur Missgunst darf nicht fehlen. Da sperren sich Schüler gegen das Abschreiben, weil die gute Note des Mitschülers die eigene relativiert. Warum das so ist und in der Lernkonkurrenz so sein muss, liegt auch auf der Hand: Die Leistungskonkurrenz soll immerhin jene Schüler ermitteln, denen der Weg auf Gymnasium versperrt oder erschwert wird. Und da die Proportionen, in der die Schüler nach Hauptschule und weiterführendem Schulwesen durchsortiert werden, gerade nicht durch individuell erbrachten Leistungen bestimmt sind, sondern im Prinzip vorher behördlich festgelegt werden, steht für alle Schüler längst fest, dass die Konkurrenz viele Verlierer und weniger Sieger hervorbringt.
Wohlfeile Gewerkschaftspolitik
Wenn also der Philologenverband eine „Gefahrenzulage für Lehrkräfte“ fordert, hat er ein zwar zynisches, aber doch realistischeres Bild von dem, was die Lehrer in der Schule anrichten, im Kopf als jene GEW-Vorständlerin, die statt dessen anmahnt, dass „der Leistungsdruck gesenkt werden“ und den „Lehrkräfte(n) mehr Zeit für die Schülerinnen und Schüler“ zur Verfügung gestellt werden müsse. Das ist wohlfeile Gewerkschaftspolitik, die immer das Gegenteil von dem anfordert, was die Bildungspolitik – nicht erst seit PISA I – flächendeckend inszeniert. Das vermittelt gute Absichten, stellt sich aber ignorant gegenüber den Zwecken, die zur Zeit mit Schulpolitik durchgesetzt werden. Vermittelt wird vielmehr der Eindruck, dass die in den Ländern für Schule zuständigen Politiker eigentlich genauso gut das Gegenteil von dem tun können, was sie nun gerade gezielt betreiben, man sie also nur auf das hinweisen müsste, was der GEW zufolge der Schule gut täte und schon würden sie von ihrer Politik ablassen. Dass der Leistungsdruck durch Verkürzung der gymnasialen Schulzeit, durch Einführung von standardisierten Leistungstests und der damit verbundenen neu installierten Konkurrenz zwischen Lehrer, zwischen Schule und zwischen Regionen gerade erhöht wird, dass sich Frau Schavan und KollegInnen davon ein besseres Abschneiden im PISA-Ranking und eine effektiveren Einsatz von Bildung für die Standortkonkurrenz versprechen, dass also alles andere als schulpolitische Willkür herrscht , interessiert die gewerkschaftlichen Gutmenschen weniger.
Was hat das alles mit den Amokläufen zu tun?
Einiges. Zunächst einmal ist diesen Einlassungen von Philologen und der GEW zu entnehmen, dass sie schon einen Zusammenhang zwischen dem „School Shooting“ in Erfurt, Emsdetten und Winnenden und jenen Anstalten, in denen sie tätig sind, sehen. In der Tat, es wird wohl kein Zufall sein, wenn alle hierzulande zu unrühmlichen Ehren gelangten Amokläufer eine bzw. ihre Schule aufsuchen und dort ein Blutbad an Schülern und Lehrern anrichten. Weder haben diese Jugendlichen in der Fußgängerzone, noch bei einer Sportveranstaltung oder im Kaufhaus um sich geballert. Sie haben ganz bewusst diesen Tatort gewählt und die dort arbeitenden Schüler und Lehrer, oftmals ohne sie zu kennen, als Repräsentanten einer Institution umgebracht, die sie als verletzenden Angriff auf ihre Persönlichkeit, wenn nicht gar auf ihre personelle Existenz erfahren haben. Das muss man ernst nehmen und sollte es nicht als rein subjektive Deutung eines kranken Verstandes abbuchen, die mit der Wirklichkeit der Schule nichts zu tun hat. Was ist denn die wirkliche Schule? Sie ist zum einen - wie bereits angedeutet - eine Lernkonkurrenzveranstaltung, in der Lehrer über zukünftige Lebenschancen junger Menschen befinden, und auf die Schüler zum anderen heute ganz selbsttätig eine Anerkennungskonkurrenz drauf satteln, die manchen Schülern wichtiger ist als die gute Zensur in der wichtigen, der Lernkonkurrenz – nicht selten, weil sie mit der ohnehin schon abgeschlossen haben. Die Protagonisten der schulisch inszenierte Leistungskonkurrenz, in der der nationale Nachwuchs nach Elite und Masse durchsortiert wird, wissen, warum sie am Jahresende anlässlich der Zeugnisvergabe pädagogische Seelsorge anbieten und hoffen, dass sich keiner ihrer Schüler das Leben nimmt, weil er sich „mit dem Zeugnis“ nicht nach Hause traut.
Anerkennungskonkurrenz
Die Schüler selbst ergänzen diese Leistungskonkurrenz, deren Zwecken sie sich unterwerfen müssen, deren Mittel - dabei handelt es sich nicht um das Lernen, sondern das zensierte Lernen - sie gar nicht in der Hand haben und deren Resultaten sie ohnmächtig gegenüber stehen, um eine eigene, eben die Anerkennungskonkurrenz. In der führen sie sich als die Herren ihrer Konkurrenzmittel auf: Alle rohen Formen der Angeberei und des Mobbing - geschlechtsspezifisch sortiert - stehen dabei hoch im Kurs. Da wird geklaut und erpresst, geschlagen und ausgegrenzt, werden Schulen demoliert und Mutproben der brutalsten Art abverlangt. Gelernt haben die Kids in der Schule, bei „Deutschland sucht den Superstar“ usw., dass der Mensch ohne Selbstbewusstsein nichts ist, dass man also mit einer Portion Selbstbewusstsein die Zumutungen von Schule, Familie und Straße besser aushält – und nur deswegen ist das psychologisierte Selbstbewusstsein zum Erziehungsziel avanciert. Und das übersetzen sie sich in den Selbstbefund, irgendwie „Superstar“ zu sein, wenn nicht der „Deutschlands“, dann doch wenigstens der der Schule oder der Klasse. Der Anerkennungswahn, der sich hier austobt, erweist sich als ein Psycho-Produkt von Konkurrenzerfahrungen, das inzwischen das Privatleben derart okkupiert hat, dass jede vernünftige Bilanzierung des materiellen Gehalts einer individuellen Lebenslage nur allzu oft überlagert wird von der Frage, wie viel Beifall man für neue Klamotten, geschwollenen Bizeps, Sexual- und Saufleistungen, nebst Frech- und Rohheiten aller Art von Mitmenschen erhält, die denselben anerzogenen und inzwischen durchgesetzten geistigen Deformationen anhängen.
„Ich bin wertvoll!“
Wenn zudem heute Schüler mit 9 oder 10 Jahren ihre Schulhefte auf Lehrergeheiß mit dem Spruch „Ich bin wertvoll!“ zieren - das fällt unter Ethik-Erziehung! -, dann darf man sich endgültig nicht wundern, dass dabei der eine oder andere Robert S. oder Tim K. herauskommt. Denn wo in Schule, Familie und Umfeld vermehrt Erfahrungen gemacht werden, die diesen Spruch gerade nicht mit Material unterfüttern, wenn Niederlagen dieser oder jener Art sich vielmehr zu Frust verdichten, dann lässt er sich ebenso in die selbstzerstörerische Frage: „Bin ich wirklich wertvoll?“, wie auch in den fremdzerstörerischen Beschluss: „Denen werde ich es zeigen, dass ich wertvoll bin!“, umsetzen. Es schließt eben die radikalisierte Sorge um jenes Selbstbewusstsein, das sich nur in Idealkonstruktionen von sich selbst herumtreibt und damit Abstand von einer bewussten Bestandsaufnahme der tatsächlichen Lage des "Selbst" Abstand nimmt, beide brutalen Verlaufsformen ein: die Tötung und die Selbsttötung.
Warum war Tim K. „unauffällig“?
Aber es gibt noch den anderen Zusammenhang zwischen der angedeuteten "Schulkultur" und den Befunden über die jüngsten Amokläufe: Die Täter machen ihren „Frust“ zur Privatsache, der andere nicht nur nichts angeht, der sogar vor anderen geheim gehalten werden muss. Auch das haben sie in der Schule gelernt. Und nicht zuletzt deswegen ist Tim K. „unauffällig“. Schüler wissen, was geschehen kann, wenn sie ihre Schwächen, Beschädigungen und jene Ohnmacht offenbaren, die ihre tatsächliche Lage nun einmal kennzeichnen. Sie erfahren dann nur allzu oft, dass ihnen all dies als ihre höchst persönliche Eigenschaft um die Ohren und manchmal nicht nur um diese geschlagen wird. Gelernt haben sie, dass jede zugegebene Schwäche, jedes angezeigte Defizit in allen Konkurrenzlagen - solchen, an denen die Existenz, und solchen, an denen das Selbstbewusstsein hängt - von den Veranstaltern der Konkurrenz und von Mitkonkurrenten zum eigenen Vorteil ausgenutzt wird. Dann wird man als Versager, Schwächling, als Loser, als Opfer einsortiert und behandelt. So etwas darf nicht sein, weswegen die Welt der Heranwachsenden nur aus „coolen Typen“ besteht, die es sich den psychologischen Selbstbetrug zur zweiten Natur werden lassen. Als ohnmächtige Wichte, die sie sind und bleiben, ziehen sie dann schon einmal aus der dauerhaft und quälend erfahrenen Ohnmacht den ziemlich verkehrten Schluss, selbst einmal Macht, und gelegentlich sogar Macht in seiner existenziellsten Form als Macht über Leben und Tod auszuüben.
Die Amokläufer sind also keine defekten Monster, die ihre Mordgelüste eine Zeit lang hinter der Fassade des „unauffälligen, ruhigen Jungen“ verstecken. Es handelt sich vielmehr um aus dem Ruder gelaufene brave Lehrlinge eines pädagogisch und politisch intendierten Curriculums, mit dem sie in Schule und Gesellschaft von Kindesbeinen an traktiert werden. (PK)
Mehr zu diesem Thema in dem Artikel „Wie man in den Wald schießt…" in dieser Ausgabe und unter www.fhuisken.de
Buchtitel
Freerk Huisken war bis März 2006 Professor für Politische Ökonomie des Ausbildungssektors (Hauptwerk: "Erziehung im Kapitalismus") an der Universität Bremen. Er hat sich in zahlreichen Büchern mit dem Thema Jugendgewalt und schulische Bildung (z.B. "Der 'PISA-Schock' und seine Bewältigung") befasst.
Sein zuletzt erschienenes Buch: "Über die Unregierbarkeit des Schulvolks - Rütli-Schulen, Erfurt, Emsdetten usw.", 176 Seiten, 2007, VSA-Verlag, 12.80 Euro - ISBN 978-3-89965-210-9, endet mit dem Kapitel "Erfurt, Emsdetten… – der nächste Amoklauf kommt bestimmt. Über Konkurrenzverlierer und Selbstbewusstseinskult, über verletzte Ehre und demonstrative Rache".
Online-Flyer Nr. 190 vom 25.03.2009
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Inland
Die Schule ist nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems
Zum „School Shooting" von Winnenden
Von Professor Freerk Huisken
Wenn der Philologenverband anlässlich des Amoklaufs von Winnenden eine „Gefahrenzulage für Lehrkräfte“ fordert, hat er in gewisser Hinsicht den Nagel auf den Kopf getroffen. Offensichtlich gibt es auch hierzulande - die US-amerikanische Schulen mit ihren Überwachungssystemen stehen ohnehin dafür - immer wieder Schüler, die die Schule als eine Art Frontabschnitt erfahren, an dem Lehrkräfte sie so drangsalieren, dass sie glatt an Gegenwehr oder Rache denken. Pure Einbildung oder verfehlte subjektive Deutung eines recht harmonischen Schullebens durch einen Schüler, der die Welt nur noch durch die Brille von Counterstrike-Szenarien sieht, ist das nicht. Man muss gar nicht viel geistigen Aufwand betreiben, um an der Schule Seiten festzuhalten, die Schüler derart „frustrieren“, dass sie immer mal wieder den „ungerechten“, autoritären oder rücksichtslosen Lehrern mindestens im Geiste Rache androhen.
„Vertrauenswürdige Vertrauenslehrer“?
Allein schon die gesonderte Einrichtung von „Vertrauenslehrern“ spricht Bände: Das normale Lehrer-Schüler-Verhältnis ist offensichtlich eher von Miss-, denn von Vertrauen charakterisiert. Und wenn jene bayrische Schulsprecherin, die nach dem Amoklauf von Winnenden in der Talk-Sendung von M.B. Illner von „vertrauenswürdigen Vertrauenslehrern“ sprach bzw. sich versprach, so unterstreicht das noch einmal, dass selbst diese Einrichtung der Schulbehörde zum schulinternen Auffangen von kleinen oder größeren Dissonanzen nicht dasselbe ist wie die Konstitution eines Vertrauensverhältnisses. Wie auch? Es bleibt doch der vertrauenswürdigste Vertrauenslehrer eben Lehrer, also Agent jener Schuleinrichtung, die eben zunächst einmal nicht das Vertrauen der Schüler zu genießen scheint.
Lernen als permanente Bewährungsprobe
Oder nehmen wir den ganz normalen Unterricht, in dem das Lernen als permanente Bewährungsprobe für die Schüler inszeniert ist, auf die sie sich mit allerlei „Tricks“ einstellen, die bei näherem Hinsehen ebenfalls verraten, wie es um das institutionalisierte Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern bestellt ist. So weiß jeder Schüler, dass er sich möglichst nicht bei Lerndefiziten ertappen lassen darf, obwohl die nichts als das Produkt des Unterrichts sind. Folglich muss er seine Wissenslücken und Unkenntnis vertuschen und ganz bei sich behalten, weil er weiß, dass ihre Offenlegung nicht deren Beseitigung, sondern deren Bestrafung durch schlechte Noten nach sich ziehen kann. Der Übergang zu Täuschungsmanövern aller Art ist bei Tests und Klassenarbeiten deswegen angesagt, weil auch sie nicht angesetzt werden, um dem Lehrer Auskunft über den Kenntnisstand der Klasse zu geben, sondern um diesen zu benoten. Was bedeutet, dass so eine Arbeit vom Lehrer nach einer gewissen Zeit rücksichtslos gegenüber der Frage angesetzt wird, inwieweit eigentlich die Klasse den Stoff beherrscht.
Irreversible Benotungen
In Kauf genommen wird damit, dass - wie die Zensurenverteilung zwischen 1 und 6 belegt - nicht wenige Schüler irreversibel benotet werden, denen der Unterricht wenig Chancen eröffnet hat, sich adäquat vorzubereiten.(Was mit Lehrern geschieht, die den Ehrgeiz haben, allen Schülern den verlangten Unterrichtsstoff nahe zu bringen, hat man jüngst in Bayern erfahren: Das zieht Disziplinarmaßnahmen nach sich.) Wenn Schüler das Material für solche Bewährungsproben aber nicht im Kopf haben, dann kommen sie auf die Idee, es sich anderweitig zu organisieren. Und dann heißt merkwürdigerweise jede Hilfeleistung, die man vom Nachbarn einholen möchte - vom Lehrer hat man sie gerade nicht erhalten - Betrug. Ratsam ist es für Schüler ebenfalls, mit seinem Urteil über Lehrer, Lehrermeinungen und Lehrstoff dann behutsam umzugehen, wenn es kritisch aus-, d.h. aus dem Rahmen fällt.
Leistungskonkurrenz
Und da das Lernen in der Schule als Konkurrenz um gute Noten, um gute Zeugnisse, die den Fortgang der Bildungskarriere ermöglichen sollen, organisiert ist, bekommt die „Klassenkameradschaft“ nicht selten merkwürdige Züge. Da wird das Abschneiden von Mitschülern misstrauisch daraufhin begutachtet, ob auch mit gleicher Elle gemessen worden ist. Die gute Note, die man selbst verfehlt hat, gönnt man anderen dann nicht, wenn man meint, dass sie ungerechtfertigterweise erworben worden ist, weil der Lehrer mal wieder gemäß seiner Vorurteile oder Vorlieben den Rotstift angesetzt hat. Der Übergang zur Missgunst darf nicht fehlen. Da sperren sich Schüler gegen das Abschreiben, weil die gute Note des Mitschülers die eigene relativiert. Warum das so ist und in der Lernkonkurrenz so sein muss, liegt auch auf der Hand: Die Leistungskonkurrenz soll immerhin jene Schüler ermitteln, denen der Weg auf Gymnasium versperrt oder erschwert wird. Und da die Proportionen, in der die Schüler nach Hauptschule und weiterführendem Schulwesen durchsortiert werden, gerade nicht durch individuell erbrachten Leistungen bestimmt sind, sondern im Prinzip vorher behördlich festgelegt werden, steht für alle Schüler längst fest, dass die Konkurrenz viele Verlierer und weniger Sieger hervorbringt.
Wohlfeile Gewerkschaftspolitik
Wenn also der Philologenverband eine „Gefahrenzulage für Lehrkräfte“ fordert, hat er ein zwar zynisches, aber doch realistischeres Bild von dem, was die Lehrer in der Schule anrichten, im Kopf als jene GEW-Vorständlerin, die statt dessen anmahnt, dass „der Leistungsdruck gesenkt werden“ und den „Lehrkräfte(n) mehr Zeit für die Schülerinnen und Schüler“ zur Verfügung gestellt werden müsse. Das ist wohlfeile Gewerkschaftspolitik, die immer das Gegenteil von dem anfordert, was die Bildungspolitik – nicht erst seit PISA I – flächendeckend inszeniert. Das vermittelt gute Absichten, stellt sich aber ignorant gegenüber den Zwecken, die zur Zeit mit Schulpolitik durchgesetzt werden. Vermittelt wird vielmehr der Eindruck, dass die in den Ländern für Schule zuständigen Politiker eigentlich genauso gut das Gegenteil von dem tun können, was sie nun gerade gezielt betreiben, man sie also nur auf das hinweisen müsste, was der GEW zufolge der Schule gut täte und schon würden sie von ihrer Politik ablassen. Dass der Leistungsdruck durch Verkürzung der gymnasialen Schulzeit, durch Einführung von standardisierten Leistungstests und der damit verbundenen neu installierten Konkurrenz zwischen Lehrer, zwischen Schule und zwischen Regionen gerade erhöht wird, dass sich Frau Schavan und KollegInnen davon ein besseres Abschneiden im PISA-Ranking und eine effektiveren Einsatz von Bildung für die Standortkonkurrenz versprechen, dass also alles andere als schulpolitische Willkür herrscht , interessiert die gewerkschaftlichen Gutmenschen weniger.
Was hat das alles mit den Amokläufen zu tun?
Einiges. Zunächst einmal ist diesen Einlassungen von Philologen und der GEW zu entnehmen, dass sie schon einen Zusammenhang zwischen dem „School Shooting“ in Erfurt, Emsdetten und Winnenden und jenen Anstalten, in denen sie tätig sind, sehen. In der Tat, es wird wohl kein Zufall sein, wenn alle hierzulande zu unrühmlichen Ehren gelangten Amokläufer eine bzw. ihre Schule aufsuchen und dort ein Blutbad an Schülern und Lehrern anrichten. Weder haben diese Jugendlichen in der Fußgängerzone, noch bei einer Sportveranstaltung oder im Kaufhaus um sich geballert. Sie haben ganz bewusst diesen Tatort gewählt und die dort arbeitenden Schüler und Lehrer, oftmals ohne sie zu kennen, als Repräsentanten einer Institution umgebracht, die sie als verletzenden Angriff auf ihre Persönlichkeit, wenn nicht gar auf ihre personelle Existenz erfahren haben. Das muss man ernst nehmen und sollte es nicht als rein subjektive Deutung eines kranken Verstandes abbuchen, die mit der Wirklichkeit der Schule nichts zu tun hat. Was ist denn die wirkliche Schule? Sie ist zum einen - wie bereits angedeutet - eine Lernkonkurrenzveranstaltung, in der Lehrer über zukünftige Lebenschancen junger Menschen befinden, und auf die Schüler zum anderen heute ganz selbsttätig eine Anerkennungskonkurrenz drauf satteln, die manchen Schülern wichtiger ist als die gute Zensur in der wichtigen, der Lernkonkurrenz – nicht selten, weil sie mit der ohnehin schon abgeschlossen haben. Die Protagonisten der schulisch inszenierte Leistungskonkurrenz, in der der nationale Nachwuchs nach Elite und Masse durchsortiert wird, wissen, warum sie am Jahresende anlässlich der Zeugnisvergabe pädagogische Seelsorge anbieten und hoffen, dass sich keiner ihrer Schüler das Leben nimmt, weil er sich „mit dem Zeugnis“ nicht nach Hause traut.
Anerkennungskonkurrenz
Die Schüler selbst ergänzen diese Leistungskonkurrenz, deren Zwecken sie sich unterwerfen müssen, deren Mittel - dabei handelt es sich nicht um das Lernen, sondern das zensierte Lernen - sie gar nicht in der Hand haben und deren Resultaten sie ohnmächtig gegenüber stehen, um eine eigene, eben die Anerkennungskonkurrenz. In der führen sie sich als die Herren ihrer Konkurrenzmittel auf: Alle rohen Formen der Angeberei und des Mobbing - geschlechtsspezifisch sortiert - stehen dabei hoch im Kurs. Da wird geklaut und erpresst, geschlagen und ausgegrenzt, werden Schulen demoliert und Mutproben der brutalsten Art abverlangt. Gelernt haben die Kids in der Schule, bei „Deutschland sucht den Superstar“ usw., dass der Mensch ohne Selbstbewusstsein nichts ist, dass man also mit einer Portion Selbstbewusstsein die Zumutungen von Schule, Familie und Straße besser aushält – und nur deswegen ist das psychologisierte Selbstbewusstsein zum Erziehungsziel avanciert. Und das übersetzen sie sich in den Selbstbefund, irgendwie „Superstar“ zu sein, wenn nicht der „Deutschlands“, dann doch wenigstens der der Schule oder der Klasse. Der Anerkennungswahn, der sich hier austobt, erweist sich als ein Psycho-Produkt von Konkurrenzerfahrungen, das inzwischen das Privatleben derart okkupiert hat, dass jede vernünftige Bilanzierung des materiellen Gehalts einer individuellen Lebenslage nur allzu oft überlagert wird von der Frage, wie viel Beifall man für neue Klamotten, geschwollenen Bizeps, Sexual- und Saufleistungen, nebst Frech- und Rohheiten aller Art von Mitmenschen erhält, die denselben anerzogenen und inzwischen durchgesetzten geistigen Deformationen anhängen.
„Ich bin wertvoll!“
Wenn zudem heute Schüler mit 9 oder 10 Jahren ihre Schulhefte auf Lehrergeheiß mit dem Spruch „Ich bin wertvoll!“ zieren - das fällt unter Ethik-Erziehung! -, dann darf man sich endgültig nicht wundern, dass dabei der eine oder andere Robert S. oder Tim K. herauskommt. Denn wo in Schule, Familie und Umfeld vermehrt Erfahrungen gemacht werden, die diesen Spruch gerade nicht mit Material unterfüttern, wenn Niederlagen dieser oder jener Art sich vielmehr zu Frust verdichten, dann lässt er sich ebenso in die selbstzerstörerische Frage: „Bin ich wirklich wertvoll?“, wie auch in den fremdzerstörerischen Beschluss: „Denen werde ich es zeigen, dass ich wertvoll bin!“, umsetzen. Es schließt eben die radikalisierte Sorge um jenes Selbstbewusstsein, das sich nur in Idealkonstruktionen von sich selbst herumtreibt und damit Abstand von einer bewussten Bestandsaufnahme der tatsächlichen Lage des "Selbst" Abstand nimmt, beide brutalen Verlaufsformen ein: die Tötung und die Selbsttötung.
Warum war Tim K. „unauffällig“?
Aber es gibt noch den anderen Zusammenhang zwischen der angedeuteten "Schulkultur" und den Befunden über die jüngsten Amokläufe: Die Täter machen ihren „Frust“ zur Privatsache, der andere nicht nur nichts angeht, der sogar vor anderen geheim gehalten werden muss. Auch das haben sie in der Schule gelernt. Und nicht zuletzt deswegen ist Tim K. „unauffällig“. Schüler wissen, was geschehen kann, wenn sie ihre Schwächen, Beschädigungen und jene Ohnmacht offenbaren, die ihre tatsächliche Lage nun einmal kennzeichnen. Sie erfahren dann nur allzu oft, dass ihnen all dies als ihre höchst persönliche Eigenschaft um die Ohren und manchmal nicht nur um diese geschlagen wird. Gelernt haben sie, dass jede zugegebene Schwäche, jedes angezeigte Defizit in allen Konkurrenzlagen - solchen, an denen die Existenz, und solchen, an denen das Selbstbewusstsein hängt - von den Veranstaltern der Konkurrenz und von Mitkonkurrenten zum eigenen Vorteil ausgenutzt wird. Dann wird man als Versager, Schwächling, als Loser, als Opfer einsortiert und behandelt. So etwas darf nicht sein, weswegen die Welt der Heranwachsenden nur aus „coolen Typen“ besteht, die es sich den psychologischen Selbstbetrug zur zweiten Natur werden lassen. Als ohnmächtige Wichte, die sie sind und bleiben, ziehen sie dann schon einmal aus der dauerhaft und quälend erfahrenen Ohnmacht den ziemlich verkehrten Schluss, selbst einmal Macht, und gelegentlich sogar Macht in seiner existenziellsten Form als Macht über Leben und Tod auszuüben.
Die Amokläufer sind also keine defekten Monster, die ihre Mordgelüste eine Zeit lang hinter der Fassade des „unauffälligen, ruhigen Jungen“ verstecken. Es handelt sich vielmehr um aus dem Ruder gelaufene brave Lehrlinge eines pädagogisch und politisch intendierten Curriculums, mit dem sie in Schule und Gesellschaft von Kindesbeinen an traktiert werden. (PK)
Mehr zu diesem Thema in dem Artikel „Wie man in den Wald schießt…" in dieser Ausgabe und unter www.fhuisken.de
Buchtitel
Sein zuletzt erschienenes Buch: "Über die Unregierbarkeit des Schulvolks - Rütli-Schulen, Erfurt, Emsdetten usw.", 176 Seiten, 2007, VSA-Verlag, 12.80 Euro - ISBN 978-3-89965-210-9, endet mit dem Kapitel "Erfurt, Emsdetten… – der nächste Amoklauf kommt bestimmt. Über Konkurrenzverlierer und Selbstbewusstseinskult, über verletzte Ehre und demonstrative Rache".
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