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Arbeit und Soziales
Jede Menge Versprechen vor dem 27. September, aber:
Nach der Wahl ist Zahltag
Von Franz Kersjes
Verspricht den Bürgern auf ihrer
Internetseite „Steuererleichterungen und Abgabensenkungen“ – Angela Merkel
Quelle: NRhZ-Archiv
Die ersten Opfer der System- krise sind Leiharbeitskräfte, befristet und geringfügig Be- schäftigte sowie Schein- selbstständige. Besonders hart betroffen sind junge Menschen. Die Arbeitslosig- keit bei den unter 25jährigen ist deutlich gestiegen. Das liegt zum einen daran, dass viele Jugendliche nach ihrer Ausbildung nicht in ein Arbeitsverhältnis übernom- men werden, zum anderen daran, dass viele junge Leute nur in Zeitarbeitsverhältnis- sen beschäftigt werden. Und in diesem Bereich werden derzeit drastisch Stellen abgebaut. Zudem erhalten zuerst junge Menschen die Kündigung, wenn Sozialpläne ausgehandelt worden sind.
Die neue Armut in Deutschland betrifft in erster Linie Familien mit Kindern, in denen die Einkommen der Haupternährer selbst bei Vollzeitarbeitsverhältnissen zum Leben nicht reichen. Stark betroffen sind auch Leute mit Teilzeitjobs, allein erziehende Mütter, LeiharbeitnehmerInnen oder Beschäftigte im Niedriglohnbereich, die ihre Einkommen mit Arbeitslosengeld II aufstocken müssen. So kommt es, dass über eine Million Menschen inzwischen täglich Essen von den Deutschen Tafeln erhalten – und es werden immer mehr.
Dividenden für Aktionäre – Verluste für Beschäftigte
Hunderttausende Arbeitsplätze sind auch in den 30 größten Unternehmen im deutschen Aktienindex (Dax) bedroht. Trotzdem werden den Aktionären 22,4 Milliarden Euro an Dividenden ausgezahlt – und dies obwohl 12 Dax-Konzerne vom Staat mit Steuergeldern gestützt werden. In diesem Jahr schüttete etwa Daimler 556 Millionen Euro an die Anteilseigner aus, VW 779 Millionen, Thyssen Krupp 603 Millionen und die BASF sogar 1,8 Milliarden Euro. Alle genannten Unternehmen haben Mitarbeiter/innen in Kurzarbeit geschickt. Dafür zahlten die Beitragszahler von Januar bis April 2009 insgesamt 578 Millionen Euro. Der Bremer Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel bezeichnete es im Fernsehmagazin Frontal 21 als einen Skandal, „wenn jetzt Unternehmen auf der einen Seite öffentliche Mittel in Anspruch nehmen, etwa in der Form von Kurzarbeit bei Mercedes-Benz, und auf der anderen Seite dann noch Dividenden ausgeschüttet werden“. Auch aus wirtschaftlicher Sicht sei das Festhalten an der so genannten Dividendenkontinuität absolut falsch. „Wir haben Betriebe, die enorm in der Krise sind – und man muss auch einem Aktionär deutlich machen, dass ein Unternehmen, an dem er mit Kapital beteiligt ist, auf Dauer besser überlebt, wenn man heute auf Dividenden verzichtet.“
Professor Rudolf Hickel
NRhZ-Archiv
Seit Jahresanfang haben rund 70.000 Betriebe für über zwei Millionen Mitarbeiter Kurzarbeit angemeldet. Doch diese Maßnahme schützt nicht vor Entlassungen. Fachleute befürchten vielmehr zunehmende Mitnahmeeffekte, also Missbrauch der Kurzarbeit durch die Verantwortlichen in den Unternehmen. „Was wir in den letzten Monaten beim Kurzarbeitergeld erlebt haben, ist wie eine Rutschbahn nach unten. Der Gesetzgeber ist ja den Arbeitgebern von Monat zu Monat mit immer besseren Bedingungen entgegen gekommen“, kritisiert Stefan Sell, Professor an der Fachhochschule Koblenz-Remagen. Auch die Ausdehnung der Bezugsdauer von Kurzarbeitergeld um weitere sechs auf 24 Monate wird Arbeitsplatzverluste nicht verhindern.
Außerdem soll die Bundesagentur für Arbeit (BA) ab dem siebten Monat der Kurzarbeit auch den Arbeitgeberanteil der Sozialbeiträge übernehmen, was den Missbrauch durch Kündigungen oder Betriebsschließung unmittelbar im Anschluss an die Kurzarbeit nicht ausschließt. Kurzarbeit dient den Unternehmen oft als Instrument der Liquiditätssicherung, um vergleichsweise teure Sozialpläne mit entsprechenden Abfindungen zu vermeiden.
Die Konkurrenz unter den Beschäftigten wird weiter zunehmen. Immer mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben Angst vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes. Und viele Unternehmer nutzen diese Angst rigoros aus. In vielen Betrieben verschlechtern sich die Arbeitsbedingungen ganz erheblich. Und die gesetzlichen Regelungen des Kündigungsschutzes gelten für eine große Zahl von Beschäftigten nicht mehr. Politische Parteien wie CDU, SPD und die Grünen haben in der Vergangenheit durch Gesetzesänderungen den Schutz durchlöchert. Etwa 2,7 Millionen ArbeitnehmerInnen arbeiten mit Verträgen auf Zeit. Jeder zweite Berufsanfänger ist
befristet beschäftigt. Auch für die LeiharbeitnehmerInnen ist der Kündigungsschutz äußerst schwach. In Kleinbetrieben gilt er gar nicht. Die rotgrüne Bundesregierung unter Kanzler Schröder (!) erhöhte im Jahr 2004 die Zahl der schutzlosen Betriebe von fünf auf zehn Beschäftigte. Davon sind 4,8 Millionen Arbeitnehmer/innen betroffen.
Trickreiche Rentenpolitik
Keine Regierung kann es sich leisten, gegen 20 Millionen Rentnerinnen und Rentner Wahlkampf zu führen. Nur deshalb hat die Bundesregierung eine „Rentengarantie“ beschlossen. Die Neuregelung schließt Rentenkürzungen im Fall von negativen Lohnentwicklungen aus. Im Gegenzug werden die Altersbezüge in Zukunft langsamer steigen; denn eine mögliche
Rentenkürzung soll in den folgenden Jahren nachgeholt werden. So drohen viele Nullrunden. Denn mögliche Rentenkürzungen werden quasi nur gestundet. Künftig werden Rentenerhöhungen solange gekürzt, bis die ausgesetzte Rentenkürzung ausgeglichen ist. Abgerechnet wird außerdem ab 2011 die „überplanmäßige Rentenerhöhung“ in den Jahren 2008 und 2009, in denen die Regierung den Riester-Faktor ausgesetzt hat. Die Kaufkraft der Renten wird also in den nächsten Jahren spürbar sinken. Von Rentengarantie kann also keine Rede sein.
Die so genannte Rentengarantie der Großen Koalition wird vom Sozialverband VdK und dem Sozialverband Deutschland (SoVD) zu Recht als „Mogelpackung“ kritisiert. „Das wird den Rentnern als Geschenk verkauft, dabei handelt es sich um nichts anderes als eine Nullrunde“, sagte die VdK-Präsidentin Ulrike Mascher. Um „Nullrunden bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag“ zu verhindern, forderte sie eine Rentenreform. Der Deutsche Gewerkschaftsbund begrüßt die beschlossene Sicherungsklausel gegen Rentenkürzungen und fordert weitergehende Reformen für mehr Sicherheit im Alter. Es müsse sichergestellt werden, dass Kurzarbeit nicht zu Einbußen für künftige Rentnerinnen und Rentner führe, verlangte DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach. Sie wandte sich in diesem Zusammenhang gegen die Kritik, die Sicherungsmaßnahme würde die jungen Generationen belasten. „Das größte Problem für die jungen Generationen ist, dass die gesetzliche Rente um bis zu 25 Prozent gekürzt worden ist und sich viele Junge aufgrund von Lohndumping und prekärer Beschäftigung nicht ausreichend fürs Alter absichern können. Zusammen mit der hohen Langzeitarbeitslosigkeit und der geplanten Rente mit 67 droht uns in Zukunft Altersarmut in ungeahntem Ausmaß, wenn die Bundesregierung nicht schnellstens gegensteuert.“ Der DGB fordert die Weiterentwicklung der Gesetzlichen Rentenversicherung zu einer Erwerbstätigenversicherung, in die zusätzlich Politiker, Selbstständige und perspektivisch auch Beamte einbezogen werden.
Die Folgen neoliberaler Misswirtschaft
Das Ausmaß des Desasters, das durch die neoliberale Misswirtschaft und das Versagen der Politik angerichtet wurde, ist derzeit noch gar nicht absehbar, weil die Folgen unübersehbar sind und sich die Prognosen so genannter Sachverständiger fast jeden Tag ändern. Viele „Ökonomen erwarten noch Jahre im Jammertal“ (FAZ). Die Verursacher der Katastrophe werden offensichtlich nicht bestraft, und das Systemversagen wird bislang nicht entscheidend bekämpft.
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Deutschland wird allein in diesem Jahr um mindestens sechs Prozent schrumpfen, meinen Experten. Auch für das nächste Jahr ist eine deutliche Besserung nicht zu erwarten. Forscher erwarten, dass die „Krise“ bis Ende 2010 etwa 1,1 Millionen Beschäftigte arbeitslos machen wird Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Stellen werde dramatisch sinken; deshalb werden die Wirkungen auf die Sozialversicherung verheerend sein. Angesichts der Milliardenlöcher, die den Sozialversicherungen durch den Zusammenbruch des Finanz- und Wirtschaftssystems drohen, fordert der Deutsche Gewerkschaftsbund eine staatliche Defizithaftung für alle Sozialversicherungszweige. „Die Bundesregierung darf nicht tatenlos dabei zusehen, wie die Bundesagentur für Arbeit oder die Krankenkassen Schuldenberge auftürmen, von denen sie nie wieder herunterkommen werden – denn in der Folge drohen Kürzungen bei den Sozialleistungen. Wir fordern die Koalition deshalb auf, die Darlehensregelung, die wie ein Damokles-Schwert über den Sozialkassen schwebt, in eine staatliche Defizithaftung umzuwandeln“, erklärte der DGB.
Die Arbeitslosenversicherung, die Pflegekasse und die Gesetzliche Krankenversicherung brauchen künftig erhebliche Bundeszuschüsse. Je 100.000 Arbeitslose schlagen zurzeit mit einem Minus von 70 Millionen Euro jährlich zu Buche. Einer Reuter-Meldung zufolge rechnet der Verwaltungsratsvorsitzende der BA, Peter Clever, für 2010 mit einem Defizit der Bundesagentur für Arbeit von 15 bis 20 Milliarden Euro. Er forderte den Bund auf, diese Schuldenlast zu übernehmen.
Steuern werden erhöht, Sozialausgaben gesenkt
Die Steuereinnahmen des Staates sinken erheblich. Bund, Länder und Kommunen müssen sich auf Steuerausfälle von rund 316 Milliarden Euro bis zum Jahr 2013 einstellen. Allein 2009 fehlen den Haushalten 45 Milliarden Euro. Trotzdem verlangen verantwortungslose Politiker Steuersenkungen, meist aus wahltaktischen Gründen. Die Neuverschuldung erreicht Ausmaße, die bis in die jüngste Zeit unvorstellbar gewesen sind. Allein in diesem Jahr wird eine Nettokreditaufnahme von mindestens 80 Milliarden Euro erfolgen. Spätestens nach der Bundestagswahl am 27. September 2009 wird politisch zu entscheiden sein, wie die enormen Staatsschulden abgebaut werden können. Dazu gibt es grundsätzlich nur zwei Wege: Steuern erhöhen oder Ausgaben senken.
Unternehmerverbände und Lobbyisten von Kapitalinteressen haben auch schon Vorschläge in der Schublade. Beispielsweise hat der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) als „Eckpfeiler für ein Reformprogramm“ u.a. folgende Maßnahmen beschlossen: Lohnzurückhaltung; Kranken- und Pflegeversicherung auf lohnunabhängige Pauschalen umstellen; „Irrweg“ Mindestlohn verlassen; Zuwanderung erleichtern; Arbeitsmarkt flexibilisieren; Rente mit 67 beibehalten.
Nach Informationen der Financial Times Deutschland verlangt der CDU-Wirtschaftsrat in einem 24-seitigen Papier unter anderem: „Der umstrittene Gesundheitsfonds soll so umgebaut werden, dass die Krankenkassenbeiträge nicht mehr als Lohnnebenkosten von den Arbeitgebern mitgetragen werden müssen“. Auch die FDP fordert eine Abkoppelung der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung von den Arbeitskosten. Die paritätische Sozialversicherung soll endlich beseitigt werden. Das Arbeitsrecht will die FDP weiter flexibilisieren. Und Michael Hüther vom Institut der Deutschen Wirtschaft verlangt weniger Kündigungsschutz.
Für die CDU in Berlin-Brandenburg ist ein „Deeskalationsprogramm zur Erhaltung der zwingend notwendigen sozialen Infrastruktur“ erforderlich. „Es ist daher bereits zum heutigen Zeitpunkt klar, dass der Status Quo der Leistungsangebote nicht beibehalten werden kann.“ Kapitalbesitzer und Besserverdienende sollen dagegen von Einschränkungen verschont werden. „Nötig ist eine steuerliche Entlastung der Leistungsträger“, erklärte Hans-Peter Keitel, der neue Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, was eine künftige Bundesregierung aus CDU/CSU und FDP an Sozialabbau betreiben wird.
Aufklären, politisieren, Widerstand organisieren!
Deshalb müssen vor allem Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit ihren Familien aufgeklärt und politisiert werden. Und die Gewerkschaften müssen endlich gemeinsam klare Positionen gegen die Fortsetzung der neoliberalen Politik beziehen. Der Widerstand gegen die Forderungen des Kapitals und ihrer Interessenvertreter muss engagiert organisiert werden. Dazu gehört eine grundlegende Alternative zum bestehenden Wirtschaftssystem.
Nur eine demokratische Wirtschaftsordnung mit Gleichberechtigung von Arbeit und Kapital vermag das bestehende asoziale System zu beseitigen. Dieses Ziel muss vor allem von den Gewerkschaften energisch vertreten werden! Wenn sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einig sind, haben sie gemeinsam unendlich viel Macht! Und genau das fürchten ihre Gegner.
Kanzlerin Merkel warnte deshalb bereits vor einer öffentlichen Diskussion über „soziale Unruhen“. Viele Politiker haben Angst vor einer uneingeschränkten Ursachenanalyse zum ökonomischen Versagen des ungebremsten Marktradikalismus. Dazu müssen sie aber in allen gesellschaftlichen Bereichen gezwungen werden. (PK)
Hierzu hat vor einigen Tagen die aus der Partei ausgetretene Mitgründerin der Grünen, Jutta Ditfurth, das Buch “Zeit des Zorns – Streitschrift für eine gerechte Gesellschaft“ veröffentlicht. Eine Rezension finden Sie in dieser NRhZ-Ausgabe.
Franz Kersjes ist Herausgeber der Welt der Arbeit im Internet und war Landesvorsitzender der IG Druck und Papier/IG Medien in NRW - www.weltderarbeit.de
Online-Flyer Nr. 199 vom 27.05.2009
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Arbeit und Soziales
Jede Menge Versprechen vor dem 27. September, aber:
Nach der Wahl ist Zahltag
Von Franz Kersjes
Verspricht den Bürgern auf ihrer
Internetseite „Steuererleichterungen und Abgabensenkungen“ – Angela Merkel
Quelle: NRhZ-Archiv
Die neue Armut in Deutschland betrifft in erster Linie Familien mit Kindern, in denen die Einkommen der Haupternährer selbst bei Vollzeitarbeitsverhältnissen zum Leben nicht reichen. Stark betroffen sind auch Leute mit Teilzeitjobs, allein erziehende Mütter, LeiharbeitnehmerInnen oder Beschäftigte im Niedriglohnbereich, die ihre Einkommen mit Arbeitslosengeld II aufstocken müssen. So kommt es, dass über eine Million Menschen inzwischen täglich Essen von den Deutschen Tafeln erhalten – und es werden immer mehr.
Dividenden für Aktionäre – Verluste für Beschäftigte
Hunderttausende Arbeitsplätze sind auch in den 30 größten Unternehmen im deutschen Aktienindex (Dax) bedroht. Trotzdem werden den Aktionären 22,4 Milliarden Euro an Dividenden ausgezahlt – und dies obwohl 12 Dax-Konzerne vom Staat mit Steuergeldern gestützt werden. In diesem Jahr schüttete etwa Daimler 556 Millionen Euro an die Anteilseigner aus, VW 779 Millionen, Thyssen Krupp 603 Millionen und die BASF sogar 1,8 Milliarden Euro. Alle genannten Unternehmen haben Mitarbeiter/innen in Kurzarbeit geschickt. Dafür zahlten die Beitragszahler von Januar bis April 2009 insgesamt 578 Millionen Euro. Der Bremer Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel bezeichnete es im Fernsehmagazin Frontal 21 als einen Skandal, „wenn jetzt Unternehmen auf der einen Seite öffentliche Mittel in Anspruch nehmen, etwa in der Form von Kurzarbeit bei Mercedes-Benz, und auf der anderen Seite dann noch Dividenden ausgeschüttet werden“. Auch aus wirtschaftlicher Sicht sei das Festhalten an der so genannten Dividendenkontinuität absolut falsch. „Wir haben Betriebe, die enorm in der Krise sind – und man muss auch einem Aktionär deutlich machen, dass ein Unternehmen, an dem er mit Kapital beteiligt ist, auf Dauer besser überlebt, wenn man heute auf Dividenden verzichtet.“
Professor Rudolf Hickel
NRhZ-Archiv
Außerdem soll die Bundesagentur für Arbeit (BA) ab dem siebten Monat der Kurzarbeit auch den Arbeitgeberanteil der Sozialbeiträge übernehmen, was den Missbrauch durch Kündigungen oder Betriebsschließung unmittelbar im Anschluss an die Kurzarbeit nicht ausschließt. Kurzarbeit dient den Unternehmen oft als Instrument der Liquiditätssicherung, um vergleichsweise teure Sozialpläne mit entsprechenden Abfindungen zu vermeiden.
Die Konkurrenz unter den Beschäftigten wird weiter zunehmen. Immer mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben Angst vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes. Und viele Unternehmer nutzen diese Angst rigoros aus. In vielen Betrieben verschlechtern sich die Arbeitsbedingungen ganz erheblich. Und die gesetzlichen Regelungen des Kündigungsschutzes gelten für eine große Zahl von Beschäftigten nicht mehr. Politische Parteien wie CDU, SPD und die Grünen haben in der Vergangenheit durch Gesetzesänderungen den Schutz durchlöchert. Etwa 2,7 Millionen ArbeitnehmerInnen arbeiten mit Verträgen auf Zeit. Jeder zweite Berufsanfänger ist
befristet beschäftigt. Auch für die LeiharbeitnehmerInnen ist der Kündigungsschutz äußerst schwach. In Kleinbetrieben gilt er gar nicht. Die rotgrüne Bundesregierung unter Kanzler Schröder (!) erhöhte im Jahr 2004 die Zahl der schutzlosen Betriebe von fünf auf zehn Beschäftigte. Davon sind 4,8 Millionen Arbeitnehmer/innen betroffen.
Trickreiche Rentenpolitik
Keine Regierung kann es sich leisten, gegen 20 Millionen Rentnerinnen und Rentner Wahlkampf zu führen. Nur deshalb hat die Bundesregierung eine „Rentengarantie“ beschlossen. Die Neuregelung schließt Rentenkürzungen im Fall von negativen Lohnentwicklungen aus. Im Gegenzug werden die Altersbezüge in Zukunft langsamer steigen; denn eine mögliche
Rentenkürzung soll in den folgenden Jahren nachgeholt werden. So drohen viele Nullrunden. Denn mögliche Rentenkürzungen werden quasi nur gestundet. Künftig werden Rentenerhöhungen solange gekürzt, bis die ausgesetzte Rentenkürzung ausgeglichen ist. Abgerechnet wird außerdem ab 2011 die „überplanmäßige Rentenerhöhung“ in den Jahren 2008 und 2009, in denen die Regierung den Riester-Faktor ausgesetzt hat. Die Kaufkraft der Renten wird also in den nächsten Jahren spürbar sinken. Von Rentengarantie kann also keine Rede sein.
Die so genannte Rentengarantie der Großen Koalition wird vom Sozialverband VdK und dem Sozialverband Deutschland (SoVD) zu Recht als „Mogelpackung“ kritisiert. „Das wird den Rentnern als Geschenk verkauft, dabei handelt es sich um nichts anderes als eine Nullrunde“, sagte die VdK-Präsidentin Ulrike Mascher. Um „Nullrunden bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag“ zu verhindern, forderte sie eine Rentenreform. Der Deutsche Gewerkschaftsbund begrüßt die beschlossene Sicherungsklausel gegen Rentenkürzungen und fordert weitergehende Reformen für mehr Sicherheit im Alter. Es müsse sichergestellt werden, dass Kurzarbeit nicht zu Einbußen für künftige Rentnerinnen und Rentner führe, verlangte DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach. Sie wandte sich in diesem Zusammenhang gegen die Kritik, die Sicherungsmaßnahme würde die jungen Generationen belasten. „Das größte Problem für die jungen Generationen ist, dass die gesetzliche Rente um bis zu 25 Prozent gekürzt worden ist und sich viele Junge aufgrund von Lohndumping und prekärer Beschäftigung nicht ausreichend fürs Alter absichern können. Zusammen mit der hohen Langzeitarbeitslosigkeit und der geplanten Rente mit 67 droht uns in Zukunft Altersarmut in ungeahntem Ausmaß, wenn die Bundesregierung nicht schnellstens gegensteuert.“ Der DGB fordert die Weiterentwicklung der Gesetzlichen Rentenversicherung zu einer Erwerbstätigenversicherung, in die zusätzlich Politiker, Selbstständige und perspektivisch auch Beamte einbezogen werden.
Die Folgen neoliberaler Misswirtschaft
Das Ausmaß des Desasters, das durch die neoliberale Misswirtschaft und das Versagen der Politik angerichtet wurde, ist derzeit noch gar nicht absehbar, weil die Folgen unübersehbar sind und sich die Prognosen so genannter Sachverständiger fast jeden Tag ändern. Viele „Ökonomen erwarten noch Jahre im Jammertal“ (FAZ). Die Verursacher der Katastrophe werden offensichtlich nicht bestraft, und das Systemversagen wird bislang nicht entscheidend bekämpft.
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Deutschland wird allein in diesem Jahr um mindestens sechs Prozent schrumpfen, meinen Experten. Auch für das nächste Jahr ist eine deutliche Besserung nicht zu erwarten. Forscher erwarten, dass die „Krise“ bis Ende 2010 etwa 1,1 Millionen Beschäftigte arbeitslos machen wird Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Stellen werde dramatisch sinken; deshalb werden die Wirkungen auf die Sozialversicherung verheerend sein. Angesichts der Milliardenlöcher, die den Sozialversicherungen durch den Zusammenbruch des Finanz- und Wirtschaftssystems drohen, fordert der Deutsche Gewerkschaftsbund eine staatliche Defizithaftung für alle Sozialversicherungszweige. „Die Bundesregierung darf nicht tatenlos dabei zusehen, wie die Bundesagentur für Arbeit oder die Krankenkassen Schuldenberge auftürmen, von denen sie nie wieder herunterkommen werden – denn in der Folge drohen Kürzungen bei den Sozialleistungen. Wir fordern die Koalition deshalb auf, die Darlehensregelung, die wie ein Damokles-Schwert über den Sozialkassen schwebt, in eine staatliche Defizithaftung umzuwandeln“, erklärte der DGB.
Die Arbeitslosenversicherung, die Pflegekasse und die Gesetzliche Krankenversicherung brauchen künftig erhebliche Bundeszuschüsse. Je 100.000 Arbeitslose schlagen zurzeit mit einem Minus von 70 Millionen Euro jährlich zu Buche. Einer Reuter-Meldung zufolge rechnet der Verwaltungsratsvorsitzende der BA, Peter Clever, für 2010 mit einem Defizit der Bundesagentur für Arbeit von 15 bis 20 Milliarden Euro. Er forderte den Bund auf, diese Schuldenlast zu übernehmen.
Steuern werden erhöht, Sozialausgaben gesenkt
Die Steuereinnahmen des Staates sinken erheblich. Bund, Länder und Kommunen müssen sich auf Steuerausfälle von rund 316 Milliarden Euro bis zum Jahr 2013 einstellen. Allein 2009 fehlen den Haushalten 45 Milliarden Euro. Trotzdem verlangen verantwortungslose Politiker Steuersenkungen, meist aus wahltaktischen Gründen. Die Neuverschuldung erreicht Ausmaße, die bis in die jüngste Zeit unvorstellbar gewesen sind. Allein in diesem Jahr wird eine Nettokreditaufnahme von mindestens 80 Milliarden Euro erfolgen. Spätestens nach der Bundestagswahl am 27. September 2009 wird politisch zu entscheiden sein, wie die enormen Staatsschulden abgebaut werden können. Dazu gibt es grundsätzlich nur zwei Wege: Steuern erhöhen oder Ausgaben senken.
Unternehmerverbände und Lobbyisten von Kapitalinteressen haben auch schon Vorschläge in der Schublade. Beispielsweise hat der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) als „Eckpfeiler für ein Reformprogramm“ u.a. folgende Maßnahmen beschlossen: Lohnzurückhaltung; Kranken- und Pflegeversicherung auf lohnunabhängige Pauschalen umstellen; „Irrweg“ Mindestlohn verlassen; Zuwanderung erleichtern; Arbeitsmarkt flexibilisieren; Rente mit 67 beibehalten.
Nach Informationen der Financial Times Deutschland verlangt der CDU-Wirtschaftsrat in einem 24-seitigen Papier unter anderem: „Der umstrittene Gesundheitsfonds soll so umgebaut werden, dass die Krankenkassenbeiträge nicht mehr als Lohnnebenkosten von den Arbeitgebern mitgetragen werden müssen“. Auch die FDP fordert eine Abkoppelung der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung von den Arbeitskosten. Die paritätische Sozialversicherung soll endlich beseitigt werden. Das Arbeitsrecht will die FDP weiter flexibilisieren. Und Michael Hüther vom Institut der Deutschen Wirtschaft verlangt weniger Kündigungsschutz.
Für die CDU in Berlin-Brandenburg ist ein „Deeskalationsprogramm zur Erhaltung der zwingend notwendigen sozialen Infrastruktur“ erforderlich. „Es ist daher bereits zum heutigen Zeitpunkt klar, dass der Status Quo der Leistungsangebote nicht beibehalten werden kann.“ Kapitalbesitzer und Besserverdienende sollen dagegen von Einschränkungen verschont werden. „Nötig ist eine steuerliche Entlastung der Leistungsträger“, erklärte Hans-Peter Keitel, der neue Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, was eine künftige Bundesregierung aus CDU/CSU und FDP an Sozialabbau betreiben wird.
Aufklären, politisieren, Widerstand organisieren!
Deshalb müssen vor allem Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit ihren Familien aufgeklärt und politisiert werden. Und die Gewerkschaften müssen endlich gemeinsam klare Positionen gegen die Fortsetzung der neoliberalen Politik beziehen. Der Widerstand gegen die Forderungen des Kapitals und ihrer Interessenvertreter muss engagiert organisiert werden. Dazu gehört eine grundlegende Alternative zum bestehenden Wirtschaftssystem.
Nur eine demokratische Wirtschaftsordnung mit Gleichberechtigung von Arbeit und Kapital vermag das bestehende asoziale System zu beseitigen. Dieses Ziel muss vor allem von den Gewerkschaften energisch vertreten werden! Wenn sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einig sind, haben sie gemeinsam unendlich viel Macht! Und genau das fürchten ihre Gegner.
Kanzlerin Merkel warnte deshalb bereits vor einer öffentlichen Diskussion über „soziale Unruhen“. Viele Politiker haben Angst vor einer uneingeschränkten Ursachenanalyse zum ökonomischen Versagen des ungebremsten Marktradikalismus. Dazu müssen sie aber in allen gesellschaftlichen Bereichen gezwungen werden. (PK)
Hierzu hat vor einigen Tagen die aus der Partei ausgetretene Mitgründerin der Grünen, Jutta Ditfurth, das Buch “Zeit des Zorns – Streitschrift für eine gerechte Gesellschaft“ veröffentlicht. Eine Rezension finden Sie in dieser NRhZ-Ausgabe.
Franz Kersjes ist Herausgeber der Welt der Arbeit im Internet und war Landesvorsitzender der IG Druck und Papier/IG Medien in NRW - www.weltderarbeit.de
Online-Flyer Nr. 199 vom 27.05.2009
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