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Kultur und Wissen
Festnahme vor dem Reichstag wegen Gedichtlesung
Keine Schönheit in Deutschland
Von Gerrit Wustmann
Die Aktionskünstler mit neuer Zielgruppe
Foto: „Zentrum für Politische Schönheit“
Haben Sie vor der Aktion mit der Gefahr der Festnahme gerechnet oder traf Sie das Ereignis unverhofft?
Ruch: Wir haben nicht mit einer Festnahme gerechnet. Zumal wir eine Woche zuvor mit Pferd vor den Bundestag geritten sind, um zehn Thesen im Namen der Schönheit ans Hauptportal anzuschlagen. Wenn wir einmal als Gruppe von Aktionskünstlern wahrgenommen werden, warum sollten wir dann für das Rezitieren eines Gedichtes verhaftet werden?
Welche Reaktionen zeigten die Passanten am Samstag?
Die fanden das mutig und waren teilweise stark begeistert. Nach der Aktion diskutierte eine Gruppe von über 50jährigen deutlich hörbar mit der Polizei. Die wollten uns schützen. Wir wollten eigentlich junge Menschen erreichen und für Politik inspirieren. Jetzt müssen wir aber zur Kenntnis nehmen, dass wir vor allem eine ältere Generation verzaubern und zum Eingreifen bewegen.
Staatsmacht im Anmarsch, um ein Gedicht zu verhaften
Foto: „Zentrum für Politische Schönheit“
Wie argumentierte die Polizei?
Die Beamten wollten zunächst wissen, was wir vorhaben. Wir erklärten den genauen Ablauf der Aktion. Es wurde viel hin und her gefunkt. Schließlich kam die offizielle Genehmigung: Es sei uns gestattet, eine Aubade für Horst Köhler vorzutragen. Nachdem wir mit dem Gedicht für Horst Köhler fertig waren, stürmten aufgebrachte Polizisten auf uns zu und erklärten die Aktion für beendet. Das Gedicht habe „meinungsäußernde Inhalte“ enthalten.
[Siehe grauer Kasten unten, die Red.]
Dabei blieb es aber nicht. Die Beamten erhielten ständig neue Anweisungen und waren selbst etwas irritiert: Zunächst sollten sie unsere Personalien feststellen. Als wir zusammenpackten, kam eine Planänderung: wir würden mit sofortiger Wirkung der Bannmeile verwiesen. Auch das nahmen wir hin. Wenige Minuten später hieß es: Strafanzeigen gegen uns alle. Als wir die Beamten darauf hinwiesen, dass sie selbst das Gedicht abgesegnet hatten, reagierten sie sehr aufgebracht. In sichtlicher Hilflosigkeit hieß es – offenbar wieder von oben „Festnahme“.
Die Beamten protokollierten alles, aber verstanden nix
Foto: „Zentrum für Politische Schönheit“
Ergeben sich für Sie weitere Konsequenzen?
Die Beamten meinten, es werde Strafanzeige gegen alle Beteiligten gestellt. Sogar ein Fotograf aus Wien, der das ganze dokumentiert hatte, wurde unserer Gruppe zugeschlagen. Ich freue mich auf den Staatsanwalt, wenn es darum geht, Ernst Stadlers Gedicht „An die Schönheit“ zu interpretieren. Lange ist es her, dass Verse im Gerichtssaal ausgelegt werden mussten. Wenn wir so weitermachen, sind wir als Think Tank mit unserer Agenda für Schönheit bald durch in diesem Land.
Fürchten Sie einen Kulturverlust im Land, wenn Kunst als solche nicht mehr wahrgenommen oder gar für gefährlich gehalten wird?
Unser Schicksal ist doch irgendwie symptomatisch: Die bloße Nennung des Wortes Schönheit erregt bereits Misstrauen. Offenbar ist nichts dabei, für Kurt Beck stundenlang vor einem Einkaufscenter zu stehen und Zettel zu verteilen.
Hätten wir gesagt, wir seien für mehr „Diskurs“, hätte man uns einzuordnen gewusst. Wir kämpfen ja gerade darum, dass man „Schönheit“ im politischen Wollen eines Landes einzuordnen weiß. In diesem Sinne rechnen wir mit Missverständnissen. Dass man beim Einstrahlen von Poesie in die Politik aber gleich mit Strafanzeigen rechnen muss, hätten wir nicht zu träumen gewagt. Aber irgendwie verrät es doch etwas über die emotionale Verfassung, in der wir als Gesellschaft leben.
Selbst unser Geschenk für Horst Köhler wurde für eine Meinungsäußerung gehalten. Wir wollten Horst Köhler im Rahmen unserer Aktion „1 Gedicht/Tag“ für seine Verdienste um die öffentliche Bewusstmachung Afrikas ein Bild schenken. Wenige Politiker reden derart demonstrativ über Afrika. Wenigen ist klar, in welchem Reichtum die westliche Zivilisation lebt, während wir noch nicht einmal den Willen aufbringen, Flüchtlinge aus Afrika vor dem Ertrinken zu retten. Das wäre im Übrigen ganz einfach. Wir haben als Interimslösung im Seerosenprojekt Tausend fest verankerte Flosse über das Mittelmeer verstreut vorgeschlagen. Es gab einen Politiker, der ernsthaft sagte: „Wissen Sie, was das kostet?“ Wir: „Wissen Sie, was es kostet, einen Menschen ertrinken zu lassen?“
(CH)
Online-Flyer Nr. 199 vom 27.05.2009
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Kultur und Wissen
Festnahme vor dem Reichstag wegen Gedichtlesung
Keine Schönheit in Deutschland
Von Gerrit Wustmann
Die Aktionskünstler mit neuer Zielgruppe
Foto: „Zentrum für Politische Schönheit“
Haben Sie vor der Aktion mit der Gefahr der Festnahme gerechnet oder traf Sie das Ereignis unverhofft?
Ruch: Wir haben nicht mit einer Festnahme gerechnet. Zumal wir eine Woche zuvor mit Pferd vor den Bundestag geritten sind, um zehn Thesen im Namen der Schönheit ans Hauptportal anzuschlagen. Wenn wir einmal als Gruppe von Aktionskünstlern wahrgenommen werden, warum sollten wir dann für das Rezitieren eines Gedichtes verhaftet werden?
Welche Reaktionen zeigten die Passanten am Samstag?
Die fanden das mutig und waren teilweise stark begeistert. Nach der Aktion diskutierte eine Gruppe von über 50jährigen deutlich hörbar mit der Polizei. Die wollten uns schützen. Wir wollten eigentlich junge Menschen erreichen und für Politik inspirieren. Jetzt müssen wir aber zur Kenntnis nehmen, dass wir vor allem eine ältere Generation verzaubern und zum Eingreifen bewegen.
Staatsmacht im Anmarsch, um ein Gedicht zu verhaften
Foto: „Zentrum für Politische Schönheit“
Wie argumentierte die Polizei?
Die Beamten wollten zunächst wissen, was wir vorhaben. Wir erklärten den genauen Ablauf der Aktion. Es wurde viel hin und her gefunkt. Schließlich kam die offizielle Genehmigung: Es sei uns gestattet, eine Aubade für Horst Köhler vorzutragen. Nachdem wir mit dem Gedicht für Horst Köhler fertig waren, stürmten aufgebrachte Polizisten auf uns zu und erklärten die Aktion für beendet. Das Gedicht habe „meinungsäußernde Inhalte“ enthalten.
[Siehe grauer Kasten unten, die Red.]
Dabei blieb es aber nicht. Die Beamten erhielten ständig neue Anweisungen und waren selbst etwas irritiert: Zunächst sollten sie unsere Personalien feststellen. Als wir zusammenpackten, kam eine Planänderung: wir würden mit sofortiger Wirkung der Bannmeile verwiesen. Auch das nahmen wir hin. Wenige Minuten später hieß es: Strafanzeigen gegen uns alle. Als wir die Beamten darauf hinwiesen, dass sie selbst das Gedicht abgesegnet hatten, reagierten sie sehr aufgebracht. In sichtlicher Hilflosigkeit hieß es – offenbar wieder von oben „Festnahme“.
Die Beamten protokollierten alles, aber verstanden nix
Foto: „Zentrum für Politische Schönheit“
Ergeben sich für Sie weitere Konsequenzen?
Die Beamten meinten, es werde Strafanzeige gegen alle Beteiligten gestellt. Sogar ein Fotograf aus Wien, der das ganze dokumentiert hatte, wurde unserer Gruppe zugeschlagen. Ich freue mich auf den Staatsanwalt, wenn es darum geht, Ernst Stadlers Gedicht „An die Schönheit“ zu interpretieren. Lange ist es her, dass Verse im Gerichtssaal ausgelegt werden mussten. Wenn wir so weitermachen, sind wir als Think Tank mit unserer Agenda für Schönheit bald durch in diesem Land.
Fürchten Sie einen Kulturverlust im Land, wenn Kunst als solche nicht mehr wahrgenommen oder gar für gefährlich gehalten wird?
Unser Schicksal ist doch irgendwie symptomatisch: Die bloße Nennung des Wortes Schönheit erregt bereits Misstrauen. Offenbar ist nichts dabei, für Kurt Beck stundenlang vor einem Einkaufscenter zu stehen und Zettel zu verteilen.
Hätten wir gesagt, wir seien für mehr „Diskurs“, hätte man uns einzuordnen gewusst. Wir kämpfen ja gerade darum, dass man „Schönheit“ im politischen Wollen eines Landes einzuordnen weiß. In diesem Sinne rechnen wir mit Missverständnissen. Dass man beim Einstrahlen von Poesie in die Politik aber gleich mit Strafanzeigen rechnen muss, hätten wir nicht zu träumen gewagt. Aber irgendwie verrät es doch etwas über die emotionale Verfassung, in der wir als Gesellschaft leben.
Selbst unser Geschenk für Horst Köhler wurde für eine Meinungsäußerung gehalten. Wir wollten Horst Köhler im Rahmen unserer Aktion „1 Gedicht/Tag“ für seine Verdienste um die öffentliche Bewusstmachung Afrikas ein Bild schenken. Wenige Politiker reden derart demonstrativ über Afrika. Wenigen ist klar, in welchem Reichtum die westliche Zivilisation lebt, während wir noch nicht einmal den Willen aufbringen, Flüchtlinge aus Afrika vor dem Ertrinken zu retten. Das wäre im Übrigen ganz einfach. Wir haben als Interimslösung im Seerosenprojekt Tausend fest verankerte Flosse über das Mittelmeer verstreut vorgeschlagen. Es gab einen Politiker, der ernsthaft sagte: „Wissen Sie, was das kostet?“ Wir: „Wissen Sie, was es kostet, einen Menschen ertrinken zu lassen?“
(CH)
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