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Arbeit und Soziales
Fortgeschrittene Indoktrination
Bertelsmann und die Kinder
Von Ulla Wesseler
Kinder im Visier des Marktes
Das gesamte Bildungssystem ist längst und die Räder des Marktes gelangt, entdeckt und sondiert durch die Bemühungen der Bertelsmann-Stiftung. Deren Gemeinnützigkeit wird inzwischen von vielen in Frage gestellt (Die NRhZ hatte darüber berichtet). Durch sie wurde das Thema Bildung – so wie sie es sieht – längst besetzt und ist zum Teil schon weit fortgeschritten. Aber wer hätte gedacht, dass auch die Kindergärten, in ihrer Beschaulichkeit traditionell eigentlich weitgehend immun gegen die große Steuerungen von außen, auch dran glauben mussten. Ihre Immunität ist längst dahin.
Viele Jahre vorher gab es die sogenannten Vorschulmappen, nachdem Politiker die Kleinsten im Land ins Visier bekamen. Im Anschluss gab es die Welle der „offenen“ Kindergärten und der Waldkindergärten aus den Erkenntnissen der neuen Disziplin der Psychomotorik. Diese Phase hielt sich länger, weil man einfach feststellte, dass Kinder, die sich viel bewegen können und die an frischer Luft mehr Abenteuer, Freiheit und Freude erleben konnten, einfach in jeder Hinsicht fitter sind. Die Waldorfkindergärten indessen blieben von allen Trends verschont – wohl bis heute. Für sie scheint die „Bildungswelle“ keine Drohung zu sein. Und was uns so freundlich als Bildungswelle daherkommt, könnte sich für Kinder zum Bildungs-Tsunami entwickeln.
Abrichtung als Humankapital
Dass so viele ErzieherInnen wie noch nie jetzt auf die Straße gehen und sich den Streiks anschließen, hat nämlich Gründe. Und die haben nicht nur etwas mit der spärlichen Bezahlung und dem geringen Ansehen des Berufes zu tun. Dahinter verbergen sich neben der zentralen Forderung nach tariflich verankertem Gesundheitsschutz auch noch die Folgen einer wirkungsvollen Bildungsoffensive, deren Strategie es in sich hat. Sie wird eingesetzt, um Erzieherinnen, Eltern und Lehrer, Jugendämter und Fachberater willfährig zu machen, damit sie sich selbstausbeutend dem Markt unterwerfen, sich selbst reglementieren und damit schließlich Interessen zu dienen, mit denen sie sich selbst nicht mehr identifizieren können. Unter dem hehren Anspruch, man wolle Bildung für alle, wird Bildung und Förderung neu definiert, werden Probleme er- und gefunden. Ein typischer Fall also für die Stiftung Bertelsmann. Ihr zweifelhaftes Bildungs-Engagement hat beispielsweise an Universitäten bereits zu Streiks geführt.
Zwischen Spielen und Markt...
Ein Beispiel nun aus den Kindergärten. Alle Kinder in unseren Kindergärten erhalten eine mehr oder weniger liebvoll gestaltete Abschlussmappe, wenn sie den Kindergarten verlassen. Darin sind Basteleien, Fotos, Anekdoten, Bilder und manchmal kleine Produktionen der Kinder. Das sieht recht nett aus. Alles, wie man es sich wünscht - auf den ersten Blick - und das heißt inzwischen „Bildungsdokumentation“. Verankert ist sie im neuen Kindergartengesetz von NRW. Ziel von Bertelsmann ist aber offensichtlich nicht nur, mit den „Bildungs- und Lerngeschichten“ etwas Sinnvolles mit und für Kinder zu tun, sondern Geld damit zu verdienen. Bertelsmanns Wirken kann man dann an einem Messingschild erkennen, das irgendwann vor dem Kindergarten hängt. In Paderborn sind die „Bildungs- und Lerngeschichten“ der Bertelsmannstiftung bereits installiert. Auch andere Kindergärten haben sich diesem Zugriff von Bertelsmann nicht verweigert. Vielleicht ist vielen noch nicht klar, dass damit eine humanistische Pädagogik geopfert wird zugunsten von Qualitätsmanagement, Zielvereinbarung und Teamwork. Das ist keine Lappalie, wenn kleine Menschen so früh abgerichtet werden im Sinne von „Humankapital“ auf vermeintliche künftige Fragestellungen des Marktes.
Was soll ein Kind, das spielend seine Umwelt entdecken soll, mit Mathematik, frühem Englisch, Konzentrationstrainings, Sprachtrainings, Screenings, Tests und Lernvereinbarungen? Förderpläne, Curricula, homogene Lerngruppen, Begabungsförderung – das ist das „moderne“ Vokabular einer Erzieherin in unser „Bildungsgesellschaft“. Wichtige Begriffe wie individuelle Förderung sind neu besetzt worden und vereinnahmen die Beziehung der Erzieher zu einem Kind restlos. Gespielt werden darf nur, wenn damit „Lernoptimierung“ einhergeht.
Verordnete Vernachlässigung
In NRW treibt diese Form sogenannter „Frühförderung“ weitere Auswüchse, die grundsätzlich an den Bedürfnissen der Kinder und an einem emanzipatorischen Menschenbild vorbeigehen, beispielsweise die unsäglichen Sprachtests. Und die Arbeit wird immer mehr, bei gleichzeitiger massiver Kürzung der Mittel. In anderen Bundesländern sieht es nicht viel anders aus. Sogenannte „Bildungspläne“ sprießen wie Unkraut auf dem Feld, während Gelder für andere Zwecke ausgegeben werden als für die Kinder und zur Verbesserung der Rahmenbedingungen der Kindergärten. Auch die neu eingerichteten Studiengänge für Erzieherinnen sind paradox, weil sie einen Wasserkopf erzeugen. Die Studiengänge befähigen nur zu Leitungs- und Ausbildungsfunktionen. Die Frage ist also, wer dann die ganze Arbeit macht.
...an den Kinderwünschen vorbei.
Fotos: H.-D. Hey, arbeiterfotografie.com
Eine integrative, zweigruppige Kindertagesstätte mit 45 Stunden Öffnungszeit, die früher Kinder von 3-14 Jahren betreute, hat vor 15 Jahren noch 6o bis 78 Personalstunden mehr zur Verfügung gehabt als heute. Dieselbe Einrichtung betreut heute Kinder von 2 bis 6 Jahren, ist also eigentlich wesentliche personalintensiver geworden. Das bedeutet aber bei der Arbeit mit kleinen Kindern, dass die einzelnen Kinder nicht genug Unterstützung und Fürsorge genießen. Dabei gehen die ErzieherInnen bereits an das Äußerste ihrer Möglichkeiten, wenn für 10 Kinder unter zwei Jahren nur zwei Erzieherinnen vorgesehen sind. Man kann nur ein Kind zu einer Zeit wickeln und zwei gleichzeitig auf den Arm nehmen. Das, was allen als zukunftsweisende Förderung verkauft wird, ist letztlich nichts anderes als gesetzlich verordnete Vernachlässigung zu Lasten unserer Zukunft.
Unsere Kinder brauchen an erster Stelle unsere menschliche Fürsorge und Unterstützung. Darüber hinaus brauchen sie für eine gute allgemeine Entwicklung Struktur, Herausforderungen und Erwachsene, die aktiv sind, ihre erzieherische Aufgabe ernst nehmen und das Handwerk verstehen. Welcher Natur die Herausforderungen sein sollen, welche pädagogischen Zielsetzungen, Mittel und Wege unsere Gesellschaft für die Kinder will, soll und darf nur auf demokratischen Wegen und mit demokratischen Zielsetzungen erarbeitet werden. Doch das scheint nicht der Weg von Bertelsmann zu sein. Denn werden demokratische Prozesse unterlaufen wie in einem so maßgeblichen und hochsensiblen Bereich wie dem der frühkindlichen Bildung, hat das gravierende Folgen für uns alle.
Bildung als vermarktungsfähige Ware ist eine echte Heimsuchung für unser Gemeinwesen. Die Wirkung ist verheerend, weil Demokratie damit untergraben wird und der Einzelne auf das Funktionieren im Marktprozess reduziert wird. Menschsein wird reduziert auf Leistungsbereitschaft und -fähigkeit, die den Humanismus ersetzt. So gesehen ist der Streik der Erzieherinnen ein Signal der Hoffnung. Sollten sie aber nach erstrittenem Gesundheitsschutz und mit etwas mehr Geld zur Tagesordnung zurückkehren und sich weiter den neuen Paradigmen unterwerfen, haben sie und die Kinder auf Dauer schlechte Karten. Vielleicht wollen Sie sich informieren, was mit Kindern, die so indoktriniert wurden, im Anschluss passiert. Auskünfte können kritische LehrerInnen geben, die „selbständige Schule“ mit Bertelsmann spielen oder Krankenschwestern in privatisierten Kliniken. Da war Bertelsmann nämlich schon. (HDH)
Online-Flyer Nr. 200 vom 03.06.2009
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Arbeit und Soziales
Fortgeschrittene Indoktrination
Bertelsmann und die Kinder
Von Ulla Wesseler
Kinder im Visier des Marktes
Das gesamte Bildungssystem ist längst und die Räder des Marktes gelangt, entdeckt und sondiert durch die Bemühungen der Bertelsmann-Stiftung. Deren Gemeinnützigkeit wird inzwischen von vielen in Frage gestellt (Die NRhZ hatte darüber berichtet). Durch sie wurde das Thema Bildung – so wie sie es sieht – längst besetzt und ist zum Teil schon weit fortgeschritten. Aber wer hätte gedacht, dass auch die Kindergärten, in ihrer Beschaulichkeit traditionell eigentlich weitgehend immun gegen die große Steuerungen von außen, auch dran glauben mussten. Ihre Immunität ist längst dahin.
Viele Jahre vorher gab es die sogenannten Vorschulmappen, nachdem Politiker die Kleinsten im Land ins Visier bekamen. Im Anschluss gab es die Welle der „offenen“ Kindergärten und der Waldkindergärten aus den Erkenntnissen der neuen Disziplin der Psychomotorik. Diese Phase hielt sich länger, weil man einfach feststellte, dass Kinder, die sich viel bewegen können und die an frischer Luft mehr Abenteuer, Freiheit und Freude erleben konnten, einfach in jeder Hinsicht fitter sind. Die Waldorfkindergärten indessen blieben von allen Trends verschont – wohl bis heute. Für sie scheint die „Bildungswelle“ keine Drohung zu sein. Und was uns so freundlich als Bildungswelle daherkommt, könnte sich für Kinder zum Bildungs-Tsunami entwickeln.
Abrichtung als Humankapital
Dass so viele ErzieherInnen wie noch nie jetzt auf die Straße gehen und sich den Streiks anschließen, hat nämlich Gründe. Und die haben nicht nur etwas mit der spärlichen Bezahlung und dem geringen Ansehen des Berufes zu tun. Dahinter verbergen sich neben der zentralen Forderung nach tariflich verankertem Gesundheitsschutz auch noch die Folgen einer wirkungsvollen Bildungsoffensive, deren Strategie es in sich hat. Sie wird eingesetzt, um Erzieherinnen, Eltern und Lehrer, Jugendämter und Fachberater willfährig zu machen, damit sie sich selbstausbeutend dem Markt unterwerfen, sich selbst reglementieren und damit schließlich Interessen zu dienen, mit denen sie sich selbst nicht mehr identifizieren können. Unter dem hehren Anspruch, man wolle Bildung für alle, wird Bildung und Förderung neu definiert, werden Probleme er- und gefunden. Ein typischer Fall also für die Stiftung Bertelsmann. Ihr zweifelhaftes Bildungs-Engagement hat beispielsweise an Universitäten bereits zu Streiks geführt.
Zwischen Spielen und Markt...
Ein Beispiel nun aus den Kindergärten. Alle Kinder in unseren Kindergärten erhalten eine mehr oder weniger liebvoll gestaltete Abschlussmappe, wenn sie den Kindergarten verlassen. Darin sind Basteleien, Fotos, Anekdoten, Bilder und manchmal kleine Produktionen der Kinder. Das sieht recht nett aus. Alles, wie man es sich wünscht - auf den ersten Blick - und das heißt inzwischen „Bildungsdokumentation“. Verankert ist sie im neuen Kindergartengesetz von NRW. Ziel von Bertelsmann ist aber offensichtlich nicht nur, mit den „Bildungs- und Lerngeschichten“ etwas Sinnvolles mit und für Kinder zu tun, sondern Geld damit zu verdienen. Bertelsmanns Wirken kann man dann an einem Messingschild erkennen, das irgendwann vor dem Kindergarten hängt. In Paderborn sind die „Bildungs- und Lerngeschichten“ der Bertelsmannstiftung bereits installiert. Auch andere Kindergärten haben sich diesem Zugriff von Bertelsmann nicht verweigert. Vielleicht ist vielen noch nicht klar, dass damit eine humanistische Pädagogik geopfert wird zugunsten von Qualitätsmanagement, Zielvereinbarung und Teamwork. Das ist keine Lappalie, wenn kleine Menschen so früh abgerichtet werden im Sinne von „Humankapital“ auf vermeintliche künftige Fragestellungen des Marktes.
Was soll ein Kind, das spielend seine Umwelt entdecken soll, mit Mathematik, frühem Englisch, Konzentrationstrainings, Sprachtrainings, Screenings, Tests und Lernvereinbarungen? Förderpläne, Curricula, homogene Lerngruppen, Begabungsförderung – das ist das „moderne“ Vokabular einer Erzieherin in unser „Bildungsgesellschaft“. Wichtige Begriffe wie individuelle Förderung sind neu besetzt worden und vereinnahmen die Beziehung der Erzieher zu einem Kind restlos. Gespielt werden darf nur, wenn damit „Lernoptimierung“ einhergeht.
Verordnete Vernachlässigung
In NRW treibt diese Form sogenannter „Frühförderung“ weitere Auswüchse, die grundsätzlich an den Bedürfnissen der Kinder und an einem emanzipatorischen Menschenbild vorbeigehen, beispielsweise die unsäglichen Sprachtests. Und die Arbeit wird immer mehr, bei gleichzeitiger massiver Kürzung der Mittel. In anderen Bundesländern sieht es nicht viel anders aus. Sogenannte „Bildungspläne“ sprießen wie Unkraut auf dem Feld, während Gelder für andere Zwecke ausgegeben werden als für die Kinder und zur Verbesserung der Rahmenbedingungen der Kindergärten. Auch die neu eingerichteten Studiengänge für Erzieherinnen sind paradox, weil sie einen Wasserkopf erzeugen. Die Studiengänge befähigen nur zu Leitungs- und Ausbildungsfunktionen. Die Frage ist also, wer dann die ganze Arbeit macht.
...an den Kinderwünschen vorbei.
Fotos: H.-D. Hey, arbeiterfotografie.com
Eine integrative, zweigruppige Kindertagesstätte mit 45 Stunden Öffnungszeit, die früher Kinder von 3-14 Jahren betreute, hat vor 15 Jahren noch 6o bis 78 Personalstunden mehr zur Verfügung gehabt als heute. Dieselbe Einrichtung betreut heute Kinder von 2 bis 6 Jahren, ist also eigentlich wesentliche personalintensiver geworden. Das bedeutet aber bei der Arbeit mit kleinen Kindern, dass die einzelnen Kinder nicht genug Unterstützung und Fürsorge genießen. Dabei gehen die ErzieherInnen bereits an das Äußerste ihrer Möglichkeiten, wenn für 10 Kinder unter zwei Jahren nur zwei Erzieherinnen vorgesehen sind. Man kann nur ein Kind zu einer Zeit wickeln und zwei gleichzeitig auf den Arm nehmen. Das, was allen als zukunftsweisende Förderung verkauft wird, ist letztlich nichts anderes als gesetzlich verordnete Vernachlässigung zu Lasten unserer Zukunft.
Unsere Kinder brauchen an erster Stelle unsere menschliche Fürsorge und Unterstützung. Darüber hinaus brauchen sie für eine gute allgemeine Entwicklung Struktur, Herausforderungen und Erwachsene, die aktiv sind, ihre erzieherische Aufgabe ernst nehmen und das Handwerk verstehen. Welcher Natur die Herausforderungen sein sollen, welche pädagogischen Zielsetzungen, Mittel und Wege unsere Gesellschaft für die Kinder will, soll und darf nur auf demokratischen Wegen und mit demokratischen Zielsetzungen erarbeitet werden. Doch das scheint nicht der Weg von Bertelsmann zu sein. Denn werden demokratische Prozesse unterlaufen wie in einem so maßgeblichen und hochsensiblen Bereich wie dem der frühkindlichen Bildung, hat das gravierende Folgen für uns alle.
Bildung als vermarktungsfähige Ware ist eine echte Heimsuchung für unser Gemeinwesen. Die Wirkung ist verheerend, weil Demokratie damit untergraben wird und der Einzelne auf das Funktionieren im Marktprozess reduziert wird. Menschsein wird reduziert auf Leistungsbereitschaft und -fähigkeit, die den Humanismus ersetzt. So gesehen ist der Streik der Erzieherinnen ein Signal der Hoffnung. Sollten sie aber nach erstrittenem Gesundheitsschutz und mit etwas mehr Geld zur Tagesordnung zurückkehren und sich weiter den neuen Paradigmen unterwerfen, haben sie und die Kinder auf Dauer schlechte Karten. Vielleicht wollen Sie sich informieren, was mit Kindern, die so indoktriniert wurden, im Anschluss passiert. Auskünfte können kritische LehrerInnen geben, die „selbständige Schule“ mit Bertelsmann spielen oder Krankenschwestern in privatisierten Kliniken. Da war Bertelsmann nämlich schon. (HDH)
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