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Aktueller Online-Flyer vom 03. Dezember 2024  

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Kultur und Wissen
"Nationalstaat und Globalisierung" - das aktuelle Buch zur Krise (3)
Hurra, wir kapitulieren!
Von Jürgen Elsässer

„Jetzt ist die Zeit für ökonomische Patrioten", sagte Leo Gerard, Chef der US-Stahlarbeitergewerkschaft, im Februar 2009. Dieses Zitat wählte Jürgen Elsässer als Leitmotiv für das Schlusskapitel seines neuen Buches "Nationalstaat und Globalisierung", das für jedermann verständlich die Ursachen der heutigen Finanz- und Wirtschaftskrise analysiert. Im offenen Widerspruch zum Zeitgeist, aber auch zu Teilen der Linken, weist er nach, dass Nationalstaaten keineswegs überlebt sind. Gerade in so kritischen Situationen könnten sie flexibel agieren und reagieren – ganz im Gegensatz zu den überbürokratisierten und nationales Recht einschränkenden supranationalen Gebilden. Wir veröffentlichen dieses hochaktuelle Buch in Fortsetzungen. - Die Redaktion

Buchautor Jürgen Elsässer
NRhZ-Archiv
 
Die Krise europäischer Nationalstaatlichkeit zeigt, daß wir es nicht mit einer schlichten Neuauflage des imperialistischen Zeitalters zu tun haben, wie es das obige Zitat von Robert Cooper nahe legt (siehe Folge 2 http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=1386). Damals – im 19. und 20. Jahrhundert – errichteten die Mächte der alten Welt in Südamerika, Afrika und Asien ihre Kolonialreiche. Heute kommen auch die damaligen Räuber unter die Räder der weltweiten Neustrukturierung. Offensichtlich geht es bei dem, was verharmlosend Globalisierung genannt wird, nicht nur um eine Radikalisierung der Außenpolitik der westlichen Großmächte oder um den altbekannten Nord-Süd-Konflikt. Der Norden bzw. Westen selbst ist im Umbruch begriffen.
 
Die europäischen Nationen müssen allerdings nicht militärisch in die Knie gezwungen werden, sondern kapitulieren freiwillig – auf Initiative der Superreichen, die von dieser Kapitulation profitieren. Das Großkapital selbst betreibt die Übertragung von Souveränitätsrechten an Brüssel, weil die dortigen Entscheidungsstrukturen demokratisch nicht kontrollierbar und dadurch umso besser von Lobbyisten lenkbar sind.
 
So saugt die Europäische Union die Einzelstaaten Zug um Zug auf. Die nationalen Währungen sind abgeschafft, eine nationale Wirtschaftspolitik steht unter Brüsseler Kuratel, die nationalen Parlamente werden in immer mehr Fragen entmündigt. Europäisches Recht bricht nationales Recht, heißt es. Das Spezifische ist dabei, daß die EU anstelle der Einzelstaaten keinen neuen Superstaat bildet, sondern eher einen Antistaat, der eine gemeinsame Politik nicht ermöglicht, sondern verhindert. Dies hat sich beim Irak-Krieg 2003 überdeutlich gezeigt: Das Nein der Alt-Europäer wurde in den EU-Gremien durch die trojanischen Pferde der USA blockiert.
 
Die EU ist eine bloße "Relaisstation der Globalisierung", wie Jean-Pierre Chevènement, fast zwanzig Jahre Minister in verschiedenen französischen Links-Regierungen, geschrieben hat. Wie eine Qualle schiebt sich die Union über den Kontinent nach Osten, frißt alle vorhanden politischen Strukturen auf und hinterläßt den Schleim der Bürokraten. Auf diesem glitschigen Boden rutschen die Militärstützpunkte, die Folterzentren und die Raketenabschußbasen der US-Army immer näher an den nächsten Feind heran – an Rußland.
 
Rücksturz ins Mittelalter
 
Der Kapitalismus streift also die nationale Form ab, die seinen Aufstieg zur dominanten Wirtschaftsweise des Planeten ermöglicht hat. Daß die Bourgeoisie diese Form nicht notwendig braucht, hatte sich bereits im Mittelalter gezeigt. Zunächst konzentrierten sich Händler und Bankiers in lokalen Schwerpunkten, etwa in den norditalienischen Stadtrepubliken oder in den Stützpunkten der Hanse. Diese waren netzartig verbunden und hatten zum Teil sogar eigene Streitkräfte. Die Republik von Venedig stieg zeitweise zur mediterranen Führungsmacht auf.
 
Doch im Kampf gegen die Feudalgewalten erwies sich diese Organisationsform des embryonalen Kapitalismus als zu schwach. Die Adeligen waren in transnationalen Dynastien verbunden und konnten Reichtümer und Truppen leicht über die Grenzen verschieben, wenn Gefahr im Verzug war. Um sich trotzdem durchsetzen zu können, mußte sich die Bourgeoisie entweder, wie zunächst in England, mit der Zentralgewalt des König verbinden oder, wie später in Frankreich, vermittels einer Revolution selbst als Zentralgewalt konstituieren. Die Niederwerfung der Duodezfürsten ermöglichte ihr die Herausbildung eines einheitlichen Handelsraums ohne Zollschranken; die einheitliche Schulbildung schuf die einheitliche Sprache und rekrutierte aus den Unterschichten brauchbare Arbeitskräften; die Volksheere waren Druckmittel gegen innere und äußere Feinde.
 
Mit der Auflösung der Nationalstaaten schlüpft der allerneueste Imperialismus wieder in die mittelalterliche Form: das Heilige Römische Reich atlantischer Nation. Sein Kapitol steht in Washington. Wie zu Zeiten Maria Theresias wird das Imperium von supranationalen Adelsdynastien beherrscht – allerdings nicht von denen des Geblüts, sondern des Geldes. Das Volk hingegen, das mit der französischen Revolution die weltgeschichtliche Bühne betrat, wird als politischer Faktor abgeschafft: indem man die Elemente, die es konstituierten, beseitigt. An die Stelle der Volksheere treten wieder die Söldner- und Landsknechtheere, die schon Grimmelshausen das Fürchten lehrten; die allgemeine Schulbildung verkommt zur Unterschichtenbeaufsichtigung, während die Besserverdienenden ihre Sprößlinge auf private Einrichtungen schicken; die Nationalsprache verliert ihre Verbindlichkeit und zerfällt in die Idiome von Szenen, die sich gegenseitig kaum noch verstehen können. Die Haute volée radebrecht grenzübergreifend in Englisch, so wie früher in Französisch.
 
Um das Volk zu atomisieren und die isolierten Individuen besser in das neue Imperium des totalen Marktes einsaugen zu können, stellen die Massenmedien jede Form von Kollektivität unter Faschismusverdacht. Familie gilt als die Brutstätte von Neurosen, Psychosen und autoritären Charakteren; Religion und Kirche sind Synonyme für Abtreibungsverbot und Fundamentalismus; Vereine haben meist einen Stammtisch und sind auch sonst mega-out; Gewerkschaften wollen alle in Tarifverträge zwingen.
 
Auf die Nation schlagen die Ideologen des Weltkapitals am härtesten ein. Behauptet wird etwa, daß die Schrecken des 20. Jahrhunderts ein Ergebnis des Nationalismus seien. Das ist bestenfalls verkürzt, schlimmerenfalls demagogisch. Der Erste Weltkrieg, der von allen Seiten mit nationalem Hurra geführt wurde, spricht zwar auf den ersten Blick für diese These. Aber auch 1914 war der nationale Gedanke nur die Begleitmusik, nicht die Triebfeder des Schlachtens. Diese muß man vielmehr in der konkurrierenden Jagd nach neuen Absatzmärkten und Rohstoffquellen suchen, also im Imperialismus. Manche mögen das für dasselbe halten. Daß dem nicht so ist, demonstrierte der Zweite Weltkrieg: Die besondere Aggressivität Nazideutschlands zeigte sich gerade darin, daß sich dort der nationale Gedanke im germanischen und arischen Wahn aufgelöst hatte. Die Verteidigung der Nation war hingegen der Leitstern der Befreiungsfronten in Ost und West, die gegen die nazistische Okkupation kämpften und sie schließlich bezwangen. Die Marseillaise war die Hymne der Resistance, nicht der Kollaborateure.
 
Mein Plädoyer für den Nationalstaat halte ich also nicht, weil ich Nationalist, sondern weil ich Demokrat bin. Ich beschwöre auch nicht, wie einst die Krupps, das gemeinsame Boot, um die Krauses schneller rudern zu lassen – sondern weil ich weiß, daß ohne dieses Boot die Krauses ersaufen, während die Krupps ohne Probleme auf ein anderes umsteigen. Während für das große Kapital der Nationalstaat ein lästiger Kostenfaktor geworden ist, bietet er für die mittleren und unteren Klassen mehr Schutz und mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten als jede andere gesellschaftliche Organisationsform. Verteidigung der demokratischen und sozialen Republik oder deren Auflösung im postdemokratischen und neoliberalen Ultraimperialismus – so steht die Frage zu Anfang des 21. Jahrhunderts. (PK)
 
In der nächsten Ausgabe folgt “Das Ende der Stabilität“
 
Wenn Sie es nicht in Fortsetzungen lesen wollen, kaufen Sie Jürgen Elsässers “Nationalstaat und Globalisierung“, Verlag Manuscriptum (ISBN-13: 978-3937801476), 101 Seiten, 8.80 Euro, im Buchhandel oder bestellen Sie es direkt beim Autor: info@juergen-elsaesser.de
 
Jürgen Elsässer, geboren 1957 in Pforzheim, ist Journalist und Autor zahlreicher Bücher über die Außenpolitik Deutschlands und die Geheimdienste (siehe NRhZ 174 bis 177). Seine Bücher wurden teilweise in sechs Sprachen übersetzt. Als Redakteur und Autor arbeitete er u.a. für die Tageszeitung junge Welt, das Monatsmagazin konkret, die Allgemeine Jüdische Wochenzeitung, das Kursbuch, die Tageszeitung Neues Deutschland, die Islamische Zeitung, das Online-Magazin Telepolis und die Wochenzeitungen Zeit-Fragen und Freitag. Im Januar 2009 rief er zur Gründung der “Volksinitiative gegen das Finanzkapital“ auf (siehe NRhZ 180 http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=13345). 

Online-Flyer Nr. 202  vom 17.06.2009

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