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Aktueller Online-Flyer vom 21. November 2024  

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Arbeit und Soziales
Gewerkschafter müssen jetzt handeln
Generalstreiken vor den Wahlen
Von Hans-Dieter Hey

„Der Generalstreik ist in Deutschland verboten. Durch das Verbot soll politische Einflussnahme durch das Volk verhindert werden“ – das war die kurze und präzise Antwort auf eine entsprechende Frage in einem Internet-Blog. Doch in weiten Teilen der Bevölkerung steigt der Zorn über die politischen Zustände im Lande und Zorn darüber, dass offenbar alles so weitergeht wie bisher. Wo bleiben dabei die Gewerkschaften?
Gewerkschafter müssen jetzt handeln

Man muss sich nur im Internet tummeln, um dem sogenannten „Volk“ aufs Maul zu schauen. Dort wächst der Zorn, und das liest sich dann so: „Ich möchte kotzen! Ja, kotzen! – Auf diese zwielichtigen, rückwärtsgewandeten Miefgesichter von Gewerkschaftsfunktionärsknechten, welche so dermaßen penetrant mit den neoliberalen Ideologien ins Bett gehen, um sich letztlich lustig-munter von eben jenen vergewaltigen zu lassen....Ja, kotzen möcht' ich!“ Das klingt nicht vornehm, im Einzelfall vielleicht auch ungerecht, macht aber die Stimmung deutlich und entbehrt nicht einer gewissen Wahrheit.

Merkwürdiges Demokratieverständnis

Denn wie manche Gewerkschafter der oberen Etagen mit der Frage des politischen Streiks umgehen, ist inzwischen historisch. Als in den 1980er Jahren die Menschen massiv gegen den damaligen „Antistreikparagrafen“, den berüchtigten § 116 Arbeitsförderungsgesetz, auf die Straße gingen, meldete sich der damalige Vorsitzende der IG-Chemie und rechte Wortführer im DGB, Hermann Rappe (SPD), in einem Interview im Stern Anfang 1986 zu Wort: „Wenn ein demokratisch gewähltes Parlament ein Gesetz beschließt, auch mit der infamen Absicht, die Streikfähigkeit des DGB zu schwächen, dann ist das dennoch der Beschluss eines demokratisch gewählten Parlaments. Dagegen kann nicht das Wiederstandsrecht des Grundgesetzes in Anspruch genommen werden...Wenn das Parlament auf der Grundlage unserer Verfassung gegen uns entscheidet, ist das zu respektieren.“ Da hatte der Herr Rappe – späterer Hartz-IV-Ombudsmann – doch ein merkwürdiges Verständnis von Demokratie.


Die Streikmöglichkeiten waren 1918 und...
Bild: NRhZ-Archiv

Trotz vollmundiger Wahlversprechen, die strukturelle Benachteiligung der Gewerkschaften in der demokratischen Auseinandersetzung um Interessen wieder auf den ursprünglichen Stand zu drehen, setzte die damalige SPD-Regierung unter Gerhard Schröder und den – schon damals neoliberal gewandelten – Bündnisgrünen unter Täuschung der Wähler dies nicht um. Und die Gewerkschaften? Große Sprüche auf Demonstrationen, aber nichts dahinter. Im Gegenteil, es wurde geduldet. Als die rot-grüne Regierung trotz lang andauernder und heftigster Demonstrationen die Agenda 2010 eingeführt hatte, äußerte der IGM-Vorsitzende Klaus Zwickel am 10. Mai 2003 in der Ostfriesen Zeitung: „Wir machen keine politischen Streiks, zumindest nicht, solange ich darauf Einfluss habe.“ Vor allem für die abhängig beschäftigte Mehrheit hat sich diese merkwürdige Beißhemmung der Gewerkschaftsführung gegenüber der rot-grünen Regierung als nachteilig herausgestellt.

Seit der Geburt der Bundesrepublik ist das Streikrecht durch Richterrecht eingeschränkt worden und hat die Gewerkschaften geschwächt. Deshalb sollten Gewerkschafter schon die Frage stellen, ob sie sich weiter einen DGB-Vorsitzenden Michael Sommer (SPD) leisten wollen, der noch am 26. April 2009 in einem Interview im Tagesspiegel zur Frage des Generalstreiks erklärte: „Die bestehenden Demonstrations- und Streikrechte reichen aus. Ein Generalstreik ist in Deutschland dann möglich, wenn es gilt, einen Angriff auf die freiheitlich demokratische Ordnung unserer Republik abzuwehren. Davon kann nicht die Rede sein.“

Gründe für Rebellion gibt es genug

Merkwürdig nur, dass in sieben unserer Landesverfassungen der politische Streik ausdrücklich erlaubt ist. Denn Agenda 2010 und Hartz IV waren nichts anderes, als eine verfassungsrechtlich ungedeckte Einmischung des Staates durch seine Wirtschafts- und Sozialpolitik in die grundrechtlich verbriefte Tarifautonomie. Das hat die Löhne und Gehälter mit staatlicher Unterstützung nach unten gedrückt und existenzsichernde Arbeitsplätze millionenfach vernichtet. Und es sieht alles so aus, als würde es genauso weitergehen: staatlich verordnete Hungerlöhne, Kombilöhne, Rente mit 67, Tarifaushöhlung, Gesundheitsreform, Enteignung der Bevölkerung durch Vermögensumschichtung von unten nach oben oder Enteignung der Gesellschaft durch Privatisierung wie gehabt.


...und 1927 deutlich demokratischer...
Bild: AIZ v. 2.11.1927
Es liegen also genügend Gründe vor, Widerstand gegen die scheibchenweise Zerschlagung von demokratischen Grundrechten zu leisten. Auch Rebellion als „kalkulierte Regelverletzung“ ist demnach eine Möglichkeit politischer Durchsetzung, so Business Crime Control, BCC, im März 2009. Nicht wenige würden sicher lieber generalstreiken, anstatt wählen zu gehen. Angesichts der Lage hat Michael Sommer da offenbar was nicht verstanden. Von Beginn an waren Gewerkschaften politische Kampf- und Widerstandsorganisationen und nicht weitere Ordnungsmacht im Staate. Davon gibt es sicher mehr als genug.

Mit den richterrechtlichen und politischen Einschränkungen unseres Streikrechts seit Geburt der Bundesrepublik haben wir inzwischen das am rigidesten reglementierte Streikrecht in Europa. Neben den grundlegenden sozialen Menschenrechten, wie das Recht auf Arbeit, auf angemessene Vergütung, auf Wohnung, auf Bildung oder auf Volksentscheid ist das fehlende politische Streikrecht ein weiteres für die Demokratie existenziell fehlende Grundrecht im Lande. Bis heute haben die Bundesregierungen sich der europäischen Aufforderung, sich entsprechend der Europäischen Sozialcharta von 1965 – die sie mit unterzeichnet haben – zu verhalten, geweigert. Allein DIE.LINKE hatte am 27.10.2006 im Bundestag einen Antrag „Für das Recht auf Generalstreik“ eingebracht. Am 20. Juni äußerte sich Oskar Lafontaine in „Berlin-Kontor“ noch einmal dazu: „Wir, die Partei DIE.LINKE, wollen die Zulassung des Generalstreiks ebenso wie die Abschaffung des Antistreikparagrafen.“

Derzeitiges Gewerkschaftshandeln ohne Zukunft

Dass sich die zunehmend prekär Beschäftigten oder Ausgegrenzten von den Gewerkschaften allein gelassen fühlen oder Gewerkschaftsbeiträge gar nicht mehr zahlen können, dürfte sich auch im Niedergang des gewerkschaftlichen Organisationsgrades wiederfinden. Für derartige Entwicklungen gibt es historische Vorbilder. Schon für die Generalversammlung der Freien Gewerkschaften in Hagen am 1. Oktober 1910 konnte „kein Thema in dem gegenwärtigen Moment in einer deutschen Gewerkschaftsversammlung aktueller sein als das Thema: Massenstreik und Gewerkschaften“, meinte damals Rosa Luxemburg unter tosendem Beifall und forderte die Gewerkschafter auf, aktiv zu werden. Sollte nichts daraus gelernt worden sein? Im Jahr 1920 waren über 50 Prozent der Beschäftigten organisiert, im Jahr 1924 hatte der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund, ADGB im Verlauf der Inflation und Arbeitslosigkeit rund die Hälfte seiner Mitglieder verloren. 1932 waren 44 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder arbeitslos und 22 Prozent arbeiteten kurz. Sie alle traten aus der Gewerkschaft aus. Als 1933 die Weimarer Republik aufgrund der kapitalistischen Krise zerbrach, erklärte sich der ADGB gegenüber Hitler neutral, am 2. Mai 1933 war es dann mit den Gewerkschaften vorbei, sie wurden verboten. Das sollte doch allen als hinreichende Warnung dienen.


... als 1968 oder....Foto: Günter Zinn - panfoto

Und was entwickelt sich heute? Ein völlig entfesselter Kapitalismus stürzt in immer kürzeren Abständen von einer Krise in die nächste, nicht ohne Folgen für die Gewerkschaften. Waren im Jahr 1999 noch 33,8 Prozent der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert, gehörten in 2002 nur noch 25,5 Prozent einer Gewerkschaft an. Im internationalen Vergleich lag Deutschland  hinter Schweden (82 %), Dänemark (76 %), Finnland (72 %), Belgien (58 %) mit 25,5 Prozent noch hinter Kanada mit 29 Prozent Organisationsgrad. Es wird also Zeit für Gewerkschafter, der Entwicklung mehr entgegen zu setzen, als bisher. Ansätze gibt es ja bereits.

Zeit, die Gewerkschaften zu erinnern

Während des Bundeskongresses der Gewerkschaft ver.di im Oktober 2007 hat man sich auf den Antrag Nr. 58 hin bereit erklärt, sich „gegen ein Streikrecht aus der Kaiserzeit“ und „für ein allumfassendes Streikrecht nach den Maßgaben der Europäischen Sozialcharta, einschließlich des politischen Streiks und des Generalstreiks, einzusetzen und die Gewerkschaftsmitglieder über seine Notwendigkeit zu informieren.“ Was ist daraus geworden?


...heute: Nicht sehr weit gekommen?
Foto: arbeiterfotografie.com
Auch für die Petition an den Deutschen Bundestag zur Durchsetzung des politischen Streiks vom 18. August 2008 hätten Gewerkschaften ruhig mehr Öffentlichkeit herstellen können. Es war allein dem Engagement des Gewerkschafters Veit Wilhelmy aus Wiesbaden zu verdanken, dass sie überhaupt zustande gekommen ist. „Die Bundestagsabgeordneten müssen sich also mit dem Thema ‚politischer Streik’ beschäftigen, was schon mal ein Erfolg ist. Ich bin gespannt, wie sich diejenigen SPD-Genossen, die im Petitionsausschuss sitzen und auch Gewerkschafter sind, verhalten. Denn in einigen Gewerkschaften wie der IG Bauen-Agrar-Umwelt, ver.di und IG Metall gibt es positive Beschlüsse zum politischen Streik. Daran müssen sich die Abgeordneten messen lassen“, so Wilhelmy.    

So hatte der Bezirk Wiesbaden der IG BAU im September 2009 für den 20. Ordentlichen Gewerkschaftstag einen Beschluss weitergeleitet, damit der „Gewerkschaftsrat (setzt) sich für ein umfassendes Streikrecht gemäß dem Artikel 6 Abs. 4 der Europäischen Menschenrechts- und Sozialcharta, den Übereinkommen 87 (Vereinigungsfreiheit) und 98 (Versammlungsfreiheit) der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) einsetzt“.

Was ist daraus geworden? So etwas hatte doch niemand für den Papierkorb gefordert? Es wäre für Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen jetzt an der Zeit, ihre Organisationen durch Erinnerungsanträge daran zu erinnern oder ähnliche Anträge in ihren Gewerkschaften auf den Weg zu bringen.

Wo haben die Gewerkschaften Schulungen oder Workshops organisiert, Info-Material zusammengestellt? Wo bekennen sich Gewerkschafter öffentlich zum Menschenrecht des politischen Streiks? Wo wird versucht, den politischen Streik in Tarifverträgen unterzubringen? Wann hört endlich der Schmusekurs mit den politischen Parteien auf und wann nehmen Gewerkschafter endlich ihren überfälligen Kampf auf? Wann trauen sich die Gewerkschaften endlich, den politischen Streik gerichtlich durchzusetzen? Erst kürzlich hatte sogar das Bundesarbeitsgericht in einem Urteil – quasi in einem Nebensatz – dafür ein kleines Türchen geöffnet.

Sicher, die Demonstrationen am 28. Mai in Berlin und Frankfurt mit über 55.000 Teilnehmern, die Aktionswoche der IG-Metall in Baden-Württemberg mit über 30.000 Demonstranten oder die Aktionswoche des Europäischen Gewerkschaftsbundes vom 14. bis 16. Mai mit mehreren Hunderttausend Demonstranten oder der bundesweite Bildungsstreik mit 270.000 Beteiligten um den 17. Mai in vielen Städten waren ein guter Anfang. Aber warum kamen nicht eine Million? „Die größten Grausamkeiten werden uns mit Sicherheit erst nach der Bundeswahl präsentiert", heißt es in der Netzwerk-Info der Gewerkschaftslinken vom Juni 2009. Sie fordert kämpferisch einen Wandel vom Protest zum Widerstand. Und stellt fest: "Die Organisation von unten nimmt zu. Die Proteste werden auch durch Vorbilder aus anderen Ländern inspiriert."

Trotz deutlicher Bewegung nach vorn eine Menge Fragen, die Menschen jetzt beantwortet haben wollen. Endlich etwas mehr gesellschaftliche Debatte und deutlich mehr an Demokratie täte uns inzwischen nämlich gut. (HDH)



Online-Flyer Nr. 204  vom 30.06.2009

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