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Arbeit und Soziales
Zur staatspolitischen Dimension der Hartz-IV-Reform
Die Organisierung des sozialen Krieges (2/3)
Von Michael Wolf

Wer auch nur eine Spur an Durchblick sich bewahrt hat, weiß: Hartz IV markiert eine entscheidende Wende in der Entwicklung des Welfare State hin zum Workfare State und dessen endgültige Verabschiedung vom Grundgesetz der gegenseitigen Solidarität und kollektiven Absicherung. In seinem dreiteiligen Beitrag zeigt Prof. Dr. Michael Wolf anhand der von Politik und Medien betriebenen Mißbrauchskampagne auf, daß der bundesrepublikanische Staat mit der Unterwerfung der Arbeitslosen unter die »Hungerpeitsche« der Armut in seinem eigenen Innern ein Volk von Ausgeschlossenen reproduziert, gegen das er einen sozialen Krieg führt. Die Redaktion

Sozialleistungsmißbrauch I: zwischen Mythos und Realität

Obwohl der „Report" des BMWA über den Umfang des Sozialleistungsmißbrauchs keine Angaben enthält, wird von diesem wie auch in den Medien auf der Grundlage eines gewollt unklaren Mißbrauchsbegriffs durch eine unzulässige und tendenziöse Verallgemeinerung besonders spektakulärer Fälle 14) von Sozialleistungsmißbrauch in der Öffentlichkeit der Eindruck erweckt, eine große Anzahl, jeder fünfte, so Wolfgang Clement (zit. nach: Köhler 2005), der Arbeitslosengeld-II-Bezieher erhielte zuviel oder zu Unrecht Sozialleistungen. 15) Das heißt nun nicht, daß es Sozialleistungsmißbrauch nicht gäbe. Allerdings ist, erstens, nicht alles Mißbrauch, was Mißbrauch genannt wird 16), so das Ausschöpfen eines Rechtsanspruchs zum eigenen Vorteil durch die rechtlich zulässige Auslegung einer unklaren Rechtsnorm. Auch sogenannte Mitnahmen, „unter schlitzohriger Ausnutzung aller Sozialangebote" (Kaltenbrunner 1981b: 22), wie es Wohlfahrtsstaatskritiker zu formulieren pflegen, stellen keinen rechtswidrigen Leistungsbezug dar, sondern sind allenfalls unter dem Aspekt der moralischen Legitimität zu bewerten. 17) Zudem ist, zweitens, zu vermerken, daß Sozialleistungsmißbrauch im juristischen Sinne einer rechtswidrigen Inanspruchnahme von Leistungen sowohl die Folge betrügerischen 18) Handelns der Leistungsempfänger sein kann als auch Folge administrativen Fehlverhaltens seitens der Leistungsträger. Letzteres liegt beispielsweise dann vor, wenn es zu Überzahlungen kommt aufgrund vom Leistungsträger verschuldeter Fehlberechnungen oder Verzögerungen im Verwaltungsablauf.


Die Methode der Erfindung des Sozialschmarotzer...
Plakat: arbeiterfotografie.com


Mißbrauch seitens der Leistungsträger ist jedoch nicht bloß Folge von Fahrlässigkeit, sondern kann auch aufgrund vorsätzlichen Handelns gegeben sein. Dies ist dann der Fall, wenn die Leistungsträger ihren Informations-, Beratungs- und Unterstützungspflichten nicht nachkommen und Rechtsvorschriften mißachten, in der Absicht, erwerbsfähige hilfebedürftige Arbeitslose aus dem potentiellen wie aktuellen Leistungsbezug "auszufördern", wie es im Behördenjargon unverblümt heißt.
Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang mit Bezug auf die Verwaltungspraxis der Grundsicherungsträger die Kritik des Bundesrechnungshofs, der moniert, daß etliche der Grundsicherungsträger gegen die gesetzlich auferlegte Pflicht, erwerbfähige Hilfebedürftige umfassend zu betreuen, verstießen, indem sie bei „Personen mit multiplen Vermittlungshemmnissen" auf ein Case-Management verzichteten, weil sie es für wirtschaftlicher hielten, „sich um integrationsnahe Arbeitslose zu kümmern" (BRH 2008: 4,12). Zugleich stellt er unmißverständlich fest: "Solange der Status der Erwerbsfähigkeit als leistungsbegründendes Merkmal für das Arbeitslosengeld II bejaht wird, verstößt ein fehlendes Fallmanagement [...] nach Auffassung des Bundesrechnungshofes gegen wesentliche Ziele der Grundsicherung." (ebd.: 14) Auch war die überwiegende Zahl der Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigungen 19), also der sogenannten Zusatz- oder Ein-Euro-Jobs, zu beanstanden 20): So war bei zwei Drittel mindestens eine Förderungsvoraussetzung nicht erfüllt. Das heißt, in vier Fünftel der beanstandeten Maßnahmen waren die Tätigkeiten nicht zusätzlich, da sie reguläre Aufgaben eines öffentlichen Trägers betrafen und normale Arbeitskräfte einsparen oder einen haushaltsbedingten Personalmangel ausgleichen sollten. Und bei der Hälfte der beanstandeten Maßnahmen waren die Tätigkeiten auch nicht im öffentlichen Interesse, weil ihr Nutzen nur einem stark eingeschränkten Personenkreis zugänglich war. Außerdem wurden in drei Fünftel der Fälle Maßnahmekostenpauschalen von mindestens 200 Euro pro Monat und Teilnehmer gezahlt, obwohl keine nennenswerten Aufwendungen seitens der Maßnahmeträger erkennbar waren. (vgl. ebd.: 17f.)

Daß der in der Öffentlichkeit erweckte Eindruck, der Mißbrauch von Sozialleistungen sei geradezu ein Massenphänomen, mit der Realität nicht im Geringsten übereinstimmt, belegen, wenn auch diesbezügliche systematische, empirische Analysen „bislang ausgesprochen rar" (Lamnek et al. 2000: 13) sind, sowohl ältere international vergleichende (vgl. Henkel/Pawelka 1981) wie auch neuere nationalstaatlich fokussierte (vgl. Martens 2005; Trube 2003: 195) empirische Untersuchungen. Die Größenordnung des Mißbrauchs bewegt sich hier in einer Schwankungsbreite von einem bis, im Extrem, zehn Prozent. Im Durchschnitt geht man von drei Prozent aus. Selbst die Bundesagentur für Arbeit kommt auf der Grundlage des von ihr vierteljährlich durchgeführten automatisierten Datenabgleichs, mit dem geprüft wird, ob Arbeitslose anderweitige Transferleistungen beziehen, einer Beschäftigung nachgehen oder andere Einkünfte haben, zu dem Ergebnis, daß bei noch nicht einmal drei Prozent aller Arbeitslosengeld-II-Fälle Sozialleistungsmißbrauch vorliege und daß hiervon bei lediglich knapp 40 Prozent der Verdacht auf Vorliegen einer Ordnungswidrigkeit oder Straftat bestehe. (vgl. Spiegel-Online vom 20.06.2006) Zudem gilt es zu beachten, daß Sozialhilfeempfänger, entgegen dem sozialpolitischen Stereotyp, faule „Sozialschmarotzer" zu sein, sich auch durch Annahme gering entlohnter Tätigkeiten darum bemühen, ihre materielle Situation zu verbessern und unabhängig von staatlichen Zuwendungen zu werden (vgl. Gebauer et al. 2002: passim). Vergleichbares ergab auch eine kürzlich publizierte DIW-Studie, in der resümierend festgestellt wird, "dass die meisten Arbeitslosen nicht wählerisch sind, wenn es darum geht, in einen Job zu kommen" (Brenke 2008: 684).

Mit anderen Worten: Sozialleistungsmißbrauch kommt zwar vor, aber er ist verschwindend gering und rechtfertigt in keiner Weise, hilfebedürftige Arbeitslose pauschal dem Verdacht auszusetzen, skrupellose Betrüger zu sein. Daß diese Wertung mehr als berechtigt ist, wird vor allem dann deutlich, wenn man den Sozialleistungsmißbrauch in Beziehung setzt zur „verdeckten Armut", daß heißt zur Nichtinanspruchnahme von zustehenden Sozialleistungen aufgrund gesellschaftlicher und administrativer Schwellen 21) , die erst überwunden werden müssen, bevor aus den Anspruchsberechtigten auch tatsächliche Leistungsbezieher werden (vgl. Leibfried 1976). So weisen Daten für die Bundesrepublik Deutschland aus, daß etwa nur 50 Prozent der Anspruchsberechtigten tatsächlich Leistungen in Anspruch nehmen. (vgl. Becker 1996: 6; Henkel/Pawelka 1981: 67; Becker/Hauser 2005: 16ff.) Noch marginaler erscheint der Sozialleistungsmißbrauch, vergleicht man den durch ihn angerichteten monetären Schaden mit dem von anderen Mißbrauchstatbeständen wie zum Beispiel Subventionsbetrug oder Steuerhinterziehung: Er beträgt nur etwa sechs Prozent hiervon (vgl. Lamnek et al. 2000: 69) und ist insofern lächerlich gering. Dies verdeutlicht eindringlich auch Oschmianskys Feststellung: „Selbst wenn alle Leistungsempfänger [von Arbeitslosengeld und -hilfe; M.W.] 'Arbeitsverweigerer' wären, ihre Leistungen entsprechend missbräuchlich in Anspruch genommen hätten, betrüge der 'Schaden' gerade 28 Prozent des Schadens durch Schwarzarbeit ." (Oschmiansky 2003: 15).
 
So wie die Frage des Mißbrauchs von Sozialleistungen nicht losgelöst betrachtet werden kann von den gesetzlichen Leistungsversprechen, sprich Anspruchsberechtigungen, einerseits und der tatsächlichen Einlösung dieser Versprechen, sprich Anspruchsrealisierung, andererseits, so gehört zur Beantwortung der Frage des Sozialleistungsmißbrauchs nicht nur die Berücksichtigung des Legalitätsaspekts, sondern auch des Legitimitätsaspekts des Mißbrauchs, bei dem es um die Gründe geht, die einen Verstoß gegen rechtlich codierte Normen zu einer subjektiv-sinnvollen und damit legitimen Verhaltensalternative machen. Sollten zum Beispiel aus einer willkürlichen Verwaltungspraxis offensichtliche oder auch bloß scheinbare Ungerechtigkeiten resultieren, so ist durchaus denkbar, daß dies bei den Betroffenen die Bereitschaft fördert, die subjektiv wahrgenommene Gerechtigkeitslücke eigenmächtig durch Sozialleistungsmißbrauch zu schließen (vgl. Lamnek et al. 2000: 22). 22) Das Problem der Gerechtigkeitslücke stellt sich selbstredend auch angesichts der Tatsache, daß Personen des öffentlichen Lebens häufig, gemessen am Umfang der von ihnen hinterzogenen Steuern, vergleichsweise gering bestraft werden oder sogar straffrei ausgehen, weil die Steuerbehörden auf eine Strafverfolgung verzichten, da sie den unter Umständen immensen Aufwand juristischer Verfahren scheuen. 23)

Zudem muß gesehen werden, daß in einer Gesellschaft, in der als Folge der Universalisierung des Marktes und des Wettbewerbs geradezu eine Ellenbogenmentalität zur Durchsetzung der eigenen Interessen gefordert wird, gemeinwohlorientiertes Handeln nicht prämiiert wird. Wenn jeder angehalten wird, im alltäglichen Konkurrenzkampf, sei es in der Schule, am Arbeitsmarkt oder im Betrieb, das Beste für sich herauszuholen, dann erscheint auch der Sozialleistungsmißbrauch als eine rationale und legitime Handlungsweise zur Erweiterung des eigenen finanziellen Handlungsspielraums, zumal das Streben nach Verbesserung der eigenen ökonomischen Situation durchaus gesellschaftlich anerkannt ist, ja sogar als Motor der Wirtschaft angesehen wird. Vor diesem Hintergrund wird dann auch eher verständlich, was Arbeitslose motiviert, sich öffentlich als „Sozialschmarotzer" zu bekennen: Es ist Ausdruck einer Rationalisierungsstrategie, mittels deren die erfolglose Arbeitsuche und immer bedrohlichere Aussichtslosigkeit bewältig wird, indem man nämlich sein Handeln zur Überwindung der Zwangslage, in der man sich befindet, als „Ergebnis ökonomischer Rationalität und sogar besonderer individueller Schläue" (Zilian/Moser 1989: 50) darstellt. Insofern gibt es auch eine Parallele zu denjenigen, die mit Hilfe von bezahlten Beratern alle Spielräume, negativ formuliert: Schlupflöcher, der Steuergesetzgebung nutzen – nur mit dem kleinen, aber feinen Unterschied, daß diesen gegenüber keineswegs der Vorwurf erhoben wird, sie würden sich Vorteile erschleichen. Im Gegenteil, in den Medien spricht man fast mit Bewunderung von der "'Cleverness' solcher Leute" (Henkel/Pavelka 1985: 319)

Sozialleistungsmißbrauch II: zu Nutz und Frommen der Mißbrauchskampagne

Daß der Sozialleistungsmißbrauch sowohl von den seinerzeitigen als auch den derzeitigen politisch Verantwortlichen so dramatisiert wird, obwohl diesen das tatsächliche Mißbrauchsausmaß hinlänglich bekannt ist 24), hat seinen tieferen Grund und läßt auf nicht ausgewiesene Interessen schließen. Hierbei kann gewissermaßen zwischen zwei Schichten unterschieden werden: der schon irgendwie verständlichen Sinnschicht der Oberfläche und der dem unmittelbaren Zugriff verschlossenen Sinnschicht der 'Tiefenstruktur', auf die sich die Erscheinungsformen der 'Oberflächenstruktur' letztlich zurückführen lassen. 25) Setzt man an der 'Oberflächenstruktur' an, so ist allem voran selbstverständlich zu nennen, daß den Gegnern des Wohlfahrtsstaats jegliches Mittel recht ist, diesen insgesamt als 'zu teuer', 'zu ineffizient', als 'nicht wirksam und zielgenau', als 'wachstumsschädigend', als im Grunde 'überflüssig' zu diskreditieren, um dadurch die gesellschaftliche Akzeptanz für ihn zu minimieren – ein Motiv, das die immer wiederkehrenden Debatten über den Wohlfahrtsstaat seit seinen Anfängen, sei es in seiner Entstehungsphase, sei es in seiner Expansionsphase, begleitete, wie ein Blick in dessen Geschichte zu zeigen vermag. 26) Vor dem Hintergrund der durch die Massenarbeitslosigkeit mitbedingten höchst prekären Finanzlage der öffentlichen Haushalte zielt die Mißbrauchskampagne mit ihrer Begründung, den Wohlfahrtsstaat nicht abschaffen, sondern durch Modernisierung sichern zu wollen 27), insbesondere darauf ab, Zustimmung zu erheischen für die Durchsetzung restriktiverer Kontrollmaßnahmen und für ein weiteres Zurückschneiden wohlfahrtsstaatlicher Leistungen.


...und das Ziel.
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Über die genannte ideologische Flankierung des Abbaus des Wohlfahrtsstaats hinaus vermutlich nicht minder bedeutsam einzuschätzen, ist das Bemühen der politisch Verantwortlichen, sowohl von den wirklichen Ursachen und Verursachern der Arbeitsmarktkrise als auch vom eigenen Versagen, das heißt von den Mißerfolgen der betriebenen Arbeitsmarktpolitik oder anderer damit in Zusammenhang stehender unzureichender Reformaktivitäten abzulenken. Erinnert sei hier nur an das bis heute uneingelöste Versprechen der damaligen rot-grünen Bundesregierung anläßlich der Übergabe des Schlußberichts der Hartz-Kommission, die Anzahl der Arbeitslosen in drei Jahren um zwei Millionen zu verringern (vgl. Handelsblatt vom 08.08.2002). In die gleiche Richtung zielt auch der BMWA-Report, der eine sachlich-objektive und kritische Betrachtung des Arbeitsmarkts und der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik möglichst zu durchkreuzen trachtet, indem er den „Arbeitsmarkt im Sommer 2005" als nur von „Sozialschmarotzern" bevölkert beschreibt. Indem von den Arbeitslosengeld-II-Beziehern ein Bild als „Müßiggänger" gezeichnet wird, die auf Kosten der Allgemeinheit ein angenehmes Leben führen und dabei den Staatshaushalt ruinieren, wird zudem von der tatsächlich armseligen Lage der Hartz-IV-Betroffenen abgelenkt, die sich seit der mit dem SGB II vollzogenen organisatorischen Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe nicht verbessert, sondern, von Ausnahmen abgesehen, verschlechtert hat, und zwar um bis zu 18 Prozent, je nachdem, ob die Analyse der dadurch entstandenen Einkommensverteilungseffekte auf der Basis der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe oder des Sozio-ökonomischen Panels erfolgt. (vgl. Becker/Hauser 2006)

Gleichsam spiegelbildlich zur Dethematisierung der arbeitsmarktpolitischen Mißerfolge stellt die Mißbrauchskampagne schließlich darauf ab, hilfebedürftige Arbeitslose als Subjekte ohne jeglichen Sinn für Verantwortung darzustellen, und zwar sowohl gegenüber sich selbst als auch gegenüber der Gesellschaft. Einerseits werden nämlich die Opfer der Arbeitsmarktkrise in der Weise einer Blaming-the-victim-Strategie zu deren Tätern umdefiniert, indem man ihnen vorhält, sie allein trügen Schuld an ihrer Situation, weil ein jeder, der Arbeit suche, auch welche finde. Das heißt, die Ursache von Arbeitslosigkeit wird nicht in den kapitalistischen Ausbeutungs- und Aneignungsverhältnissen gesehen, sondern, der Denktradition Mandevilles 28)  folgend, begriffen als Resultat einer moralischen Fehlhaltung: dem mangelnden Willen zur Arbeit 29) . Ein völlig absurdes Argument, das allein schon durch die seit drei Jahrzehnten existierende Massenarbeitslosigkeit Lügen gestraft wird. Wäre Arbeitslosigkeit wirklich, wie von den Gegner des Wohlfahrtsstaats gebetsmühlenhaft immer wieder behauptet, Ausdruck von Arbeitsunwilligkeit, müßten in der Bundesrepublik Deutschland regionale Faulheitszonen existieren und die Erwerbstätigen von konjunkturellen Faulheitszyklen befallen werden. 30)  Zudem müßte, wenn die Behauptung sich als zutreffend erweisen sollte, daß Arbeitsunwillige durch zu hohe Transferleistungen verleitet würden, von Beschäftigung in Arbeitslosigkeit zu wechseln, eine positive Korrelation von Massenarbeitslosigkeit und massenhaften Kündigungen von Beschäftigungsverhältnissen bestehen. Das Gegenteil ist jedoch der Fall.

Denn in der Arbeitsmarktkrise nehmen Kündigungen ab und nicht zu.
Zu Tätern werden die Arbeitslosen aber auch andererseits, weil sie durch ihr vermeintlich verantwortungsloses Handeln sich gemeinschaftsschädlich verhielten, insofern die von ihnen beanspruchten wohlfahrtsstaatlichen Unterstützungsleistungen einen kostspieligen Wettbewerbsnachteil im Rahmen der globalisierten Standortkonkurrenz der Nationalstaaten darstellten. 31)  Hier kommt der Mißbrauchskampagne die Funktion zu, von den Arbeitslosen ein Feindbild 32)  zu produzieren, wodurch die Bevölkerung in eine herrschende Majorität der 'Leistungsbürger' und eine diskriminierte Minorität der 'Anspruchsbürger' gespalten und ein gesellschaftliches Klima der "Entsachlichung und normative[n] Dichotomisierung von Problemen" (Prisching 2003: 231) erzeugt wird. In einem derartigen Klima, das geeignet ist, Aggressionsbarrieren zu schwächen und Tatbereitschaften aufzubauen und abzurufen 33) , bedarf es keiner schriftlich fixierten Dienstanweisung mehr, um die Mitarbeiter der Arbeitsverwaltung, die längst zu einem der Orte der Realisierung der conditio inhumana mutiert ist, auf den Grundsatz zu verpflichten, die soziale Ausgrenzung der das Gemeinwohl schädigenden Arbeitslosen voranzutreiben, wie sich zum Beispiel einer jüngst erschienenen Untersuchung zu den Interaktions- und Deutungsmustern von Mitarbeitern entnehmen läßt, die mit der Beratung beziehungsweise Betreuung von arbeitslosen Leistungsempfängern befaßt sind. Im Vergleich zur früheren Arbeitsverwaltung hat sich nämlich seit der Hartz-IV-Reform der Umgang mit den Arbeitslosen in der Weise geändert, daß diese nicht nur, wie bisher schon, bei Verstößen gegen rechtliche Regelungen negativ sanktioniert werden, sondern mittlerweile auch dann, wenn sie 'falsche' Denk- und Verhaltensweisen an den Tag legen. „Aktivieren als soziale Kontrolle zielt heute primär direkt auf die Einstellungen und Haltungen." (Behrend 2008: 21) (HDH)

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14) Aus Sicht der Bundesregierung sei die "lebensnahe, pointierte Darstellung" von Einzelfällen "sachgerecht" und "notwendig", weil sie dazu beitrage, "die öffentliche Aufmerksamkeit auch tatsächlich auf diese Problematik zu lenken" (BT-Drs. 16/48: 13).
15) Des Mißbrauchs bezichtigt werden jedoch nicht nur die Arbeitslosen, sondern auch die als "Helfershelfer" und "windige[.] Ratgeber[.]" (BMWA 2005: 19, 22) titulierten Berater, die, wie z.B. Roth/Thomé (2005), es sich zur Aufgabe gemacht haben, Hilfesuchenden in prekären materiellen Lebenslagen wie Arbeitslosigkeit oder Armut durch Information und Beratung zu ihrem Recht zu verhelfen.
16) Im juristischen Sinne handelt es sich bei Mißbrauch nur um die rechtswidrige Inanspruchnahme von Leistungen, d.h., es werden Leistungen bezogen, obwohl kein Anspruch bzw. kein Anspruch in der gewährten Leistungshöhe besteht. Dies kann mit Bezug auf die Existenzsicherungsleistungen gegeben sein, wenn z.B. das Bestehen von Arbeitslosigkeit, die arbeitsmarktmäßige Verfügbarkeit, das Vorliegen von Erwerbsunfähigkeit oder Arbeitsunfähigkeit wegen Krankheit nur vorgetäuscht wird, wenn unwahre Angaben über die Anzahl der Beschäftigungsverhältnisse und die Arbeitszeiten gemacht werden, wenn das Bestehen einer "eheähnlichen Gemeinschaft", das Vorhandensein von Einkommen und Vermögen, eigenes oder des Partners, der Zweck und Umfang von Schenkungen verschwiegen wird oder auch wenn Einkommen und Vermögen in der Absicht vermindert werden, Voraussetzungen für die Gewährung oder Erhöhung der Leistungen herbeizuführen.
17) Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang etwa an den rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten und früheren SPD-Vorsitzenden Kurt Beck, der das unter Umständen ethisch als gemeinwohlwidrig zu beanstandende, aber gleichwohl legale Ausschöpfen gesetzlich gegebener Möglichkeiten mit den tadelnswerten Worten "Man muß nicht alles rausholen, was geht." (Beck 2006) kritisiert.
18) Denkbar ist selbstverständlich auch, daß Leistungen unter Umständen mißbräuchlich bezogen werden, ohne dies zu bemerken, weil aufgrund der Komplexität der gesetzlichen Regelungen für die Betroffenen sich die Schwierigkeit ergibt, das eigene Handeln korrekt in bezug auf das Einhalten rechtlicher Regelungen zu bewerten.
19) Nach § 16 III SGB II müssen Ein-Euro-Jobs "im öffentlichen Interesse" liegen und "zusätzlich" sein. Beide Kriterien sind allerdings alles andere als trennscharf, wie man auf den ersten Blick meinen könnte; vgl. hierzu kritisch Stahlmann (2005: 15ff.).
20) In dem von der Presse aufgegriffenen Fall des mißbräuchlichen Einsatzes von hilfebedürftigen Arbeitslosen durch das Recklinghauser Job-Center vermag der Anwalt des strafrechtlich zur Verantwortung herangezogenen Leiters nur zu bekennen: "Wenn es hier zu einer Verurteilung kommt, müßten die Leiter aller Jobcenter angeklagt werden." (Rüthers, K.; zit. nach: Rath 2008)
21) Hierzu gehören etwa falscher Stolz und Scham ebenso wie die Unkenntnis über Zuständigkeiten und Rechtsansprüche oder die Furcht vor sozialer Diskriminierung wegen Arbeitsmarktversagens, der Verletzung der Privatsphäre oder dem Rückgriff auf unterhaltspflichtige Verwandte.
22) Bedenkenswert ist in diesem Zusammenhang der folgende Gedanke Höffes: "Weil kein empirischer Staat die Wirklichkeit der sittlichen Idee schlechthin ist, kann man auch nicht […] ein Widerstandsrecht gegen Staatsgewalten, oder weniger pathetisch, einen (staats-)bürgerlichen Ungehorsam a priori ausschließen. Gewiß, gegen den Staat der Gerechtigkeit ist jeder Widerstand grundsätzlich illegitim. Aber kein empirischer, 'natürlicher' Staat darf sich als 'Staat der Gerechtigkeit' bezeichnen." (Höffe 1989: 473) Mit anderen Worten: Was dem Staat als 'Betrug' erscheint, kann aus der Perspektive der Betroffenen im Sinne der Gerechtigkeit auch als demokratischer Widerstand und bürgerlicher Ungehorsam betrachtet werden. Es ist also wie bei der Frage, wer eigentlich ein Parasit ist, auch eine Frage der Perspektive.
23) Wie jüngst der 'Fall Zumwinkel' zeigt. Die Steuerhinterziehung von knapp einer Million Euro brachte dem einstigen Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Post lediglich eine Verurteilung zu zwei Jahren Haft auf Bewährung und einer Geldstrafe von einer Million Euro ein. (vgl. Spiegel-Online vom 26.01.2009). Vor diesem Hintergrund würden manch einer es sarkastisch 'ausgleichende Gerechtigkeit' nennen, daß einer ehemaligen Kassiererin von ihrem Arbeitgeber wegen angeblicher Unterschlagung von zwei Pfandbons in Höhe von insgesamt 1,30 Euro fristlos gekündigt und dies von dem damit befaßten Arbeits- und Landesarbeitsgericht für Recht befunden wurde. (vgl. Haustein-Teßmer 2009a)
24) So kommt die Bundesregierung nicht umhin, in der Beantwortung einer Kleinen Anfrage der Fraktion DIE LINKE zum Sozialleistungsmißbrauch einzugestehen: "Illegales Handeln entzieht sich seiner Natur gemäß der statistischen Erfassung und kann daher nur vermittels Plausibilitätsbetrachtungen grob abgeschätzt werden. Dies vorangestellt dürften nach Einschätzung der Bundesregierung jährlich etwa 3 Prozent bis
5 Prozent der Bezieher Leistungen zu Unrecht erhalten wegen Tatbeständen, die durch den Datenabgleich abgedeckt werden" (BT-Drs. 16/5009: 2).
25) Mit der Unterscheidung von 'Oberflächen- und Tiefenstruktur' wird hier in lockerer Weise an Chomsky angeknüpft, der darauf hinweist, daß sich aus dem Erscheinungsbild eines wirklichen Satzes nicht der eigentliche Gegenstand der Aussage ablesen lasse. Mit anderen Worten: In der Konstruktionsform des Satzes sind die zur Erfassung seiner Bedeutung notwendigen Informationen nur implizit enthalten, weswegen diese in den "Tiefenstrukturen" gesucht und explizit gemacht werden müssen. (Chomsky, N.; zit. nach: Wunderlich 1974: 385ff.)
26) Vgl. hierzu statt anderer den Überblick von Prisching (2000).
27) Ein Paradoxon, das Offe zutreffend mit den folgenden Worten kritisiert: "Wenn wir soziale Sicherheit gewährleisten wollen, müssen wir sie partiell abschaffen. So einen Satz hätte man früher mit gutem Grund einen Widerspruch genannt. Heute nennt man ihn Agenda 2010." (Offe 2003: 810)
28) Nach Mandeville, dem viele neoliberale Eiferer näher stehen, als sie selbst annehmen möchten, haben alle Menschen einen "außerordentlichen Hang zum Müßiggang" (Mandeville 1980: 231), weswegen es sehr unwahrscheinlich sei, daß sie arbeiten würden, wären sie nicht dazu gezwungen durch "ihre Armut, die es zwar klug ist zu mildern, töricht aber ganz zu beseitigen" (ebd.: 232).
29) Arbeitswilligkeit heißt jedoch nicht, der Wille, einer Arbeit nachgehen zu wollen, die sinnvoll ist, den eigenen Neigungen entgegenkommt, womöglich noch Befriedigung bereitet und existenzsichernd entgolten wird, sondern das Zeigen der Bereitschaft, sich den herrschenden Bedingungen des Arbeitsmarks und den Zumutungen der Arbeitsverwaltung restlos zu unterwerfen.
30) Eine Annahme, der sich selbst der damalige Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Heinrich Franke, nicht anzuschließen vermochte: "Wäre Arbeitsunwilligkeit tatsächlich ein Hauptgrund für die hohe Arbeitslosenzahl, dann müßten in Leer und Emden hauptsächlich Faule, in Göppingen und Nagold dagegen die Fleißigen wohnen. Dies wird wohl niemand ernsthaft behaupten wollen. Auch ist nicht einzusehen, daß innerhalb weniger Jahre aus einem 'Volk von Fleißigen' – Mitte 1970 gab es weniger als 100.000 Arbeitslose – ein 'Volk von Arbeitsunwilligen' geworden sein soll." (Franke, H.; zit. nach: Uske 1995: 49)
31) Hiervon kann man zumindest ausgehen, wenn einer Studie zufolge exakt ein Drittel aller befragten Personen die Ansicht vertritt, "Menschen, die wenig nützlich sind, kann sich eine Gesellschaft nicht leisten". (vgl. Vornbäumen (2007)
32) Zum Begriff vgl. Nicklas (1985: 102), ferner Münkler (1994: 22ff.).
33) "[J]e unwerter die Minderheit, je kompakter die Majorität der 'Guten', je geringer die Furcht vor Sanktionen, je stärker die nachrichtenpolitisch konstituierte Aggression, umso eher können Aufforderungen zur Gewalt die Aggression abrufen, bzw. umso leichter werden Informationen ('sich zur Wehr setzen…') als Aufforderung erlebt." (Brückner 1969: 341)
ssion, umso eher können Aufforderungen zur Gewalt die Aggression abrufen, bzw. umso leichter werden Informationen ('sich zur Wehr setzen…') als Aufforderung erlebt." (Brückner 1969: 341)

Prof. Dr.rer.pol. Michael Wolf ist Sozialwissenschaftler und Hochschullehrer für Sozialpolitik und Sozialplanung am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Koblenz. Der Artikel erschien am 6. Juli im "Kritiknetz". – Das Literaturverzeichnis ist auf Anfrage beim Autor erhältlich. eMail-Kontakt hier!

Online-Flyer Nr. 208  vom 29.07.2009

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