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Aktueller Online-Flyer vom 22. Dezember 2024  

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Arbeit und Soziales
Zur staatspolitischen Dimension der Hartz-IV-Reform
Die Organisierung des sozialen Krieges (3/3)
Von Michael Wolf

Wer auch nur eine Spur an Durchblick sich bewahrt hat, weiß: Hartz IV markiert eine entscheidende Wende in der Entwicklung des Welfare State hin zum Workfare State und dessen endgültige Verabschiedung vom Grundgesetz der gegenseitigen Solidarität und kollektiven Absicherung. In seinem dreiteiligen Beitrag zeigt Prof. Dr. Michael Wolf anhand der von Politik und Medien betriebenen Mißbrauchskampagne auf, daß der bundesrepublikanische Staat mit der Unterwerfung der Arbeitslosen unter die »Hungerpeitsche« der Armut in seinem eigenen Innern ein Volk von Ausgeschlossenen reproduziert, gegen das er einen sozialen Krieg führt. Die Redaktion

Staatsrassimus I: Arbeitslose als innerstaatlicher Feind

Mit dem letztgenannten Punkt ist, wenn man so will, die Schnittstelle zwischen ‚Oberflächenstruktur’ und ‚Tiefenstruktur’ ins Blickfeld geraten, und zwar insofern, als die in den letzten Jahren erneut entfachte Mißbrauchskampagne gegen Arbeitslose und insbesondere gegen sogenannte Hartz-IV-Empfänger eine neue Qualität signalisiert, verbirgt sich hinter ihr doch mehr als eine der üblichen, in Konjunkturen verlaufenden Debatten über Sozialleistungsmissbrauch 34). Sie ist, so die hier vertretene These, Ausdruck eines sozialen Krieges, der von den hegemonialen Eliten gegen die zum innerstaatlichen Feind erklärten Arbeitslosen geführt wird. 35) Dies erschließt sich einem, wenn man danach fragt, was es heißt, die Form eigne sich Inhalte und Ziele an. Mit Blick auf die Dramatisierung des Sozialleistungsmißbrauchs fällt dann hier auf, daß diese auf zwei Ebenen erfolgt: zum einen auf der Inhaltsebene, indem, wie gezeigt, das Mißbrauchsausmaß maßlos übertrieben wird, und zum anderen auf der Formebene, indem die angeblichen Mißbrauchstäter als „Parasiten“ beziehungsweise, verdeutscht, „Schmarotzer“ entmenschlicht und zu innerstaatlichen Feinden verfremdet werden.

Unverkennbar ist hier die Annäherung an die Propagandasprache des Nationalsozialismus 36), was jedoch keineswegs als situativ-zufällige Entgleisung charakterisiert oder als biologisierende Metaphorik abgetan werden kann. Wenn im „Report“ des BMWA darauf hingewiesen wird, es sei „[n]atürlich […] völlig unstatthaft, Begriffe aus dem Tierreich auf Menschen zu übertragen“ (BMWA 2005: 10), dann bedient man sich des rhetorischen Kniffs der Prolepsis genau genommen nur, um mit der vermuteten Einwandvorwegnahme nicht nur als Denkgifte wirkende „winzige Arsendosen“ (Klemperer 1969: 23) auszustreuen, sondern auch um den ‚parasitären’ Arbeitslosen als noch verwerflicher darstellen zu können als den tierischen Parasiten, da jener im Gegensatz zu diesem sich nicht instinktiv verhalte, sondern aufgrund einer bewußten Willensentscheidung. Denn schließlich sei „Sozialbetrug nicht durch die Natur bestimmt, sondern vom Willen des Einzelnen gesteuert“ (ebd.).

In diesem Sachverhalt der Charakterisierung von hilfebedürftigen Arbeitslosen als „Parasiten“ oder „Sozialschmarotzer“, denen nach Auffassung der Bundesregierung „energisch und konsequent entgegen[zu]treten“ (Bundesregierung 2005: 35) sei, verdichten sich Vorstellungen, die weit über den Rahmen der bisherigen Mißbrauchskampagnen hinausweisen, insofern sie an das politische Denken des konservativen Staatsrechtlers Carl Schmitt anknüpfen, der den Normalfall des Staates als Ausnahmezustand zu erklären sucht und hierbei der spezifisch politischen „Unterscheidung von Freund und Feind“ (Schmitt 1963: 26) eine existentielle Bedeutung zumißt. Ein Gedanke, den Agamben radikalisiert, indem ihm nicht, wie Schmitt, das Freund-Feind-Schema als Leitidee des Politischen gilt, sondern die Trennung zwischen dem „nackten Leben“ (zoé) und der „politischen Existenz“ (bíos) eines Menschen, zwischen dessen natürlichem Dasein und seinem rechtlichem Sein. (vgl. Agamben 2002: passim) Auf diese Weise kommt Agamben eine Entwicklung in den Blick, vor der auch Demokratien nicht gefeit sind: der Ausnahmezustand wird zum „herrschende[n] Paradigma des Regierens“ (Agamben 2004: 9), wodurch die ursprüngliche Struktur des Politischen zunehmend in eine „Zone irreduzibler Ununterscheidbarkeit“ (Agamben 2002: 19) gerät und an die Stelle des Rechts der soziale Krieg tritt. 37) Schmitts „bis zur Kenntlichkeit entstellt[er]“ (Preuß 1994: 129) und durch den „äußersten Intensitätsgrad einer […] Dissoziation“ (Schmitt 1963: 27) charakterisierter Begriff des Politischen beruht auf der Überlegung, daß es Aufgabe jedes normalen Staates sei, „innerhalb des Staates und seines Territoriums eine vollständige Befriedung herbeizuführen, ‚Ruhe, Sicherheit und Ordnung’ herzustellen“, was in „kritischen Situationen“ dazu führe, daß der „Staat als politische Einheit von sich aus […] auch den ‚innern Feind’ bestimmt. In allen Staaten gibt es deshalb in irgendeiner Form […] schärfere oder mildere, ipso facto eintretende oder auf Grund von Sondergesetzen justizförmig wirksame, offene oder in generellen Umschreibungen versteckte Arten der Ächtung, des Bannes, der Proskription, Friedloslegung, hors-la-loi-Setzung, mit einem Wort: der innerstaatlichen Feinderklärung.“ (ebd.: 46f.)


Demonstranten gegen Ungerechtigkeit...

Da der Ausnahmezustand jener Zustand sei, in dem die prinzipiell permanent vorhandene Gefahr abgewendet werden muß, wird folgerichtig der Ausnahmezustand zum Normalfall des Staates und die innerstaatliche Feinderklärung für den Staat schlechthin konstitutiv, wobei für Schmitt der politische Feind weder „moralisch böse“ noch „ästhetisch häßlich“ ist, sondern „der andere, der Fremde“ (ebd.: 27), derjenige, „gegen den eine Fehde geführt“ wird oder der einfach nur „negativ […] als Nicht-Freund“ (ebd.: 104f.) bestimmt ist. Das heißt, daß es sich bei dem Schmittschen Feind nicht um einen konkreten Feind handelt, der das eigene Überleben herausfordert, auch nicht um einen gleichsam a priori feststehenden Feind wie in Weltanschauungskonflikten, dort die ‚Bösen’, die ‚Schurken’, hier die ‚Guten’, die ‚Edlen’, sondern um einen „gewollte[n] Feind“ (Papcke 1985: 113), zu dem je nach Bedarf alle Welt werden kann, weswegen Kirchheimer denn auch zu Recht feststellt: „Jedes politische Regime hat seine Feinde oder produziert sie zu gegebener Zeit.“ (Kirchheimer 1985: 21)

Analysiert man mit einer derartigen kognitiven Analyse- und Deutungsfolie die jüngere deutsche Geschichte im Hinblick auf ihre „gewollten Feinde“, so waren dies in der Zeit des Nationalsozialismus vornehmlich die Juden, während der sogenannten „Rekonstruktionsperiode“ (vgl. Abelshauser 2005: passim) nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hauptsächlich die Kommunisten und in der Phase der keynesianischen Globalsteuerung ab 1967 vor allem die ‚Neue Linke’. Und heute, das heißt seit dem Ende des „kurzen Traum[s] immerwährender Prosperität“ (Lutz 1984) und der seit den 1980/90er Jahren immer durchgreifender sich vollziehenden neoliberalen Restrukturierung der Gesellschaft? Nicht die Juden, sind diese doch seit dem Holocaust als Israelis Freunde geworden. Die Kommunisten auch nicht, da diese nach dem Zerfall der staatssozialistischen Gesellschaften zu veritablen Geschäftspartnern avancierten. Und die ‚Neue Linke’ erst recht nicht, seit sie nach dem „Marsch durch die Institutionen“ (Dutschke) gesellschaftsfähig geworden in den Sesseln der Macht Platz genommen hat. Also sind es, wofür etliches zu sprechen scheint, jene, die sich „sozialschädlich“ oder „gemeinschaftsgefährdend“ verhalten: die auf wohlfahrtsstaatliche Existenzsicherungsleistungen angewiesenen erwerbsfähigen Arbeitslosen, deren Makel nicht darin besteht, daß sie ohne Arbeit sind, sondern daß sie es sind oder unterstelltermaßen sein wollen, obwohl sie es sich nicht wie etwa aristokratische, couponschneidende oder ruhestandsversetzte Rentiers leisten können, da sie nicht wie diese über Einkünfte verfügen, die es ihnen erlauben, den Lebensunterhalt ohne Arbeit zu bestreiten.

Damit schädigen sie, wie der „Report“ des BMWA Glauben machen will, die Gemeinschaft der Bürger, der „Anständigen“ (BMWA 2005), die, weil sie Steuern und Sozialabgaben zahlen und Existenzsicherungsleistungen nicht benötigen, „Vorrang“ (ebd.) genießen und ein Anrecht darauf haben, daß der Staat sie vor „Drückebergern“, „Faulenzern“ und „Sozialschmarotzern“ schützt. Mit anderen Worten: Heutzutage gilt in der Bundesrepublik Deutschland derjenige als Feind, von dem angenommen wird, daß er sich dem Erwerbsleben und dem ihm korrespondierenden Arbeitsethos abwende und durch seine Verweigerung zu arbeiten, sich außerhalb der Gemeinschaft stelle. Denn er setze so an die Stelle der Werteordnung der anständigen Bürger seine eigene, ein Verhalten, das von diesen als verächtlich und nicht hinnehmbar angesehen wird, und zwar insbesondere dann, wenn man die Bürger im Rahmen einer psychologischen Kriegsführung ganz nach der Maxime „Es ist nicht wichtig, ob das, was behauptet wird, wahr ist, es ist nur wichtig, ob, was behauptet wird, wirkt.“ von der vorgeblichen Sozialschädlichkeit der Arbeitslosen zu überzeugen vermochte. Aus diesem Grund kann die innerstaatliche Feinderklärung auch nicht auf „propagandistische Vorbereitung und Begleitung“ (Brückner/Krovoza 1976: 61) verzichten.

Vor diesem Hintergrund wird denn auch begreiflich, warum es, erstens, nicht zufälligerweise im Vorfeld der „Hartz-Gesetzgebung“ zu einer Mißbrauchskampagne kam und warum man sich hierbei, zweitens, eines Vokabulars bedient, das sich wegen seines menschenverachtenden Charakters zwar verbietet, sich offensichtlich aber doch einer gewissen Beliebtheit erfreut, da es ein probates Mittel zu sein scheint, das Problem der „propagandistischen Präparierung der Feinderklärung“ zu lösen: nämlich „die Sichtbarmachung und […] Versinnlichung der Teilpopulation, die ausgegrenzt und ausgebürgert werden soll“ (ebd.). 38) 
 
Staatsrassismus II: der soziale Krieg gegen die Arbeitslosen

Um zur ‚Tiefenstruktur’ der Mißbrauchskampagne vordringen zu können, mit der die Arbeitslosen pauschal als parasitäre Existenzen diffamiert und diskriminiert und gegen den Arbeitsfleiß und die Ordentlichkeit der übrigen Bevölkerung gesetzt werden, ist es unabdingbar, sich das Projekt der neoliberalen Rekonstruktion der Gesellschaft zu vergegenwärtigen, mit dem sich eine Neudefinition sowohl des Verhältnisses von Staat und Ökonomie als auch eine des Sozialen vollzieht. Das heißt einerseits, daß im Unterschied zur klassisch-liberalen Rationalität der Staat die Freiheit des Marktes nicht länger definiert und überwacht, sondern eine Entwicklung fördert und exekutiert, mit der der Markt selbst zum organisierenden und regulierenden Prinzip des Staates wird und bei der die Regierung zu einer Art Unternehmensleitung mutiert, deren Aufgabe in der Universalisierung des Wettbewerbs und der Generalisierung des Ökonomischen besteht. Mit anderen Worten: In der neoliberalen Konzeption von Gesellschaft ist das Ökonomische nicht mehr wie im Frühliberalismus ein fest umrissener und eingegrenzter gesellschaftlicher Bereich mit spezifischer Rationalität, Gesetzen und Instrumenten, sondern das Ökonomische umfaßt nunmehr prinzipiell alle Formen menschlichen Handelns. (vgl. Lemke et al. 2000: 14ff.) Folgerichtig avanciert von daher auch der Bürger vom Arbeitskraftbesitzer zum Unternehmer seiner selbst beziehungsweise zum „Arbeitskraftunternehmer“ (Voß/Pongratz 1998), der nicht bloß seine Arbeitskraft, sondern seine ganze Persönlichkeit als Ware auf dem Markt gewinnbringend feilbieten soll, was erfordert, sich selbst als Unternehmen zu begreifen und entsprechend zu führen, das heißt, den gesamten eigenen Lebenszusammenhang aktiv an betriebswirtschaftlichen Effizienzkriterien und unternehmerischen Kalkülen auszurichten.

Eng damit verbunden ist andererseits die völlige Neudefinition des Sozialen, nach der erstens als sozial nur noch das gilt, was Arbeit schafft 39)  , nach der zweitens jede Arbeit besser ist als keine und nach der drittens der Staat berechtigt ist, gegen all jenes vorzugehen, das es einem Arbeitskraftbesitzer erlauben würde, nicht zu arbeiten, ohne dies sich leisten zu können, da er über keine Einkünfte zur Bestreitung seines Lebensunterhalts ohne Arbeit verfügt. Im Umkehrschluß wird daher davon ausgegangen, daß gemeinwohlschädigendes, weil auf staatliche Transferleistungen angewiesenes, unsoziales Verhalten sich nur durch Verpflichtung zur Arbeit bekämpfen lasse, wobei die Verpflichtung zur Arbeit in der Marktanpassung und diese wiederum in dem bedingungslosen Akzeptieren der Kauf- und Anwendungsbedingungen von Arbeitskraft bestehe.

Da es sich bei der neoliberalen Konzeption von Staat und Gesellschaft also nicht nur um eine marktradikale handelt, sondern überdies um eine, die vorsieht, daß der Staat seine Bürger legitimerweise zu marktkonformen Verhalten zwingen könne, hat jenes Deutungsmuster hegemonialen Rang erlangt, das von der Vorstellung geleitet wird, nur durch einen Abbau von ungerechtfertigten Leistungen und ebensolchen Ansprüchen an den Wohlfahrtsstaat und durch eine Umorientierung von amoralischen Verhaltensweisen auf Eigenverantwortung und Gemeinschaftlichkeit könne die Verwirklichung des Neoliberalismus als politisches Projekt herbeigeführt werden, das zum Ziel hat, „eine soziale Realität herzustellen, die es zugleich als bereits existierend voraussetzt“ (Lemke et al. 2000: 9).


...und Ausgegrenzte nicht „Schädlinge", sondern Ausdruck verfehlter Politik.
Fotos: arbeiterfotografie.com

Dies erklärt auch die strategische Schlüsselstellung, die dem Wohlfahrtstaat beziehungsweise dessen Umbau zum Workfare State in diesem Zusammenhang zukommt, was sich an der Programmatik des „aktivierenden Sozialstaats“ 40) , insbesondere in Gestalt der sogenannten Hartz-Gesetze, ablesen läßt. Umgestaltet wird die Arbeits(markt)- und Sozialpolitik auf der Ebene der marktlichen Makrosteuerung nämlich so, daß sie als Standortpolitik einen Beitrag zur Steigerung der nationalen Wettbewerbsfähigkeit leistet, während sie auf der Mikroebene der marktbezogenen Selbststeuerung der Individuen einen paradigmatischen Wechsel vollzieht vom gesellschaftlichen zum individuellen Risikomanagement und von der sozialen Sicherheit zur persönlichen Selbstsorge. Damit nimmt der Staat Abstand von der Idee, daß die Gesellschaft für die Gefährdung der Existenz ihrer Mitglieder verantwortlich und demgemäß auch verpflichtet ist, die Sicherung der Existenz zu gewährleisten, und erhebt fortan subjektive Unsicherheit und Verunsicherung zur Grundlage der von ihm im Einklang mit den neoliberalen „Evangelisten des Marktes“ (Dixon 2000) geforderten Eigenverantwortung.

Worum es den in Politik und Verwaltung Verantwortlichen für die mit den Hartz-Gesetzen auf den Weg gebrachte Reform der Arbeits(markt)- und Sozialpolitik mithin geht, ist ordnungspolitisch die Aufrechterhaltung und Stärkung einer arbeitsethischen Gesinnung, fiskalpolitisch die Entlastung des Haushalts durch Ausgabenreduktion, arbeitspolitisch die Etablierung und Förderung des Niedriglohnsektors und sozialpolitisch die Etablierung eines Workfare-Regimes, bei dem die Gewährung staatlicher Unterstützungsleistungen abhängig gemacht wird von der Gegenleistung der Hilfeempfänger, jedwede Arbeit anzunehmen und individuelles Wohlverhalten zu zeigen. Übersehen wird bei der Problematisierung der genannten Reform aber durchweg deren staatspolitische Dimension. Diese gerät allerdings in den Wahrnehmungshorizont, wenn man mit Foucault, dem „Politik die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln ist“ 41)  (Foucault 2001: 32), anzuerkennen bereit ist, daß „unterhalb der Formel des Gesetzes“ (ebd.: 74) das Geschrei des Krieges sich wiederfinden läßt, der unsere Gesellschaft durchzieht und zweiteilt in einen Krieg der Rassen: „hier die einen und dort die anderen, die Ungerechten und Gerechten, die Herren und jene, die ihnen unterworfen sind, die Reichen und die Armen, die Machthaber und jene, die nur ihre Arme haben, […] die Leute des gegenwärtigen Gesetzes und jene der künftigen Heimat“ (ebd.: 92). 42)
 
Betrachtet man in diesem Licht den BMWA-Report, mit dem gewissermaßen die Lunte gelegt wurde für eine von den Print- und Rundfunkmedien geführte Hetze gegen Arbeitslose, so läßt sich dies ohne größere Schwierigkeit als das deuten, was es ist: als Bestandteil einer psychologischen Kriegsführung gegen die zu innerstaatlichen Feinden erkorenen Arbeitslosen. Feinde, die gefährlich sind für den Bestand dieser Gesellschaft, was allein schon durch die Verwendung der Vokabel ‚Parasit’ zum Ausdruck gebracht wird. Denn Parasiten gelten als Ungeziefer, Schädlinge, die Krankheiten und Seuchen mit sich bringen und denen man nur beizukommen ist, indem man sie radikal ausmerzt.

Mit der öffentlichen Darstellung der Arbeitslosengeld-II-Bezieher als „Parasiten“ werden die betroffenen hilfebedürftigen Arbeitslosen und mit ihnen alle ‚normalen’ Arbeitslosen, weil potentielle Arbeitslosengeld-II-Bezieher, in diffamierender und diskriminierender Absicht hergerichtet zu einer Spezies, die ihre Umwelt schädigt, indem sie dieser etwas entzieht, ohne dafür etwas zu leisten, womit sie, aus Sicht der gesellschaftlichen Majorität, in der Gesellschaft ein Fremdkörper ohne irgend eine nützliche Funktion ist. Mehr noch: Ihre ‚Verderbnis’ besteht nicht nur darin, daß sie von den durch fleißige und ehrliche Arbeit erwirtschafteten Früchten anderer schmarotzt, sondern auch darin, daß sie als schlechtes Beispiel die „anständigen“ Bürger infiziert und die „wirklich Bedürftigen“ in ein schlechtes Licht setzt. Weil anscheinend ohne Willen oder Fähigkeit, den von den Vertretern der herrschenden sozialen Ordnung propagierten Normalitätsvorstellungen zu entsprechen, treten mithin die Arbeitslosen als gemeinschaftsunfähig und schädlich in Erscheinung, gegen die mit aller Härte und ‚Null-Toleranz’ (vgl. Hansen 1999) vorzugehen, selbst wenn diese hierbei Schaden an Leib und Seele nehmen 43) , nicht nur völlig legitim, sondern schlechterdings erforderlich ist, will man die wirtschaftlich existentielle Bedrohung aufgrund der Gefährdung der Konkurrenzfähigkeit des Standorts Deutschland abwehren.

Aufgrund der sich geradezu reflexartig einstellenden assoziativen und affektiven Kopplung des Begriffs des Parasiten mit der Idee des Ausmerzens heißt dies im schlimmsten Falle, die unter Generalverdacht des Leistungsmißbrauchs gestellten Arbeitslosen zu biologisieren, womit ihnen das Lebensrecht in der menschlichen Gemeinschaft bestritten wird. Im minder schlimmen Falle werden die Arbeitslosen ‚bloß’ kriminalisiert, was es erlaubt, sich mit ihren berechtigten Ansprüchen auf wohlfahrtsstaatliche Unterstützung nicht ernsthaft auseinandersetzen zu müssen, so daß die Hemmschwelle sinkt, sie als mit Rechten ausgestattete Personen wahrzunehmen und zu behandeln. 44)  Und dies vor allem deswegen, weil die Arbeitslosen zum Feind der herrschenden Ordnung werden nicht aufgrund spezifischer äußerer Merkmale, sondern aufgrund einer markierten Position, die sie gemäß den Annahmen der Apologeten der fundamentalistischen Heilslehre des Neoliberalismus durch eigenen Entschluß beziehen. Mit anderen Worten: Das sozialpolitische Feindbild des „Sozialschmarotzers“ läßt den als Feind namhaft gemachten Arbeitslosen keine Wahl zwischen Freundschaft und Feindschaft; es legt sie fest auf die Rolle des Feindes, und zwar bloß deswegen, weil man ist, was man ist: arbeitsloser Transfereinkommensbezieher. Hier zeigt sich, um Agamben zu paraphrasieren, daß die Arbeitslosen zu einem augenfälligen Symbol jenes von der „politischen Existenz“ getrennten „nackten Lebens“ avanciert sind, das der Kapitalismus notwendigerweise in seinem Inneren schafft und dessen Gegenwart er in keiner Weise mehr weder tolerieren will noch kann (vgl. Agamben 2006: 35), so daß deren „nacktes Leben“ jederzeit in Frage steht. Die Konsequenz: An die Stelle der Unterscheidung zwischen Bourgeois und Citoyen tritt die Reduzierung des politischen auf den biologischen Körper, das heißt die Behandlung der arbeitslosen Individuen als überflüssiger Körper durch den Staat, weswegen so jemand wie Robert J. Eaton, vormaliger DaimlerChrysler-Vorsitzender, auch wieder unverblümt sagen kann, was ein Zelot des reinen Marktes denkt: „Die Schwachen müssen sich verändern oder sterben“ (Eaton 1999) – Worte, die ob ihrer schlichten Klarheit keiner Interpretation mehr bedürfen, aber Handeln erfordern, soll der Fehdehandschuh aufgegriffen werden, um die Neoliberalismus genannte „’graue Wolke’, […] die den Tod der Geschichte, das Verschwinden der Utopie, die Vernichtung des Traums verordnet“ (Freire 1997: 9), vom Himmel zu vertreiben. (HDH)

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34) Vgl. hierzu Oschmiansky (2003), der zeigt, daß die Mißbrauchskampagnen der letzten drei Jahrzehnte einem politischen Konjunkturzyklus unterlagen, insofern das Aufflammen der Kampagnen in der Regel einer bevorstehenden Bundestags- oder wichtigen Landtagswahl vorausging, mithin politischen Kalkülen folgend die Umwerbung der politischen Mitte, des ‚median voters’, zum Ziel hatte, dessen Einstellung bekanntlich wahlentscheidend sein kann.
35) Die Formulierung ‚sozialer Krieg’ folgt hier nicht der Engelschen, die, wie bei Hobbes (vgl. 1989: 96), auf einen dem Staat vorgängigen „Krieg Aller gegen Alle“ abstellt, bei dem es, Individuum gegen Individuum, darum geht, daß „der Stärkere den Schwächeren unter die Füße tritt“ (Engels 1976: 257). Wenn hier von ‚sozialem Krieg’ die Rede ist, dann eher im Foucaultschen Sinne des „inneren Krieges, des Gesellschaftskrieges“ (Foucault 2001: 107), der mit Beginn des 17. Jahrhunderts als Krieg die Gesellschaft durchgängig und dauerhaft durchzieht und entlang einer Schlachtlinie binär ordnet: zunächst als Zusammenstoß zweier sozialer Rassen, als Rassenkrieg, sodann als „Staatsrassismus“. Bei diesem Ordnungsprinzip des modernen Staates handelt es sich mit Foucault erst einmal nicht um einen Rassismus biologischer, sondern kriegerischer oder politischer Art, wiewohl sich beide Arten überlagern können, also eines Rassismus, den „die Gesellschaft gegen sich selber, gegen ihre eigenen Elemente, ihre eigenen Produkte“ (ebd.: 81) führt und bei dem soziale Gruppen entlang sozialer Marker als Normabweichler, Gegner oder Feind mit dem Zweck konstituiert werden, diese zu bekämpfen und auszugrenzen. Dabei kann es sich ebensogut um rassische, ethnische, kulturelle, religiöse, politische oder auch soziale Minderheiten handeln.
36) „Bei dem Juden ist hingegen diese Einstellung [zur Arbeit; M.W.] überhaupt nicht vorhanden; er […] war immer nur Parasit im Körper anderer Völker. […] Er ist und bleibt der ewige Parasit, ein Schmarotzer, der wie ein schädlicher Bazillus sich immer mehr ausbreitet, sowie nur ein günstiger Nährboden dazu einlädt. […] Im Leben des Juden als Parasit […] liegt eine Eigenart begründet, die Schopenhauer einst zu dem […] Ausspruch veranlaßte, der Jude sei der ‚große Meister im Lügen’. Das Dasein treibt den Juden zur Lüge, und zwar zur immerwährenden Lüge, wie es den Nordländer zur warmen Kleidung zwingt.“ (Hitler 1949: 334f.) – Zum „Vokabular des Nationalsozialismus“ vgl. neuerdings insbesondere Schmitz-Berning (2007). Daß es wohl kaum ein wirkungsvolleres Mittel gibt, den Menschen ohne Anwendung physischer Gewalt seiner individuellen Handlungsfähigkeit und Urteilskraft zu berauben, als ihn zur Benutzung einer entsprechend präparierten Sprache zu bringen, wird von dem kritischen Beobachter und geheimen Archivar der „Lingua Tertii Imperii“, Klemperer, wie folgt beschrieben: „Aber Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbstverständlicher, je unbewußter ich mich ihr überlasse. [...] Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“ (Klemperer 1969: 23)
37) „Der Versuch der Staatsmacht, sich die Anomie durch den Ausnahmezustand einzuverleiben, […] ist: eine fictio juris par excellence, die vorgibt, das Recht genau dort, wo es suspendiert ist, als Gesetzeskraft aufrechtzuerhalten. An seine Stelle treten jetzt Bürgerkrieg und revolutionäre Gewalt, also menschliches Handeln, das jede Beziehung zum Recht abgelegt hat.“ (Agamben 2004: 71)
38) Daß im Nationalsozialismus zur Kenntlichmachung und Versinnlichung der Juden als Feind der gelbe Stern eingeführt wurde, ist hinlänglich bekannt, weniger hingegen der im systematischen Zusammenhang der Vorurteilsbildung bedeutungsgleiche schwarze Winkel, der die damit Gekennzeichneten (Bettler, Landstreicher, Alkoholkranke etc.) als zur Gruppe der „Asozialen“ zugehörig kennzeichnete, deren gemeinsames Merkmal darin bestand, daß sie aufgrund „gemeinschaftswidrigen Verhaltens“ von ihren Unterdrückern als ‚arbeitsscheu’ definiert und diffamiert wurden. Mit der Vokabel ‚asozial’ bezeichneten die Nationalsozialisten „Menschen, die keinerlei Einordnungswillen oder ﷓fähigkeit zeigen und die als Schlacken der menschlichen Gesellschaft als ‚Gemeinschaftsuntüchtige’ angesprochen werden müssen. […] Es sind arbeitsscheue Elemente, politische Untermenschen, die von der Fürsorge der übrigen Volksgenossen mit durchgeschleppt werden müssen. (zit. nach: Schmitz-Berning 2007: 264) Zu den diesbezüglichen Parallelen von Nationalsozialismus und Bundesrepublik Deutschland vgl. auch Allex (2008).
39) Einer solchen Sichtweise läßt sich entgegenhalten, es sei in Anbetracht der nationalsozialistischen Vergangenheit „Zurückhaltung geboten bei dem Slogan: ‚Sozial ist, was Arbeit schafft.’“ (Spindler 2003: 12). Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen. Gleichwohl sollte das Diktum Horkheimers „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“ (Horkheimer 1988: 308f.) nicht vergessen werden, das in historisch-kritischer Absicht nicht die differentia specifica hervorhebt, sondern auf das genus proximum abstellt.
40) Zum Konzept des „aktivierenden Staates“ vgl. allgemein Lamping et al. (2002), zu dessen Bedeutung als Ansatz zur Umgestaltung des Wohlfahrtsstaats im besonderen die Beiträge in Dahme et al. (2003) sowie Mezger/West (2000).
41) Foucault kehrt hier die bekannte Formulierung von Clausewitz um, wonach „der Krieg nur eine Fortführung der Politik mit anderen Mitteln ist“ (Clausewitz, C. v.; zit. nach: Foucault 2001: 32).
42) Vgl. hierzu klassisch schon Benjamin, der neben Schmitt und Foucault Agamben als zentrale Referenz seiner Fundamentalanalyse des Ausnahmezustands gilt: „Die Funktion der Gewalt in der Rechtsetzung ist nämlich zwiefach in dem Sinne, daß die Rechtsetzung zwar dasjenige, was als Recht eingesetzt wird, als ihren Zweck mit der Gewalt als Mittel erstrebt, im Augenblick der Einsetzung des Bezweckten als Recht die Gewalt aber nicht abdankt, sondern sie nun erst im strengen Sinne, und zwar unmittelbar, zur rechtsetzenden macht, indem sie nicht einen von Gewalt freien und unabhängigen, sondern notwendig und innig an sie gebundenen Zweck als Recht unter dem Namen der Macht einsetzt. Rechtsetzung ist Machtsetzung und insofern ein Akt unmittelbarer Manifestation der Gewalt.“ (Benjamin 1978: 56f.)
43) Daß Hartz IV, wenn auch bisher nur in Ausnahmefällen und am Rande der Gesellschaft, Tote zur Folge hat, ist bekannt. Erinnert sei hier z.B. nur an den Tod eines psychisch erkrankten Hartz-IV-Betroffenen aus Speyer, der verhungerte, weil ihm durch den zuständigen Grundsicherungsträger wegen mangelnder Kooperationsbereitschaft (er hatte nicht auf die Vorladung zur Erstellung eines psychologischen Gutachtens reagiert) zuerst teilweise und dann vollständig die Zahlung der Existenzsicherungsleistungen versagt wurde. (vgl. Stumberger 2007) In ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE räumt die Bundesregierung zwar ein, daß die Absenkungen und die vollständige Aufhebung der Leistung „rechtsfehlerhaft“ (BT-Drs. 16/5550: 2) gewesen sei, gleichwohl hält sie das Vorgehen grundsätzlich für gerechtfertigt, da dem Betroffenen ein entsprechendes Angebot an sozialen Diensten zur Verfügung gestanden habe. Da dieser jedoch keinen Bedarf signalisiert habe, „gab es auch keine Veranlassung, diese Dienste zu aktivieren“ (ebd.: 4) Was lehrt uns dies: Arbeitslose tragen nicht nur Schuld an ihrer Arbeitslosigkeit, sondern auch an ihrem möglichen Verhungern. Daß es sich hierbei nicht um zufällige, sondern um systemische Tote handelt, denn es ist die Drohung mit der Existenzvernichtung, die systemisch hinter der erzwungenen Kooperationsbereitschaft steht, zeigt auch das jüngste Beispiel aus dem Waffenarsenal der Grundsicherungsträger, die als institutioneller Kern der Hartz-IV-Reform den sozialen Krieg gegen die Arbeitslosen strategisch organisieren und umsetzen: die Kürzung der Existenzsicherungsleistung wegen Bettelns. So geschehen in Göttingen. Dort wurden einem Sozialhilfeempfänger, nachdem er beim Betteln beobachtet und die ihm gegebenen Almosen hochgerechnet worden waren, die Geldspenden als zusätzliches Einkommen auf die Leistungen der Sozialhilfe angerechnet (vgl. Haustein-Teßmer 2009b), was de facto nichts anderes bedeutet, als Bettler als beschäftigt aufzufassen. Denkt man diese Vorstellung zu Ende, so kommt man zu dem Schluß, daß diejenigen Arbeitslosen, die von der Option der Bettelei keinen Gebrauch machen wollen, freiwillig arbeitslos seien, weswegen ihnen dann auch die Gewährung von Unterstützungsleistungen zu versagen ist.
44) Der seitens der Politik induzierte Abbau verfahrensrechtlicher Garantien wie die Abschaffung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gemäß § 39 SGB II spricht hier eine ebenso eindeutige Sprache wie die in Angriff genommene Einführung von Sozialgerichtsgebühren und der Anwaltspflicht vor den Landessozialgerichten oder die geplante Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen zur Bewilligung der Prozeßkostenhilfe oder die beabsichtigte Abkehr vom Amtsermittlungsprinzip. (vgl. Jäger 2007)

Prof. Dr.rer.pol. Michael Wolf ist Sozialwissenschaftler und Hochschullehrer für Sozialpolitik und Sozialplanung am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Koblenz. Der Artikel erschien am 6. Juli im "Kritiknetz". – Das Literaturverzeichnis ist auf Anfrage beim Autor erhältlich. eMail-Kontakt hier!


Online-Flyer Nr. 209  vom 05.08.2009

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