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Arbeit und Soziales
Erste Info- und Protestveranstaltung:
Zahltag in Wuppertal
Von Jochen Lubig und Hans-Dieter Hey
In der Geburtsstadt Friedrich Engels, der in den Jahren 1848 und 1849 auch Redakteur der Neuen Rheinischen Zeitung war, tat sich am frühen Montagmorgen des 3. August nahezu Revolutionäres. Erwerbslose begehrten gegen die dortige ARGE auf und informierten sich frech über ihre Rechte. Auf Anhieb waren deutlich über 100 Betroffene und deren Sympathisanten vor Ort – für das verschlafene Wuppertal recht viel an revolutionärem Potential.
In der Chefetage begrüßte eine sich um das Wohl der ARGE sorgende Mitarbeiterin den zögerlich eintreffenden Boss, Martin Klebe, mit den Worten: „Da unten ist Tacheles, die hetzen die Leute auf und machen Randale.“ So viel Randale – wie die Mitarbeiterin erwartet oder wegen der Erlösung aus ihrem Alltagsfrust vielleicht erhofft hatte – war es dann doch nicht. Denn die Polizei – bei anderen Zahltagen in Städten wie Köln ein treuer und meist auch zahlenmäßig starker, gelegentlich auch ruppiger Gast – kam nur einmal kurz vorbei, sprach mit den Würdenträgern der Armutsverwaltung und trollte sich friedlich.
Kurzer Besuch, damit bei „revolutionsartigen" Protestesten....
Ebenso friedlich gaben sich die „Fallmanager“ der „Kunden“ – so heißen beide tatsächlich. Der Umgangston war moderat, es wurden keine Tipps der herablassenden Art wie „Gehen sie doch zur Tafel“ gegeben, wie dies gelegentlich vorkommt. Man könnte meinen, alles funktionierte prima harmonisch und besser kann man es sich nicht vorstellen. Beim „offenen Mikrofon“ konnte jeder über seine Erfahrungen mit der ARGE berichten. Und wer – vielleicht aus guten Gründen – sich nicht am Mikrofon zeigen wollte, weil die Chefetage der ARGE in Hör- und Sichtweite war, konnte auch etwas abseits vom Geschehen sein Anliegen vorbringen. Einige Zeit später waren die Beiträge dann über die Lautsprecheranlage zu hören (Am Schluss des Artikels einige Eindrücke vom Zahltag als Tondokument).
Die Wuppertaler „Revolutionäre“ waren jedenfalls nicht umsonst da. Die Beratungsgruppe von Tacheles eV., selbst in Wuppertal ansässig, hatte durchgehend gut zu tun, ihr umfangreiches Fachwissen an den Mann und die Frau zu bringen. Betroffene stellten Fragen zum Leistungsbescheid, zu abgelehnten Anträgen, zur Bewilligung von Heiz- und Nebenkosten, zur Kostensenkungsaufforderung bei den Unterkunftskosten und zu Sanktionen. Widersprüche wurden vor Ort formuliert und Fristen zur Auszahlung gesetzt. Viele Leute nahmen das Angebot der Ämterbegleitung wahr und konnten mit fachlich ausgerüstetem Beistand ihre Ansprüche erfolgreich einfordern. Erwerbslose wollten künftig daraufhin nur noch mit Begleitschutz zur ARGE gehen. Sofortzahlungen von 600 Euro – in einem Fall waren es sogar 980 Euro – wurden mit Begleitschutz vom Tacheles e.V. durchgesetzt.
....gegen die Existenzbedrohung auch nur nichts anbrennt.
Fotos: Jochen Lubig
Vielleicht läuft ja – außer der netten Stimmung an diesem Tag – nicht alles gut in Wuppertal. „Viele Hartz IV-Betroffene bestätigten uns, dass in der Behörde Dokumente abhanden gekommen seien und dass die Mitarbeiter sich weigerten, Eingangsbestätigungen schnell und unbürokratisch auszustellen. Auch über mangelnde Erreichbarkeit der Behörde und unzumutbare Antragsbearbeitungszeiten wurde oft geklagt“, berichtet der Tacheles e.V. Offenbar braucht in Wuppertal alles etwas länger und verschwundene Anträge und sonstige Dokumente sind nicht ungewöhnlich, berichten Betroffene. Vielleicht macht Wuppertal auch die überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit von – offiziell – 12,7 Prozent im Juli 2009 und die steigende Kurzarbeiterzahl von 12.208 Männern und Frauen in inzwischen 403 Betrieben mehr zu schaffen, als anderen Gemeinden.
Anders die nervöse Stimmung in der benachbarten ARGE in der Winklerstraße: Lange Warteschlangen auf dem Flur und teils böswillig und unwillig reagierende „Fallmanager“ auf die verteilten Flug- und Informationsblätter. Guter Grund für Wuppertaler Revolutionäre, mit Trommeln, Harmonium und Megafon mal ein wenig den Marsch zu trommeln. Dadurch wiederum fühlte sich die ARGE ermächtigt, „Überfall“ zu rufen und die örtliche Polizei herbeizuzitieren. Die hielt sich jedoch in realitätsangemessener Weise zurück und kurze Zeit später wurde der „Sondereinsatz“ beendet.
Gut scheint jedenfalls, dass es für Erwerbslose noch Beratungen und Zahltage gibt – in Wuppertal und anderswo. „Für Wuppertal“, so Frank Jäger von der Beratungsstelle Tacheles e.V., „dürfte das jedenfalls nicht der letzte Zahltag gewesen sein.“ (HDH)
Wer nicht lesen will,
muss hören –
Online-Flyer Nr. 209 vom 05.08.2009
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Arbeit und Soziales
Erste Info- und Protestveranstaltung:
Zahltag in Wuppertal
Von Jochen Lubig und Hans-Dieter Hey
In der Geburtsstadt Friedrich Engels, der in den Jahren 1848 und 1849 auch Redakteur der Neuen Rheinischen Zeitung war, tat sich am frühen Montagmorgen des 3. August nahezu Revolutionäres. Erwerbslose begehrten gegen die dortige ARGE auf und informierten sich frech über ihre Rechte. Auf Anhieb waren deutlich über 100 Betroffene und deren Sympathisanten vor Ort – für das verschlafene Wuppertal recht viel an revolutionärem Potential.
In der Chefetage begrüßte eine sich um das Wohl der ARGE sorgende Mitarbeiterin den zögerlich eintreffenden Boss, Martin Klebe, mit den Worten: „Da unten ist Tacheles, die hetzen die Leute auf und machen Randale.“ So viel Randale – wie die Mitarbeiterin erwartet oder wegen der Erlösung aus ihrem Alltagsfrust vielleicht erhofft hatte – war es dann doch nicht. Denn die Polizei – bei anderen Zahltagen in Städten wie Köln ein treuer und meist auch zahlenmäßig starker, gelegentlich auch ruppiger Gast – kam nur einmal kurz vorbei, sprach mit den Würdenträgern der Armutsverwaltung und trollte sich friedlich.
Kurzer Besuch, damit bei „revolutionsartigen" Protestesten....
Ebenso friedlich gaben sich die „Fallmanager“ der „Kunden“ – so heißen beide tatsächlich. Der Umgangston war moderat, es wurden keine Tipps der herablassenden Art wie „Gehen sie doch zur Tafel“ gegeben, wie dies gelegentlich vorkommt. Man könnte meinen, alles funktionierte prima harmonisch und besser kann man es sich nicht vorstellen. Beim „offenen Mikrofon“ konnte jeder über seine Erfahrungen mit der ARGE berichten. Und wer – vielleicht aus guten Gründen – sich nicht am Mikrofon zeigen wollte, weil die Chefetage der ARGE in Hör- und Sichtweite war, konnte auch etwas abseits vom Geschehen sein Anliegen vorbringen. Einige Zeit später waren die Beiträge dann über die Lautsprecheranlage zu hören (Am Schluss des Artikels einige Eindrücke vom Zahltag als Tondokument).
Die Wuppertaler „Revolutionäre“ waren jedenfalls nicht umsonst da. Die Beratungsgruppe von Tacheles eV., selbst in Wuppertal ansässig, hatte durchgehend gut zu tun, ihr umfangreiches Fachwissen an den Mann und die Frau zu bringen. Betroffene stellten Fragen zum Leistungsbescheid, zu abgelehnten Anträgen, zur Bewilligung von Heiz- und Nebenkosten, zur Kostensenkungsaufforderung bei den Unterkunftskosten und zu Sanktionen. Widersprüche wurden vor Ort formuliert und Fristen zur Auszahlung gesetzt. Viele Leute nahmen das Angebot der Ämterbegleitung wahr und konnten mit fachlich ausgerüstetem Beistand ihre Ansprüche erfolgreich einfordern. Erwerbslose wollten künftig daraufhin nur noch mit Begleitschutz zur ARGE gehen. Sofortzahlungen von 600 Euro – in einem Fall waren es sogar 980 Euro – wurden mit Begleitschutz vom Tacheles e.V. durchgesetzt.
....gegen die Existenzbedrohung auch nur nichts anbrennt.
Fotos: Jochen Lubig
Vielleicht läuft ja – außer der netten Stimmung an diesem Tag – nicht alles gut in Wuppertal. „Viele Hartz IV-Betroffene bestätigten uns, dass in der Behörde Dokumente abhanden gekommen seien und dass die Mitarbeiter sich weigerten, Eingangsbestätigungen schnell und unbürokratisch auszustellen. Auch über mangelnde Erreichbarkeit der Behörde und unzumutbare Antragsbearbeitungszeiten wurde oft geklagt“, berichtet der Tacheles e.V. Offenbar braucht in Wuppertal alles etwas länger und verschwundene Anträge und sonstige Dokumente sind nicht ungewöhnlich, berichten Betroffene. Vielleicht macht Wuppertal auch die überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit von – offiziell – 12,7 Prozent im Juli 2009 und die steigende Kurzarbeiterzahl von 12.208 Männern und Frauen in inzwischen 403 Betrieben mehr zu schaffen, als anderen Gemeinden.
Anders die nervöse Stimmung in der benachbarten ARGE in der Winklerstraße: Lange Warteschlangen auf dem Flur und teils böswillig und unwillig reagierende „Fallmanager“ auf die verteilten Flug- und Informationsblätter. Guter Grund für Wuppertaler Revolutionäre, mit Trommeln, Harmonium und Megafon mal ein wenig den Marsch zu trommeln. Dadurch wiederum fühlte sich die ARGE ermächtigt, „Überfall“ zu rufen und die örtliche Polizei herbeizuzitieren. Die hielt sich jedoch in realitätsangemessener Weise zurück und kurze Zeit später wurde der „Sondereinsatz“ beendet.
Gut scheint jedenfalls, dass es für Erwerbslose noch Beratungen und Zahltage gibt – in Wuppertal und anderswo. „Für Wuppertal“, so Frank Jäger von der Beratungsstelle Tacheles e.V., „dürfte das jedenfalls nicht der letzte Zahltag gewesen sein.“ (HDH)
muss hören –
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