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Kultur und Wissen
„Kunstwerk“ deutscher Literatur - Lange verschollenes Manuskript publiziert
Musil-Experte als Krimiautor
Von Hajo Jahn
kaiser_geschichte.gif
Die bekam er stattdessen für eine ganz andere Tätigkeit, mit der er in die Literaturgeschichte eingegangen ist: Der jüdische Exilant aus Wien, der sich bis dato als Hilfsarbeiter in einem Londoner Schlachthof mit Schweine- und Rinderhälften abplacken musste, wurde mit seiner Ehefrau, der neuseeländischen Germanistin und Poetin Eithne Wilkins, der wichtigste Musil-Forscher. Von 1954 bis 1966 konnten sie als Stipendiaten neun Jahre lang in Rom leben, den Nachlass von Robert Musil sichten und auswerten.
Ihr großer Artikel in der Londoner Times hob den Autor des Romans „Der Mann ohne Eigenschaften“ drei Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg spektakulär ins Bewusstsein einer internationalen Öffentlichkeit. Ihre in der korrekten Form in den USA und Großbritannien veröffentlichte Übersetzung verursachte einen jahrelangen Dissens mit dem Rowohlt-Verlag. Der endete erst 1968 mit einer Neuausgabe auf der Basis der Kaiser-Erkenntnisse.

Robert Musil (1880 - 1942)
Quelle: www.zitate-aphorismen.de
Folgt man einem Novalis-Wort, dann ist der Zufall nicht unergründlich, sondern hat vielmehr seine Regelmäßigkeit. Regelmäßige Zufälle führten jetzt zum Druck des Romans von Ernst Kaiser, der von Siegfried Unseld und Harry Maria Ledwig-Rowohlt noch zu Lebzeiten des Autors für interessant gehalten, aber nicht verlegt worden war. 1000 etwas verwirrende Manuskriptseiten hätten gekürzt und lektoriert werden müssen. Ein Wagnis auch, einen als Schriftsteller unbekannten Exilanten aus Wien zu veröffentlichen.
Alle Schriften verschwunden
Nach dem Tode Ernst Kaisers (1972) und seiner Frau Eithne (1974) „verschwanden alle Schriften von Ernst Kaiser auf noch immer ungeklärte Weise“, schreibt Ingrid Bachér in ihrem Vorwort des im Ralf Liebe Verlag erschienen Romans „Die Geschichte eines Mordes“.
Die ehemalige PEN-Präsidentin hatte als junge Villa Massimo-Stipendiatin das kinderlose Ehepaar Kaiser in Rom kennengelernt. Es entstand eine Freundschaft. Als Eithne starb, sollten alle Kaiser-Manuskripte an Ingrid Bachér geschickt werden. Doch sie kamen nie an. Der Assistent der Kaisers musste in eine geschlossene Psychiatrie eingeliefert werden, blieb fortan unerreichbar, und der Bruder von Eithne Wilkins, ein renommierter Wissenschaftler, „verweigerte jegliche Auskunft“, so Helmut Braun, Herausgeber des Kaiser-Krimis.
Durchschlag entdeckt
In ihrem Roman „Die Tarotspieler“ beschreibt Ingrid Bachér 1986 das Schicksal Kaisers und seiner Manuskripte. Damit wurde der unbekannte Autor zu einer Figur der Literatur. Auf zwei Foren der Else Lasker-Schüler-Gesellschaft berichtete sie zudem über den Fall, veröffentlicht im Doppelband „Momente in Jerusalem“ (2002) als „Hörbarmachen einer nie gehörten Stimme“. Leser und Zuhörer bei Lesungen waren fasziniert. So auch der junge englische Germanist Mark Nixon. Er nahm die Recherche wieder auf und entdeckte ausgerechnet im Literaturarchiv Marbach einen mit Kohlepapier geschriebenen Durchschlag des Manuskripts.
„Dorthin“, so Ingrid Bachér, „war er kurz zuvor mit dem Vorlass eines Kunsthistorikers gekommen, zu dem auch der Nachlass seines früh verstorbenen Sohnes, Wilhelm Bausinger, gehörte. Auch er war ein Freund der Kaisers gewesen und Kenner Musilscher Werke.“

Ingrid Bachér
Foto: Günther Sauer
Ingrid Bachér erwies Ernst Kaiser einen letzten Freundschaftsdienst: Sie lektorierte das vom Autor noch nicht für eine Veröffentlichung vorgesehene Manuskript. Kaiser war für sie ein leidenschaftlicher Wortsammler. Er habe unter dem Eindruck des Holocaust - seine Angehörigen in Österreich wurden ermordet - durch seine Flucht nach England, die deutschen Luftangriffe und seine folgende Soldatenzeit mit dem „Herrn Kalm“ eine literarische Figur geschaffen, für die die Realität in ihrer monströsen Ungeheuerlichkeit nicht mehr fassbar sei. Ein Mensch, der seine Ängste und Phantasien vervielfältige und sich seiner selbst nicht sicher sein könne: „In seinem Reichtum erscheint er wie eine Kunstfigur, gefesselt von den Umständen, in denen er lebt, zeremoniell kalt gestellt. Träumend gewalttätig, versucht er, aus seiner Isolation auszubrechen und tritt so in die Geschichte von Tätern und Opfern ein. Dabei bleibt er Zuschauer und fühlt sich doch als Akteur, denn die Augen begleiten die Tat. Juristisch schuldlos, will er die Tat getan haben, um zur Realität durchzubrechen. Herr Kalm ist einer von uns. Er lebt in einem fiktiven Raum, in der Zeit realer Kriege.“
Der Sonderdruck der „Geschichte eines Mordes“ wurde von Ingrid Bachér und Helmut Braun in einer Lesung im Zentrum für verfolgte Künste in Solingen vorgestellt. Die Zuhörer lauschten gebannt. Man kann diesem Roman, diesem „Kunstwerk“ nur ebenso faszinierte, vor allem viele Leser wünschen und damit dem mutigen Verleger Erfolg. Vielleicht findet er ja sogar noch ein Foto von Ernst Kaiser – mit Hilfe von NRhZ-Lesern??? (PK)
Ernst Kaiser:
„Die Geschichte eines Mordes“,
ISBN 978-3-941037-22-9.
Herausgeber Helmut Braun.
Mit einem Vorwort von Ingrid Bachér.
Bis zur Ausgabe der leinengebundenen Exemplare am 15. November gibt es eine Subskription zum Preise von 15 Euro. Danach kostet das Buch € 20. Der zurzeit bereits für 20 Euro erwerbbare Sonderdruck hat 380 Seiten.
Verlag Ralf Liebe Kölner Straße 58 53919 Weilerswist.
Tel. :+49 (0) 2254 3347. Fax :+49 (0) 2254 1602. Mail: info@verlag-ralf-liebe.de
Hajo Jahn ist Vorstandsvorsitzender der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft in Wuppertal.
Einen Artikel von Ingrid Bachér zu Ernst Kaiser finden Sie unter http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=14206
Online-Flyer Nr. 218 vom 07.10.2009
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Kultur und Wissen
„Kunstwerk“ deutscher Literatur - Lange verschollenes Manuskript publiziert
Musil-Experte als Krimiautor
Von Hajo Jahn
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Die bekam er stattdessen für eine ganz andere Tätigkeit, mit der er in die Literaturgeschichte eingegangen ist: Der jüdische Exilant aus Wien, der sich bis dato als Hilfsarbeiter in einem Londoner Schlachthof mit Schweine- und Rinderhälften abplacken musste, wurde mit seiner Ehefrau, der neuseeländischen Germanistin und Poetin Eithne Wilkins, der wichtigste Musil-Forscher. Von 1954 bis 1966 konnten sie als Stipendiaten neun Jahre lang in Rom leben, den Nachlass von Robert Musil sichten und auswerten.
Ihr großer Artikel in der Londoner Times hob den Autor des Romans „Der Mann ohne Eigenschaften“ drei Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg spektakulär ins Bewusstsein einer internationalen Öffentlichkeit. Ihre in der korrekten Form in den USA und Großbritannien veröffentlichte Übersetzung verursachte einen jahrelangen Dissens mit dem Rowohlt-Verlag. Der endete erst 1968 mit einer Neuausgabe auf der Basis der Kaiser-Erkenntnisse.

Robert Musil (1880 - 1942)
Quelle: www.zitate-aphorismen.de
Folgt man einem Novalis-Wort, dann ist der Zufall nicht unergründlich, sondern hat vielmehr seine Regelmäßigkeit. Regelmäßige Zufälle führten jetzt zum Druck des Romans von Ernst Kaiser, der von Siegfried Unseld und Harry Maria Ledwig-Rowohlt noch zu Lebzeiten des Autors für interessant gehalten, aber nicht verlegt worden war. 1000 etwas verwirrende Manuskriptseiten hätten gekürzt und lektoriert werden müssen. Ein Wagnis auch, einen als Schriftsteller unbekannten Exilanten aus Wien zu veröffentlichen.
Alle Schriften verschwunden
Nach dem Tode Ernst Kaisers (1972) und seiner Frau Eithne (1974) „verschwanden alle Schriften von Ernst Kaiser auf noch immer ungeklärte Weise“, schreibt Ingrid Bachér in ihrem Vorwort des im Ralf Liebe Verlag erschienen Romans „Die Geschichte eines Mordes“.
Die ehemalige PEN-Präsidentin hatte als junge Villa Massimo-Stipendiatin das kinderlose Ehepaar Kaiser in Rom kennengelernt. Es entstand eine Freundschaft. Als Eithne starb, sollten alle Kaiser-Manuskripte an Ingrid Bachér geschickt werden. Doch sie kamen nie an. Der Assistent der Kaisers musste in eine geschlossene Psychiatrie eingeliefert werden, blieb fortan unerreichbar, und der Bruder von Eithne Wilkins, ein renommierter Wissenschaftler, „verweigerte jegliche Auskunft“, so Helmut Braun, Herausgeber des Kaiser-Krimis.
Durchschlag entdeckt
In ihrem Roman „Die Tarotspieler“ beschreibt Ingrid Bachér 1986 das Schicksal Kaisers und seiner Manuskripte. Damit wurde der unbekannte Autor zu einer Figur der Literatur. Auf zwei Foren der Else Lasker-Schüler-Gesellschaft berichtete sie zudem über den Fall, veröffentlicht im Doppelband „Momente in Jerusalem“ (2002) als „Hörbarmachen einer nie gehörten Stimme“. Leser und Zuhörer bei Lesungen waren fasziniert. So auch der junge englische Germanist Mark Nixon. Er nahm die Recherche wieder auf und entdeckte ausgerechnet im Literaturarchiv Marbach einen mit Kohlepapier geschriebenen Durchschlag des Manuskripts.
„Dorthin“, so Ingrid Bachér, „war er kurz zuvor mit dem Vorlass eines Kunsthistorikers gekommen, zu dem auch der Nachlass seines früh verstorbenen Sohnes, Wilhelm Bausinger, gehörte. Auch er war ein Freund der Kaisers gewesen und Kenner Musilscher Werke.“

Ingrid Bachér
Foto: Günther Sauer
Ingrid Bachér erwies Ernst Kaiser einen letzten Freundschaftsdienst: Sie lektorierte das vom Autor noch nicht für eine Veröffentlichung vorgesehene Manuskript. Kaiser war für sie ein leidenschaftlicher Wortsammler. Er habe unter dem Eindruck des Holocaust - seine Angehörigen in Österreich wurden ermordet - durch seine Flucht nach England, die deutschen Luftangriffe und seine folgende Soldatenzeit mit dem „Herrn Kalm“ eine literarische Figur geschaffen, für die die Realität in ihrer monströsen Ungeheuerlichkeit nicht mehr fassbar sei. Ein Mensch, der seine Ängste und Phantasien vervielfältige und sich seiner selbst nicht sicher sein könne: „In seinem Reichtum erscheint er wie eine Kunstfigur, gefesselt von den Umständen, in denen er lebt, zeremoniell kalt gestellt. Träumend gewalttätig, versucht er, aus seiner Isolation auszubrechen und tritt so in die Geschichte von Tätern und Opfern ein. Dabei bleibt er Zuschauer und fühlt sich doch als Akteur, denn die Augen begleiten die Tat. Juristisch schuldlos, will er die Tat getan haben, um zur Realität durchzubrechen. Herr Kalm ist einer von uns. Er lebt in einem fiktiven Raum, in der Zeit realer Kriege.“
Der Sonderdruck der „Geschichte eines Mordes“ wurde von Ingrid Bachér und Helmut Braun in einer Lesung im Zentrum für verfolgte Künste in Solingen vorgestellt. Die Zuhörer lauschten gebannt. Man kann diesem Roman, diesem „Kunstwerk“ nur ebenso faszinierte, vor allem viele Leser wünschen und damit dem mutigen Verleger Erfolg. Vielleicht findet er ja sogar noch ein Foto von Ernst Kaiser – mit Hilfe von NRhZ-Lesern??? (PK)

„Die Geschichte eines Mordes“,
ISBN 978-3-941037-22-9.
Herausgeber Helmut Braun.
Mit einem Vorwort von Ingrid Bachér.
Bis zur Ausgabe der leinengebundenen Exemplare am 15. November gibt es eine Subskription zum Preise von 15 Euro. Danach kostet das Buch € 20. Der zurzeit bereits für 20 Euro erwerbbare Sonderdruck hat 380 Seiten.
Verlag Ralf Liebe Kölner Straße 58 53919 Weilerswist.
Tel. :+49 (0) 2254 3347. Fax :+49 (0) 2254 1602. Mail: info@verlag-ralf-liebe.de
Hajo Jahn ist Vorstandsvorsitzender der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft in Wuppertal.
Einen Artikel von Ingrid Bachér zu Ernst Kaiser finden Sie unter http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=14206
Online-Flyer Nr. 218 vom 07.10.2009
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