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Arbeit und Soziales
„Generationengerechtigkeit“ als Kampfbegriff von oben
Demagogie gegen den Sozialstaat
Von Hubert Zaremba
Rentenerhöhungen, so Karl Heinz Däke, Präsident des Steuerzahlerbundes (richtiger: Bund der Steuer zahlenden Unternehmer), seien langfristig Fehler, „die für spätere Generationen sehr teuer werden" (Welt am Sonntag, 12.08.09). Ex-SPD–Kanzlerkandidat Steinmeier pflichtet ihm bei, „dass wir immer auch die Frage der Generationengerechtigkeit im Auge behalten müssen". Da will dann auch die Spitzenkandidatin der „Grünen", Renate Künast, nicht abseits stehen: „Union und SPD veräppeln die jüngere Generation. Sie haben einseitig eine Generation bedient und hinterlassen den Jüngeren die höchsten Schulden seit 60 Jahren".
Gewiss betragen die Zuschüsse in die Sozialsysteme aus dem Bundeshaushalt derzeit ca. 110 Milliarden Euro, davon allein 80 Mrd. für die Rentenversicherung. Aber ohne diese Zuschüsse aus dem allgemeinen Steueraufkommen müssten dann bei aktueller Leistungsgewährung entsprechend höhere Beitrage eingetrieben werden. Dies hieße weitaus höhere Lohnzahlungen für die Unternehmer und würde den Trend der Verteilungsverhältnisse ins Gegenteil verkehren: Statt einer inzwischen unter zwei Drittel des Volkseinkommens gesunkenen Bruttolohnquote würden die Einkommen aus Kapital– und Vermögensbesitz entsprechend schrumpfen.
Umverteilt: Unternehmergewinne statt Bruttolöhne
Die Brutto Unternehmens– und Vermögenseinkommen von ca. 642 Mrd. Euro 2007 reduzierten sich auf eine Größe von „nur" über 500 Mrd. Euro. Soviel „verdiente" man dort im Jahre 2004 (513,790 Mrd. Euro)! Seltsamerweise wird öffentlich nie die Frage gestellt, wieso diese Zuwächse bei den Unternehmens– und Vermögenseinkommen eintreten (gesamtdeutsch anfänglich der 1990er Jahre bei 350 Mrd. Euro), wo doch die Zahl der Erwerbspersonen seitdem bei 40 Millionen Erwerbspersonen eher stagnierte und nur durch die Ausweitung der Teilzeitarbeit von Frauen auf 41 Millionen im letzten Jahrzehnt anwuchs. Zumal das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen nach 1991 von etwas mehr als 59 Mrd. Arbeitsstunden jährlich auf 57 Mrd. im Jahre 2007 absank. Deutlich wird: Weniger Beschäftigte oder ein geringeres gesellschaftliches Arbeitsaufkommen bedingen nicht einen Rückgang des gesamten Volkseinkommens, ja gesellschaftlichen Reichtums. Gemessen am Rückgang der Beschäftigten in der Land– und Forstwirtschart (BRD–West 1960: 3,6 Mio./1970:2,2 Mio./1991: 1,0 Mio., gesamtdeutsch 1991: 1,5 Mio.) dürften manche Gesundheitsprobleme durch Über– oder Fehlernährung nicht auftreten. 2007 arbeiteten in dieser Branche noch 850.100 Erwerbstätige.
Sieht so nach Protesten...
Aus einer stagnierenden oder in Zukunft dann abnehmenden Erwerbstätigenzahl mit einem Nettoverdienst von annähernd der Hälfte des Bruttoeinkommens lassen sich allerdings bei geringeren finanziellen Spielräumen Beiträge für private Versicherungsverträge nicht so leicht abzweigen. In Anbetracht eingetretener Reallohnverluste von bis zu zehn Prozent seit 2004 flachen auch die Beitragseinnahmen der deutschen Versicherungswirtschaft ab. Von 2006 bis 2008 stiegen die Beitragseinnahmen von 161,9 Mrd. auf 165,3Mrd. Euro an. Vier Jahre vorher, ab 2004 flossen aber nach 152,2 Mrd. Euro bis 2006 fast zehn Milliarden, das Dreifache, in die Versicherungskassen. Selbst nach überwundener Krise werden bescheidene Wachstumsraten und ausbleibende tarifliche Kampfkraft den Lohnfonds der Lohnabhängigen nicht ausweiten. Dies ist in Rechnung zu stellen, wenn einer der führenden Lobbyisten der Versicherungswirtschaft, Professor Bernd Raffelhüschen vom Forschungszentrum für Generationenverträge der Universität Freiburg, in der Süddeutschen Zeitung vom 16. Juli 2009 verkündet: „Wir können den Sozialstaat in seiner jetzigen Form nicht erhalten, weil uns die Steuerzahler und Beitragszahler aufgrund der sinkenden Geburtenzahlen wegbrechen." Er meint: „Wir" – die herrschende Klasse und ihre Propagandisten, wozu er gehört – wollen nicht mehr allein nur soviel Lohn und Gehalt zahlen, damit der Sozialstaat in seinen jetzt bereits arg angeknacksten Pfeilern Bestand behält.
Getäuscht: „Mehr Netto vom Brutto"
Durch Einbehalt von Lohnanteilen und Umschleusung bisheriger Nettolohnanteile auf die Konten der Versicherungskonzerne, sollen Leistungsausfälle der gesetzlichen Versicherung kompensiert werden. Sofern die Höhe des individuellen Lohnes das noch hergibt. Das ist der Sinn hinter dem Spruch vom „mehr Netto vom Brutto". Das Vorstandsmitglied der Fondsgesellschaft Union Investment, Hans Joachim Reinke, erklärt hierzu in der FAZ vom 06.08.2009: „74,7 Prozent der Rentenbezieher wären ohne eine zusätzliche Altersversorgung unterversorgt". Diese Erkenntnis gewinnt er aus einer Untersuchung zu regional unterschiedlich erwartbaren Einkommenslücken nach dem Erwerbsleben, vorgenommen von wem? Dem Professor Bernd Raffelhüschen und seinem Forschungszentrum für Generationenverträge in Freiburg. „Die Versorgung misst Raffelhüschen an der Ersatzquote, die sich aus dem Verhältnis zwischen der Rente und dem letzten Einkommen ergibt. Eine Unterversorgung liegt demnach vor, wenn die Ersatzquote unter 60 Prozent: fällt, wie dies im überwiegenden Teil Deutschlands der Fall ist. (...) Besonders die Jüngeren weisen hohe Unterversorgungslücken auf, zitiert der FAZ–Artikel und führt weiter aus, „die heutigen Beitragszahler müssen größere eigene Anstrengungen unternehmen. Viele haben gar nicht mehr das Geld, um privat Vorsorge zu treffen“, sagt Reincke. .Dennoch werden wir an dieser Stelle nicht locker lassen". Im Herbst will Union Investment eine Vertriebsoffensive für Riester–Verträge starten." Weitere Versicherer werden es ihnen gleichtun.
Das düstere Zukunftsszenario eines aufgrund abnehmender Bevölkerungszahlen zusammenbrechenden Sozialstaates erweist sich bei näherem Hinsehen als von den bürgerlichen Parteien begünstigter interessegeleiteter Zugriff des Finanzkapitals auf bislang gesellschaftlich verwaltete und unmittelbar umverteilte Anteile der Lohnsumme der abhängig Beschäftigten unter ihresgleichen. Die simple Gleichung weniger Beitragszahler gleich weniger Sozialstaat hofft umso mehr auf die gewünschte einschüchternde Wirkung, weil die positiven Folgen einer geringeren Bevölkerung, von der neunzig Prozent auf Lohnarbeit angewiesen sind, von der gesellschaftlichen Linken überhaupt nicht thematisiert und offensiv in die Debatte gebracht werden. Tatsache ist: Das Bundesamt für Statistik prognostiziert für das Jahr 2050 einen Rückgang der Bevölkerung in Deutschland von heute 82 Millionen auf 68,7 bis 74 Millionen.
...demnächst die Rente aus?
Fotos: arbeiterfotografie.com
Eine UN–Prognose setzt bis dahin auf 70,5 Millionen. Allein die Schwankungsbreite zeigt: Das Geburtenregister von heute kann schon keine genauen Angaben mehr darüber machen, wie viel Kinder die Kinder von heute in die Welt setzen. Was sonst bis dahin noch passiert, ist noch unsicherer. Gesellschaftliche Entwicklung vollzieht sich nicht geradlinig, sondern eher im Zickzack, vertikal wie horizontal. Selbst die konjunkturelle Lage, die Beschäftigungssituation, das gesellschaftliche Klima im nächsten Jahr genau zu bestimmen, ist unwägbar. Doch nur einige Aspekte einer abnehmenden Bevölkerungszahl wenigstens in unseren Breitengraden verweisen auf eher bessere Zukunftschancen jüngerer Menschen. Die Konkurrenz um knappe Arbeitsstellen nähme ab oder wäre gemindert. Die Belastung der hiesigen Biosphäre durch weniger Ressourcenverbrauch träte ein. Wer hat bei kapitalistischer Produktionsweise Nutzen von überschüssigen Arbeitskräften, knappem Wohnraum, überlasteten und verstopften Verkehrswegen und wachsendem Energieverbrauch?
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Deutschland erreichte 2007 eine nominelle Größe von 2,4 Billionen Euro. Der gesamten Bevölkerung floss daraus ein Volkseinkommen von 1,82 Billionen Euro zu, aufgeteilt in rund 642 Milliarden Euro als Unternehmens– und Vermögenseinkommen und 1,18 Billionen Euro des sogenannten Bruttoarbeitnehmerentgelts. Innerhalb dieser Summe fließen derzeit rund 235 Milliarden Euro jährlich an etwa zwanzig Millionen vormalige Lohnempfänger. Im Schnitt gehen lohnabhängig Beschäftigte momentan mit 63 Jahren auf Rentenbezug. Ihre laufenden Rentenzahlungen erfordern monatlich die Bereitstellung von ca. 20 Milliarden Euro. Diese Summen aufzubringen, hängt jedoch nicht von der Bevölkerungszahl ab, sondern vom politischen Willen derjenigen, die per Gesetzgebung die Rentenhöhe und die per Beitragshöhe nötigen Zuflüsse aus der gesamten Lohnsumme definieren. Die Lohnsumme steigt mit der Höhe der Beiträge, was wiederum bei niedrigeren Wachstumsraten die erwarteten Unternehmens- und Vermögenseinkommen schmälert.
Das gleichzeitig der Anstieg der Produktivität pro Beschäftigtem fortschreitet (seit 1960 von 40,5 auf 129,9 in 2007 je Arbeitsstunde), ihnen aber nur relativ zugute kommt, belegt der enorme Zuwachs der Unternehmens- und Vermögenseinkommen, der sich seit 1991 von 346 Mrd. auf 642 Mrd. Euro fast verdoppelt hat (siehe oben). „Das Problem ist, dass der wirtschaftliche Erfolg der Steigerung der Produktivität sich ich immer zunächst in den Unternehmen durch verbesserte Gewinne niederschlägt. Erst durch höhere Löhne und Gehälter sowie über entsprechend höhere Steuerzahlungen der Unternehmen fließen die Produktivitätsgewinne auch der breiten Bevölkerung zu. Nur wenn es gelingt, den Unternehmen einen hinreichenden Anteil der Gewinnsteigerungen abzutrotzen, geht die Rechnung für steigenden Wohlstand für alle und zur Losung der demografischen Entwicklung auf.“ (M. Schlecht im Gewerkschaftsjahrbuch 2004/05, S. 38).
Ausgespielt: Alte gegen Junge
Vorrangig geht es also gar nicht darum, welche Anteile die Lohnarbeiterklasse unter sich zur Finanzierung des Sozialstaats aus ihrem Anteil am Volkseinkommen umverteilt, sondern die gesamte Lohnquote soll zugunsten der Unternehmens- und Vermögensquote weiter sinken. Dieses heimliche Ziel weiter zu forcieren, dazu dient die Agenda 2010 und weiterführende Pläne. 1981 erlangten Lohnabhängige und Rentner in der BRD–West, immerhin bald neunzig Prozent der Bevölkerung, noch 73,6 Prozent vom Volkseinkommen. Insbesondere durch lohn- und steuerbasierte Transferleistungen (Arbeitslosenhilfe) ins Gebiet der Ex-DDR ergab sich im Jahre 2000 eine gesamtdeutsche Bruttolohnquote von 72,2 Prozent. Bis 2007 gelang das Abschmelzen der Bruttoeinkommen aus unselbständiger Arbeit auf 64,8 Prozent. Deutlich wird: Nicht die Kopfzahl bestimmt die Verteilung, sondern gesellschaftliche Machtpositionen. Das kommt in der Fähigkeit zur Geltung, jeweilige Interessenlagen bewusst und zielstrebig umzusetzen. Das Interesse der Unternehmer- und Vermögensbesitzerklasse, möglichst viel vom jährlichen Gesamtprodukt an sich zu ziehen, schlägt durch auf die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme, weil sie größtenteils aus Lohnbestandteilen der abhängig Beschäftigten über Sozialbeiträge und Massensteuern erfolgt. Davon soll abgelenkt werden, wenn man einer „Jungen Generation“ erzählt, die „Alten" würden sie „ausbeuten".
Ein 64jähriger Beschäftigter, sofern er dieses Berufsalter halbwegs gesund erreicht, zahlt mit seinen letzten Monatslöhnen vor dem Renteneintritt genauso seine prozentualen Sozialbeiträge wie ein 20jähriger, obwohl er sein Großvater sein könnte. Beide trennt der Altersabstand, aber als Lohnabhängige eint sie dieselbe Klassenlage, lebenslang ihre Arbeitskraft an jemand verkaufen zu müssen, der sie gebrauchen kann. Das Gerede vom „Generationenkonflikt" oder „Generationengerechtigkeit" beabsichtigt, gemeinsame Klasseninteressen Jüngerer wie älterer lohnabhängig Beschäftigter in Abrede zu stellen und soll im Ansatz die Tierausbildung von Klassenbewusstsein derjenigen verhindern, die durch Verdrängung oder Ablenkung über ihre Klassenlage nicht nachdenken. Der Köder der geminderten „Abgabenlast" meint „Befreiung" vom Sozialstaat, führt jedoch entweder in die Geiselhaft der Versicherungskonzerne oder kurz über lang in die absolute Verelendung. (HDH)
Online-Flyer Nr. 218 vom 07.10.2009
Druckversion
Arbeit und Soziales
„Generationengerechtigkeit“ als Kampfbegriff von oben
Demagogie gegen den Sozialstaat
Von Hubert Zaremba
Rentenerhöhungen, so Karl Heinz Däke, Präsident des Steuerzahlerbundes (richtiger: Bund der Steuer zahlenden Unternehmer), seien langfristig Fehler, „die für spätere Generationen sehr teuer werden" (Welt am Sonntag, 12.08.09). Ex-SPD–Kanzlerkandidat Steinmeier pflichtet ihm bei, „dass wir immer auch die Frage der Generationengerechtigkeit im Auge behalten müssen". Da will dann auch die Spitzenkandidatin der „Grünen", Renate Künast, nicht abseits stehen: „Union und SPD veräppeln die jüngere Generation. Sie haben einseitig eine Generation bedient und hinterlassen den Jüngeren die höchsten Schulden seit 60 Jahren".
Gewiss betragen die Zuschüsse in die Sozialsysteme aus dem Bundeshaushalt derzeit ca. 110 Milliarden Euro, davon allein 80 Mrd. für die Rentenversicherung. Aber ohne diese Zuschüsse aus dem allgemeinen Steueraufkommen müssten dann bei aktueller Leistungsgewährung entsprechend höhere Beitrage eingetrieben werden. Dies hieße weitaus höhere Lohnzahlungen für die Unternehmer und würde den Trend der Verteilungsverhältnisse ins Gegenteil verkehren: Statt einer inzwischen unter zwei Drittel des Volkseinkommens gesunkenen Bruttolohnquote würden die Einkommen aus Kapital– und Vermögensbesitz entsprechend schrumpfen.
Umverteilt: Unternehmergewinne statt Bruttolöhne
Die Brutto Unternehmens– und Vermögenseinkommen von ca. 642 Mrd. Euro 2007 reduzierten sich auf eine Größe von „nur" über 500 Mrd. Euro. Soviel „verdiente" man dort im Jahre 2004 (513,790 Mrd. Euro)! Seltsamerweise wird öffentlich nie die Frage gestellt, wieso diese Zuwächse bei den Unternehmens– und Vermögenseinkommen eintreten (gesamtdeutsch anfänglich der 1990er Jahre bei 350 Mrd. Euro), wo doch die Zahl der Erwerbspersonen seitdem bei 40 Millionen Erwerbspersonen eher stagnierte und nur durch die Ausweitung der Teilzeitarbeit von Frauen auf 41 Millionen im letzten Jahrzehnt anwuchs. Zumal das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen nach 1991 von etwas mehr als 59 Mrd. Arbeitsstunden jährlich auf 57 Mrd. im Jahre 2007 absank. Deutlich wird: Weniger Beschäftigte oder ein geringeres gesellschaftliches Arbeitsaufkommen bedingen nicht einen Rückgang des gesamten Volkseinkommens, ja gesellschaftlichen Reichtums. Gemessen am Rückgang der Beschäftigten in der Land– und Forstwirtschart (BRD–West 1960: 3,6 Mio./1970:2,2 Mio./1991: 1,0 Mio., gesamtdeutsch 1991: 1,5 Mio.) dürften manche Gesundheitsprobleme durch Über– oder Fehlernährung nicht auftreten. 2007 arbeiteten in dieser Branche noch 850.100 Erwerbstätige.
Sieht so nach Protesten...
Aus einer stagnierenden oder in Zukunft dann abnehmenden Erwerbstätigenzahl mit einem Nettoverdienst von annähernd der Hälfte des Bruttoeinkommens lassen sich allerdings bei geringeren finanziellen Spielräumen Beiträge für private Versicherungsverträge nicht so leicht abzweigen. In Anbetracht eingetretener Reallohnverluste von bis zu zehn Prozent seit 2004 flachen auch die Beitragseinnahmen der deutschen Versicherungswirtschaft ab. Von 2006 bis 2008 stiegen die Beitragseinnahmen von 161,9 Mrd. auf 165,3Mrd. Euro an. Vier Jahre vorher, ab 2004 flossen aber nach 152,2 Mrd. Euro bis 2006 fast zehn Milliarden, das Dreifache, in die Versicherungskassen. Selbst nach überwundener Krise werden bescheidene Wachstumsraten und ausbleibende tarifliche Kampfkraft den Lohnfonds der Lohnabhängigen nicht ausweiten. Dies ist in Rechnung zu stellen, wenn einer der führenden Lobbyisten der Versicherungswirtschaft, Professor Bernd Raffelhüschen vom Forschungszentrum für Generationenverträge der Universität Freiburg, in der Süddeutschen Zeitung vom 16. Juli 2009 verkündet: „Wir können den Sozialstaat in seiner jetzigen Form nicht erhalten, weil uns die Steuerzahler und Beitragszahler aufgrund der sinkenden Geburtenzahlen wegbrechen." Er meint: „Wir" – die herrschende Klasse und ihre Propagandisten, wozu er gehört – wollen nicht mehr allein nur soviel Lohn und Gehalt zahlen, damit der Sozialstaat in seinen jetzt bereits arg angeknacksten Pfeilern Bestand behält.
Getäuscht: „Mehr Netto vom Brutto"
Durch Einbehalt von Lohnanteilen und Umschleusung bisheriger Nettolohnanteile auf die Konten der Versicherungskonzerne, sollen Leistungsausfälle der gesetzlichen Versicherung kompensiert werden. Sofern die Höhe des individuellen Lohnes das noch hergibt. Das ist der Sinn hinter dem Spruch vom „mehr Netto vom Brutto". Das Vorstandsmitglied der Fondsgesellschaft Union Investment, Hans Joachim Reinke, erklärt hierzu in der FAZ vom 06.08.2009: „74,7 Prozent der Rentenbezieher wären ohne eine zusätzliche Altersversorgung unterversorgt". Diese Erkenntnis gewinnt er aus einer Untersuchung zu regional unterschiedlich erwartbaren Einkommenslücken nach dem Erwerbsleben, vorgenommen von wem? Dem Professor Bernd Raffelhüschen und seinem Forschungszentrum für Generationenverträge in Freiburg. „Die Versorgung misst Raffelhüschen an der Ersatzquote, die sich aus dem Verhältnis zwischen der Rente und dem letzten Einkommen ergibt. Eine Unterversorgung liegt demnach vor, wenn die Ersatzquote unter 60 Prozent: fällt, wie dies im überwiegenden Teil Deutschlands der Fall ist. (...) Besonders die Jüngeren weisen hohe Unterversorgungslücken auf, zitiert der FAZ–Artikel und führt weiter aus, „die heutigen Beitragszahler müssen größere eigene Anstrengungen unternehmen. Viele haben gar nicht mehr das Geld, um privat Vorsorge zu treffen“, sagt Reincke. .Dennoch werden wir an dieser Stelle nicht locker lassen". Im Herbst will Union Investment eine Vertriebsoffensive für Riester–Verträge starten." Weitere Versicherer werden es ihnen gleichtun.
Das düstere Zukunftsszenario eines aufgrund abnehmender Bevölkerungszahlen zusammenbrechenden Sozialstaates erweist sich bei näherem Hinsehen als von den bürgerlichen Parteien begünstigter interessegeleiteter Zugriff des Finanzkapitals auf bislang gesellschaftlich verwaltete und unmittelbar umverteilte Anteile der Lohnsumme der abhängig Beschäftigten unter ihresgleichen. Die simple Gleichung weniger Beitragszahler gleich weniger Sozialstaat hofft umso mehr auf die gewünschte einschüchternde Wirkung, weil die positiven Folgen einer geringeren Bevölkerung, von der neunzig Prozent auf Lohnarbeit angewiesen sind, von der gesellschaftlichen Linken überhaupt nicht thematisiert und offensiv in die Debatte gebracht werden. Tatsache ist: Das Bundesamt für Statistik prognostiziert für das Jahr 2050 einen Rückgang der Bevölkerung in Deutschland von heute 82 Millionen auf 68,7 bis 74 Millionen.
...demnächst die Rente aus?
Fotos: arbeiterfotografie.com
Eine UN–Prognose setzt bis dahin auf 70,5 Millionen. Allein die Schwankungsbreite zeigt: Das Geburtenregister von heute kann schon keine genauen Angaben mehr darüber machen, wie viel Kinder die Kinder von heute in die Welt setzen. Was sonst bis dahin noch passiert, ist noch unsicherer. Gesellschaftliche Entwicklung vollzieht sich nicht geradlinig, sondern eher im Zickzack, vertikal wie horizontal. Selbst die konjunkturelle Lage, die Beschäftigungssituation, das gesellschaftliche Klima im nächsten Jahr genau zu bestimmen, ist unwägbar. Doch nur einige Aspekte einer abnehmenden Bevölkerungszahl wenigstens in unseren Breitengraden verweisen auf eher bessere Zukunftschancen jüngerer Menschen. Die Konkurrenz um knappe Arbeitsstellen nähme ab oder wäre gemindert. Die Belastung der hiesigen Biosphäre durch weniger Ressourcenverbrauch träte ein. Wer hat bei kapitalistischer Produktionsweise Nutzen von überschüssigen Arbeitskräften, knappem Wohnraum, überlasteten und verstopften Verkehrswegen und wachsendem Energieverbrauch?
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Deutschland erreichte 2007 eine nominelle Größe von 2,4 Billionen Euro. Der gesamten Bevölkerung floss daraus ein Volkseinkommen von 1,82 Billionen Euro zu, aufgeteilt in rund 642 Milliarden Euro als Unternehmens– und Vermögenseinkommen und 1,18 Billionen Euro des sogenannten Bruttoarbeitnehmerentgelts. Innerhalb dieser Summe fließen derzeit rund 235 Milliarden Euro jährlich an etwa zwanzig Millionen vormalige Lohnempfänger. Im Schnitt gehen lohnabhängig Beschäftigte momentan mit 63 Jahren auf Rentenbezug. Ihre laufenden Rentenzahlungen erfordern monatlich die Bereitstellung von ca. 20 Milliarden Euro. Diese Summen aufzubringen, hängt jedoch nicht von der Bevölkerungszahl ab, sondern vom politischen Willen derjenigen, die per Gesetzgebung die Rentenhöhe und die per Beitragshöhe nötigen Zuflüsse aus der gesamten Lohnsumme definieren. Die Lohnsumme steigt mit der Höhe der Beiträge, was wiederum bei niedrigeren Wachstumsraten die erwarteten Unternehmens- und Vermögenseinkommen schmälert.
Das gleichzeitig der Anstieg der Produktivität pro Beschäftigtem fortschreitet (seit 1960 von 40,5 auf 129,9 in 2007 je Arbeitsstunde), ihnen aber nur relativ zugute kommt, belegt der enorme Zuwachs der Unternehmens- und Vermögenseinkommen, der sich seit 1991 von 346 Mrd. auf 642 Mrd. Euro fast verdoppelt hat (siehe oben). „Das Problem ist, dass der wirtschaftliche Erfolg der Steigerung der Produktivität sich ich immer zunächst in den Unternehmen durch verbesserte Gewinne niederschlägt. Erst durch höhere Löhne und Gehälter sowie über entsprechend höhere Steuerzahlungen der Unternehmen fließen die Produktivitätsgewinne auch der breiten Bevölkerung zu. Nur wenn es gelingt, den Unternehmen einen hinreichenden Anteil der Gewinnsteigerungen abzutrotzen, geht die Rechnung für steigenden Wohlstand für alle und zur Losung der demografischen Entwicklung auf.“ (M. Schlecht im Gewerkschaftsjahrbuch 2004/05, S. 38).
Ausgespielt: Alte gegen Junge
Vorrangig geht es also gar nicht darum, welche Anteile die Lohnarbeiterklasse unter sich zur Finanzierung des Sozialstaats aus ihrem Anteil am Volkseinkommen umverteilt, sondern die gesamte Lohnquote soll zugunsten der Unternehmens- und Vermögensquote weiter sinken. Dieses heimliche Ziel weiter zu forcieren, dazu dient die Agenda 2010 und weiterführende Pläne. 1981 erlangten Lohnabhängige und Rentner in der BRD–West, immerhin bald neunzig Prozent der Bevölkerung, noch 73,6 Prozent vom Volkseinkommen. Insbesondere durch lohn- und steuerbasierte Transferleistungen (Arbeitslosenhilfe) ins Gebiet der Ex-DDR ergab sich im Jahre 2000 eine gesamtdeutsche Bruttolohnquote von 72,2 Prozent. Bis 2007 gelang das Abschmelzen der Bruttoeinkommen aus unselbständiger Arbeit auf 64,8 Prozent. Deutlich wird: Nicht die Kopfzahl bestimmt die Verteilung, sondern gesellschaftliche Machtpositionen. Das kommt in der Fähigkeit zur Geltung, jeweilige Interessenlagen bewusst und zielstrebig umzusetzen. Das Interesse der Unternehmer- und Vermögensbesitzerklasse, möglichst viel vom jährlichen Gesamtprodukt an sich zu ziehen, schlägt durch auf die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme, weil sie größtenteils aus Lohnbestandteilen der abhängig Beschäftigten über Sozialbeiträge und Massensteuern erfolgt. Davon soll abgelenkt werden, wenn man einer „Jungen Generation“ erzählt, die „Alten" würden sie „ausbeuten".
Ein 64jähriger Beschäftigter, sofern er dieses Berufsalter halbwegs gesund erreicht, zahlt mit seinen letzten Monatslöhnen vor dem Renteneintritt genauso seine prozentualen Sozialbeiträge wie ein 20jähriger, obwohl er sein Großvater sein könnte. Beide trennt der Altersabstand, aber als Lohnabhängige eint sie dieselbe Klassenlage, lebenslang ihre Arbeitskraft an jemand verkaufen zu müssen, der sie gebrauchen kann. Das Gerede vom „Generationenkonflikt" oder „Generationengerechtigkeit" beabsichtigt, gemeinsame Klasseninteressen Jüngerer wie älterer lohnabhängig Beschäftigter in Abrede zu stellen und soll im Ansatz die Tierausbildung von Klassenbewusstsein derjenigen verhindern, die durch Verdrängung oder Ablenkung über ihre Klassenlage nicht nachdenken. Der Köder der geminderten „Abgabenlast" meint „Befreiung" vom Sozialstaat, führt jedoch entweder in die Geiselhaft der Versicherungskonzerne oder kurz über lang in die absolute Verelendung. (HDH)
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