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Kultur und Wissen
Rammstein: „Liebe ist für alle da“ wurde indiziert
Ein Zensur-Präzedenzfall
Von Gerrit Wustmann

Ab dem heutigen Mittwoch ist das neue Album der Berliner Rockband Rammstein rechtskräftig indiziert. Flake Lorenz, Keyboarder der Band, wirft der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien ein „kleinbürgerliches Kunstverständnis“ vor. Die Begründung der angeblichen Jugendgefährdung ist bei näherer Betrachtung reichlich absurd.

Rammstein war von Anbeginn, von der Veröffentlichung des Debüts „Herzeleid“ (1994) an eine Band, die polarisierte, und der es erstaunlicherweise immer wieder gelang, sich mit Provokation ins Gespräch zu bringen. Dass es an der Provokation allein nicht liegen kann, dass Rammstein heute die weltweit erfolgreichste deutschsprachige Rockband ist, versteht sich von selbst. Die Truppe aus Berlin, die ihre ersten musikalischen Erfahrungen in DDR-Punkbands wie First Arsch und Feeling B sammelte, schafft es einerseits, sich immer neu zu erfinden und dennoch ihrem Grundstil – einem Mix aus brachialem Industrialrock, melancholisch-düsterer Lyrik und Popmelodien – treu zu bleiben. Rammstein-Konzerte sind ganz ganz großes Rockkino.

Die Skandale und Skandälchen um die Band waren mannigfaltig. Das Leni-Riefenstahl-Video zum Cover von „Stripped“ (Depeche Mode) sorgte in den 90ern für einen Aufschrei in der Medienlandschaft, ebenso wie das in Formaldehyd schwimmende Embryo auf dem Cover des Albums „Mutter“ (2001) oder der Song „Mein Teil“ vom Album „Reise, Reise“ (2004), der auf Armin Meiwes, den „Kannibalen von Rothenburg“, anspielt. Im Grunde aber ist lediglich immer wieder das PR-Konzept der Band aufgegangen, indem die Presse willig den zugespielten Ball annahm. Was weniger ein Thema war, war der musikalische Einfallsreichtum, der Rammstein bis heute von ähnlichen Bands abhebt, und der lyrische Tiefgang von Sänger und Texter Till Lindemann. 


Liebe ist für alle da - Albumcover

Mit einer Indizierung hätte wohl keiner gerechnet. „Liebe ist für alle da“ erschien nach vier Jahren Pause am 16. Oktober, nachdem der Song „Pussy“ (eine Persiflage auf den deutschen Sextourismus) samt Hardcore-Videoclip für einige Aufmerksamkeit gesorgt hatte. Das Album wurde von den Fans durchaus kritisch aufgenommen. Neben Jubel gab es auch verhaltenere Töne zu hören. Mediale Kontroversen, wie zuletzt 2004 um „Mein Teil“ gab es ebenfalls nicht mehr. Die Scheibe wurde in allen Feuilletons sachlich und wohlwollend besprochen, alles ohne große Aufregung. Es schien, als seien Rammstein in der Akzeptanz der bundesdeutschen Kulturmaschine angekommen – bis zum vergangenen Donnerstag. Da verlautete das von Ursula von der Leyen geführte Bundesfamilienministerium die Indizierung durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien – mit einer reichlich kruden Begründung. Der Song „Ich tu dir weh“ verherrliche Sado-Maso-Praktiken, dasselbe gelte für ein Bild im Artwork des Albums, das Gitarrist Richard Kruspe mit einer übers Knie gelegten nackten Frau zeigt. Zudem animiere der Song „Pussy“ zu ungeschütztem Geschlechtsverkehr. Die Band zeigte sich „bestürzt“. So sieht also Jugendschutz anno 2009 aus.

Leider dürfen die betreffenden Texte hier nicht mehr wiedergegeben werden. Ansonsten ließe sich die Frage stellen, wie jemand von völlig comichafter Überzeichnung auf eine Jugendgefährdung schließen kann. Filmfans kennen ihn schon lange - den Ärger über die oft abstruse Verstümmelung von Medien, nun erleben ihn auch die Musikfans seit langer Zeit zum ersten Mal. Das vorliegende Beispiel ist deshalb besonders, weil es die Willkür der Zensur offenbart, die unter dem Namen Jugendschutz firmiert. Würde man ernsthaft die Kriterien, denen „Liebe ist für alle da“ zum Opfer fiel, auf breiter Basis anwenden – 80% der Popmusik und auch der Literatur stünden unmittelbar auf dem Index. Zum anderen liegt hier ein Fall vor, den es in der Geschichte der BPjM (bzw. des Vorgängerorgans BPjS) noch nicht gegeben hat: Es wird ein Medium indiziert, das die Spitzen der Hitparaden anführt. Das ist ein größeres Problem, als man annehmen mag. Eine Indizierung bedeutet kein Verbot, kommt aber einem Verbot gleich. Ab heute ist das Album nur noch unter dem Ladentisch zu haben. Es darf nicht mehr beworben und nicht mehr offen ausgestellt werden. Für eine Band, die weniger erfolgreich als Rammstein ist, kann so etwas schnell den finanziellen Ruin bedeuten, und auch an Rammstein wird die Indizierung nicht spurlos vorübergehen. Amazon hat alle Versionen der CD bereits am Montag aus dem Programm genommen, die großen Elektronikmarktketten dürfen indizierte Medien grundsätzlich nicht führen.

Rammstein kündigten eine „Neue Version“ des Albums an, die am 30. November erscheinen soll – mutmaßlich einen Song kürzer und ohne das beanstandete Artwork. Von Seiten der Band ist dieser Schritt verständlich. Den nicht beanstandeten Teil will man der Öffentlichkeit weiterhin zugänglich machen. Andererseits bedeutet er auch eine Selbstzensur und eine gewisse Resignation vor dem staatlichen Eingriff in die Kunstfreiheit.

Welche Konsequenzen all das für die soeben begonnene Tournee bedeutet, ist noch unklar. Rammstein spielen am 30. November in der LanxessArena.

(GW)

Online-Flyer Nr. 223  vom 11.11.2009

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