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Sport
Kommentar zum Tod von Robert Enke und projizierter Trauer
„No time for losers…?!“
Von Claus Hübner

Robert Enke, der 32jährige Torhüter von Hannover 96 beging am 10. November Suizid. Enke hatte Depressionen, eine in Deutschland bisher nie gekannte Welle der Betroffenheit und Trauer über diesen tra­gischen Tod brach sich ihre Bahn. Es ist die bisher größte Demonstration von Trauer im Land, seit des Tods von Adenauer, und sie ist nicht organisiert oder angeordnet, sie ist echt.

Robert Enke im Tor von Hannover 96 Foto: Ina96
Robert Enke im Tor von Hannover 96                 
Foto: Ina96
Robert Enke war der Sohn eines erfolgreichen Sportlerehepaares aus Jena und auf Grund sei­ner bodenständigen Art und Bescheidenheit einer der beliebtesten Profifußballer in Deutsch­land. In den wenigen Interviews in den Medien sagte er oft kluge Sachen; der Mann hatte Erfolg und hätte vom Potential her bei berühmteren und erfolgreicheren Klubs als Hannover 96 anheuern können. Bei seiner Beerdigung sagte ein Anwesender: „So einen wie ihn wünscht sich jeder als Freund!“ So war es wohl. Ich habe noch nie zuvor im Fernsehen so viele Erwachsene und Jugendli­che quer durch alle Altersgruppen weinen gesehen.

Enke war kein eitler Selbstdarsteller und erschien relativ selten in den Medien[1]. Aber wie erklärt sich das Phänomen dieser enormen und spontanen Betroffenheit und Trauer der Menschen quer durch die Republik? Und das auch bei solchen, die nicht unbedingt zu den eingefleischten Fußballfans zählen?

So traurig der Tod von Robert Enke ist und so leid mir seine offensichtlich fürsorgliche Ehefrau und seine Familie tut, erklärt sich mir doch nicht auf Anhieb die deutschlandweite Trauer über die tragische Geschichte. Warum schämt man sich nicht wie sonst oft seiner Tränen? Antworten auf die Frage können wir wohl nur finden, wenn wir versuchen, uns psychologisch dem Phänomen der Massentrauer anzunähern.

Ein Meer von Grablichtern an Trauerstelle vor dem Stadion | Foto: Axel HH
Ein Meer von Grablichtern an Trauerstelle vor dem Stadion | Foto: Axel HH

Wenn Depression mittlerweile eine Volkskrankheit ist, war Robert Enke einer von vie­len. Enke wusste von seiner Krankheit und ließ sich behandeln; viele zehn­tausend Menschen in Deutschland sind depressiv, wissen es aber nicht. Und wenn sie es ahnen, verdrängen sie es angstvoll und schämen sich. Depressive Menschen sind sensibel und meist mitfühlend, auch wenn sie selbst oft keinen besonders guten Kontakt zu ihrer eigenen Gefühlswelt haben.

Viele Menschen in Deutschland trau­ern um den Torwart und merken dabei meist nicht, dass sie sich vielleicht selbst betrauern. Sie spüren die emotionale Nähe zu dem Verstorbenen, weil sie sich diffus in mehr­facher Hinsicht mit ihm identifizieren und sich in ihm mit ihren eigenen Gefühlen und Ängsten wiederfinden – was noch dadurch erleichtert wird, dass Enke als Fußballer ein sehr sympathischer Zeitgenosse war. Dieses „sich selbst wie­derfinden“ geschieht nicht unbedingt bewusst; doch die Menschen spüren ihre Trauer und sie leben sie aus. Enkes trauriger und schrecklicher Tod gibt ihnen das Ventil, ihre verinnerlichte Trauer zu zeigen, und sie „erlauben“ sich selbst, zu weinen.

Das „leistet“ Hartz IV... Foto: T-M-Mueller, pixelio.de, Bearbeitung: C. Heinrici
Das „leistet“ Hartz IV... | Foto: T-M-Mueller,
pixelio.de, Bearbeitung: Christian Heinrici
Die Menschen in Deutschland leben seit über 25 Jahren in einer wirtschaftlichen und so­zialen Krise. Das gilt für alle Teile der Republik, Ost wie West. Seit Jahren wer­den trotz in der Krise steigender Gewinne in allen Bereichen Arbeits­plätze abgebaut, die sozialen Errungenschaften ohne Not reduziert. Der Staat wird immer mehr als Kostenstelle eines Betriebes betrachtet und nicht als Schutz für seine Bürger. Begriffe wie Solidarität werden umgedeutet, so dass So­lidarität heute mit der Frage, was man denn jetzt schon wieder bezahlen muss, verbunden wird. Die Arbeitslosenzahlen steigen immer weiter, und erstmalig haben viele Kinder in Deutschland, einem der reichsten Länder der Welt, nicht mehr genug zu essen. Hierüber regen sich die Politiker genauso wenig auf, wie darüber, dass Löhne von 3,50 bis 5,50 Euro längst nicht mehr die Ausnahme sind. In Köln ist jeder vierte Taxifahrer Akademiker, und die Tafeln in Deutschland versuchen mit kostenlosen Lebensmittelausgaben die Not zu mildern, die die Politiker mit ihrer unsozialen Politik, wie durch Hartz IV verursacht haben.

Depression und Depressionen: auch „Supermänner“ sind nicht gefeit Foto: Paul-Georg-Meister, pixelio
Depression und Depressionen: auch                
vermeintliche „Supermänner“ sind nicht
gefeit | Foto: Paul-Georg-Meister,
pixelio.de
Überall haben die Menschen Angst um ihren Arbeitsplatz und leben in einer Atmosphäre der sozialen Kälte, während die Banken ihren Spitzenangestellten schon wieder pervers hohe Boni zahlen. Die Politik schaut zu und plant weitere „Entlas­tungen der Wirtschaft“. Ein Ende der Drangsalierungen und der unsozialen Politik ist nicht abzusehen. Die meisten Menschen in Deutschland empfinden sich mit ihren Bedürfnissen und Wünschen nicht wahrgenommen und werden immer verbitterter. Dies alles geht nicht spurlos an uns allen vorbei und hinterlässt bei den meisten eine absolute Rat- und Hilflosigkeit. Darüber zu reden, verbietet den meisten Menschen ihre eigene Scham: Sie wollen nicht als schwach gelten. Sie verdrängen ihre Gefühle und versuchen sie zu kompensieren. Man muss von all dem nicht unbe­dingt depressiv werden, aber auch die einfachsten Menschen spüren, dass etwas an der eigenen und der Gesamtsituation nicht stimmt.

Und wenn dann eine Identifikationsfigur wie Robert Enke, der in der ganzen Republik gefeiert und geachtet wird, ein freundlicher Sympathieträger, der sich in seiner Freizeit für Kinder und Tierschutz einsetzt und offensichtlich eine liebe- und verständnis­volle Ehefrau hat, dem es eigentlich an nichts fehlt, von seinen Depressionen in den Tod getrieben wird, dann ist es wohl für viele Menschen ebenfalls ein Anlass, die eigene, persönliche Traurigkeit zu zeigen. Nach außen trauern sie um einen lieben und netten Kerl, der seine Krankheit nicht überwinden konnte, aber tief innen weint wohl mancher um sich selbst und um die eigene trostlose Situation. Bei einem weniger erfolgreichen Spieler, beispielsweise aus der 2. Liga, wäre die Trauer mit Sicherheit regional und sehr begrenzt gewesen.

Trauerfeier im Stadion von Hannover 96 | Foto: Nifoto
Trauerfeier im Stadion von Hannover 96 | Foto: Nifoto

Aber da Enke eigentlich alles hatte, was einen „erfolgreichen Mann“ auszeichnet – Sympathie der Massen, Geld, Haus, Ehefrau und berufliche Perspektiven und Erfolg – und nicht etwa dem Klischee des Gescheiterten ent­sprach, löst gerade das bei vielen Menschen eine verstärkte Trauer, wohl auch über die eigene, anschei­nend „ausweglose“ Situation aus.

Möglicherweise genügt dieser Versuch der Interpretation einer Massentrauer in Deutsch­land nicht unbedingt wissenschaftlichem Standard, aber aus meiner Sicht zeigen die Reaktionen den momentanen emotionalen Zustand großer Teile der Bevölkerung in diesem Land. Sie fühlen sich allein gelassen und wissen nicht wo­hin mit sich und ihren Gefühlen.

Sollte diese Tatsache weiterhin ignoriert werden, wird sie sich in absehba­rer Zukunft gesellschaftlich und politisch auswirken, wenn sich die Situa­tion grundsätzlich nicht ändert. (CH)

[1] Anm. d. Red.:
bis zu seinem Tod

Online-Flyer Nr. 224  vom 18.11.2009

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