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Arbeit und Soziales
60 Jahre DGB in Köln - und morgen?
Wie die Wirtschaft in zehn Jahren aussehen könnte
Stefan Biskamp
Sehr geehrte Damen und Herren,
versetzen wir uns zehn Jahre in die Zukunft. Könnten Sie sich diese Nachrichten in der Tagesschau des 22. November 2019 vorstellen:
„Guten Abend, meine Damen und Herren,
bei bundesweiten Demonstrationen von Investmentbankern, Private-Equity- und Hedge-Fonds-Managern kam es auch heute zu gewalttätigen Ausschreitungen. Einige Investmentbanker warfen die Fenster einer Sozialstation mit ihren Blackberrys ein und verwüsteten mit ihren Rollkoffern das Rübenfeld eines Biobauern. Investmentbanker demonstrieren seit Wochen gegen die Einführung eines verpflichtenden Sozialen Jahres für ihren Berufsstand. Das Pflichtjahr sei diskriminierend, würde die Wettbewerbsfähigkeit des Finanzplatzes Deutschland gefährden und einen halben Prozentpunkt Wirtschaftswachstum kosten, sagte ein Verbandssprecher. Ein Sprecher der Bundesregierung nannte das, so wörtlich, lachhaft.
Berlin – Die Bundesregierung plant eine radikale Steuerreform unter dem Motto „Wir besteuern, was uns schadet, nicht was uns nützt“.
Die Lohnsteuer wird demnach genauso abgeschafft wie die Mehrwertsteuer und durch eine Minderwertsteuer ersetzt. Statt Arbeit und Wertschöpfung wird künftig die Ausbeutung von Ressourcen besteuert.
Die Bundesregierung gibt zudem dem Druck der Gewerkschaften nach und plant die Einführung von flächendeckenden Höchstlöhnen; sie dürfen nur um einen Faktor drei über den Mindestlöhnen liegen. Ein Regierungssprecher sagte: „Zu hohe Gehälter sind gesellschaftlich und volkswirtschaftlich genauso schädlich wie zu niedrige.“
München – das ifo-Institut berichtet, der Happiness-Index habe in Deutschland im Oktober um 2,4 Punkte auf 87,3 Punkte zugelegt. Allerdings sei das Zufriedenheitswachstum in den glücklicheren Ländern Afrikas und Südamerikas nach wie vor höher. Halte der Trend an, sei eine Auswanderungswelle in den Süden zu befürchten. Das Beispiel des früheren Bundesaußenministers Guido Westerwelle, der heute in einer Kommune biodynamischer Reisbauern auf Madagaskar lebt, könne Schule machen.
Und nun die Wettervorhersage für Samstag, den 23. November. Wir melden uns wieder mit den Tagesthemen um 22:30. Darin: Oskar-Flut für die deutschen Filme „Ganz unten - Mein Leben als Investmentbanker“ und „Der letzte Spekulant“.
Das geht vielleicht doch eine Spur zu weit und klingt absurd. Aber warum eigentlich? Wirklich absurd, und gelinde gesagt leicht widersprüchlich, ist viel eher die Art und Weise, wie wir heute wirtschaften. Zum einen hat der Staat seit der Pleite von Lehmann Brothers im Herbst 2008 keine Großbank mehr fallen gelassen. Allein die Hypo Real Estate bekam Staatshilfe in Höhe von mehr als 100 Milliarden Euro. Hier feiert das Solidarprinzip fröhliche Urständ, und der Staat setzt den Markt außer Kraft. Zum anderen gilt das Solidarprinzip im Gesundheitswesen als nicht mehr finanzierbar. Die Lösung sind Eigeninitiative und Selbstverantwortung der Versicherten und Wettbewerb unter den Versicherungen; der Markt soll es richten.
Zum einen gibt es gute Argumente dafür, dass der Staat Banken wie die Hypo Real Estate nicht hätte retten müssen. Doch das – mutmaßlich geringe – Risiko einer Kettenreaktion wollte der Staat nicht eingehen.
Zum anderen gibt es gute Argumente dafür, dass ein Klimachaos unsere gesamte Zivilisation in ihrer Existenz bedroht. Wie wahrscheinlich der Eintritt dieses ungleich größeren Schadensfalls ist, können wir genauso wenig ausrechnen wie das Risiko einer Kettenreaktion im Bankensektor. Aber das Risiko eines Klimachaos gehen die Regierungen weltweit ein.
Ob wir uns vom Irrsinn lösen können, ist entscheidend für die Frage...
Quelle: World Future Council
Zum einen haben die Notenbanken in großem Stil Geld gedruckt, um die Liquiditätsnot von Wirtschaft und Bankensektor zu lindern; allein die Federal Reserve in den USA bislang 1,4 Billionen Dollar. Zum anderen droht der Weltklimagipfel in Kopenhagen in wenigen Wochen an einer Liquiditätslücke vergleichbarer Größenordnung zu scheitern. Dabei geht es vor allem um 110 Milliarden jährlich zur Unterstützung für die Entwicklungsländer bis 2020. Aber um diese Liquiditätsnot zu lindern, drucken die Zentralbanken kein Geld.
Absurd genug, doch das sind nur Symptome grundlegender Widersprüche. Der erste Widerspruch: Wir können unseren Kindern zwar haufenweise immer billigeres Plastikspielzeug aus Fernost zu Weihnachten schenken (was of nicht ganz ungefährlich ist). Aber teureres können sich auch immer weniger Bürger leisten wenn sie sich – statt mit vernünftig bezahlter Arbeit in der Produktion – mit 1-Euro-Jobs bei der Spargelernte oder in der kommunalen Gartenpflege über Wasser halten müssen. Das rein exportgetriebene Wachstum schiebt Jobs dorthin ab, wo Arbeit am billigsten ist. Der Anteil von Löhnen am Volkseinkommen sank in Deutschland zwischen1999 und 2007 von 72 Prozent auf 64 Prozent, und zwar zugunsten des Unternehmens- und Vermögensanteils.
Sicher: Eine Industrienation wie Deutschland wird immer ein Exportland bleiben; die Frage ist nur, wie hoch der Exportanteil sein muss. Wenn alle Volkswirtschaften nur versuchen, den anderen Absatz abzujagen, dann ist das für sie unter dem Strich ein Nullsummenspiel. Für die meisten Menschen ist der globale Verdrängungswettbewerb sogar ein Minusgeschäft. Er führt zu hoher Arbeitslosigkeit in Europa, Minderwertarbeit in den USA, grobem Verschleiß an Menschen in der übrigen Welt (von der Natur gar nicht zu reden) – und er produziert nicht zum ersten Mal eine weltweite Finanzkrise. In diesem Wettlauf nach unten werden Arbeitnehmerrechte, hohe soziale und ökologische Standards zu Wachstumsbremsen. Sie gefährden Arbeitsplätze – aber nur die Arbeitsplätze, die das rein exportgetriebene Wachstum ohnehin vernichtet.
Die Jagd nach immer billigeren Produktionsstandorten schafft Überproduktion und vernichtet Kaufkraft. Immer weniger Kaufkraft jagt immer mehr Produkte. Deflation ist auf lange Sicht das Problem, nicht Inflation. Heute schon wieder vor Inflation zu warnen (und Lohnzurückhaltung anzumahnen), grenzt an Propaganda.
Der zweite Widerspruch ist, dass der Wachstumsdruck auf die reale Wirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten rapide zugenommen hat – aber nicht das globale Wachstum. Das weltweite Wirtschaftswachstum lag in den 70er Jahren bei über vier Prozent; in den 90er Jahren bei nur mehr knapp der Hälfte. Der Wachstumsdruck ergibt sich aus der Dominanz des Finanz- und Bankensektors über die Realwirtschaft: Denn jede Investition in ein Unternehmen muss sich in Sachen Rendite an den Gewinnen messen, die sich innerhalb des Finanzsektors erzielen lassen. Und diese reinen Spekulationsgewinne liegen – zumindest bis die nächste Blase platzt – weit über denen der Realwirtschaft. Eigenkapitalrenditen von 25 Prozent, wie sie etwa die Deutsche Bank verspricht, können normale Unternehmen, die in einigermaßen fairem Wettbewerb stehen, kaum abliefern.
Der Wachstumsdruck wird zwar immer größer, aber die Wirtschaft kann ihm immer schlechter standhalten. Der dritte Widerspruch ist, dass diejenigen, die den Wachstumsdruck aufbauen – also Banken, Finanzinvestoren, Hedge-Fonds und andere institutionelle Investoren – die wahren Kosten dieses Wachstums gar nicht tragen müssen. Diese Kosten werden vergesellschaftet. Wer trägt die wahren Kosten von Bankenrettungen? Die Aktionäre der Hypo Real Estate? Nein, sie haben nur unter großem Protest und Gezeter ihr eingesetztes Kapital verloren. Wenn der Markt schon alles richten soll, dann müssen auch alle Kosten eingepreist sein. Die Akteure müssen dann auch die Verantwortung für die Risiken übernehmen, die sie eingehen, und zwar auch die sozialen und ökologischen Risiken. Das müssen sie heute nicht tun, die größten Schäden, die sie anrichten, trägt die Gesellschaft. Unternehmen, ihr Management und ihre Investoren dürfen die langfristigen Schäden ignorieren. So zählt für sie nur der maximale kurzfristige Gewinn. Das ist der Hauptgrund für die Kurzatmigkeit der Wirtschaft.
Die Gewerkschaften sind hier in einer besonders misslichen Lage. Denn die Betroffenen lassen sich perfide gegeneinander ausspielen: Die heimischen Arbeitnehmer gegen die in anderen Industrienationen und erst recht gegen die Kollegen in Entwicklungsländern; Arbeitnehmer einzelner Branchen und sogar Konzernsparten gegeneinander. Arbeitnehmer gegen Arbeitslose. Jeder nimmt hier jedem die Chance auf Arbeit. Arbeitnehmerinteressen lassen sich auch prima ausspielen gegen Umwelt- und Klimaschutz, die nur Wettbewerbsvorteile kosten. Und über allem schwebt die Drohung, dass Milliarden fleißiger und ehrgeiziger Chinesen für einen Bruchteil unserer Kosten die gleiche Arbeit tun. Dabei wandert die Billigproduktion längst von China ins noch billigere Vietnam ab.
...ob wir die Zukunft gewinnen können.
Quelle: geralt/cornerstone pixelio
Wie könnte also die Wirtschaft in zehn Jahren aussehen? Das kann ich Ihnen auch nicht sagen. Ich kann Ihnen nur sagen, wie ich sie mir wünsche. Und welche Rolle werden die Gewerkschaften auf dem Weg zu einer Vision 2019 spielen können.
1. Eine starke Binnennachfrage wird exportgetriebenes Wachstum als Paradigma abgelöst haben. Globale ökologische, Arbeitnehmer- und Sozialstandards gelten nicht mehr als Wachstumsbremse, sondern als Basis für alles Wirtschaften.
2. Die Wirtschaft hat die Balance zwischen Verantwortung und Risiko, Wachstum und Vorsorge wieder gefunden. Wachstum auf Kosten aller ist nicht mehr Voraussetzung für Wohlstand.
3. Der Finanzsektor ist auf das zurechtgestutzt, was er sein sollte: Ein Dienstleister für die reale Wirtschaft anstatt den Wachstumsdruck ständig zu erhöhen.
Konkret würde das zum Beispiel bedeuten:
• Flächendeckende Mindestlöhne und ein Grundeinkommen für alle sind in zehn Jahren global die Norm. Und auch darüber, dass zu hohe Gehälter gesellschaftlich ebenso schädlich sind wie Niedriglöhne, wird kaum noch jemand debattieren. Denn exzessive Gehälter und Boni schaffen Fehlanreize zu riskantem Handeln; sie fixieren das Bild vom Menschen als rücksichtslosem und von Gier getriebenem bloß auf materiellen Wohlstand dressiertem Homo Oeconomicus; sie zerstören gesellschaftlichen Zusammenhalt. Dass ein Vorstand mehr als 100mal so viel verdient wie ein Arbeiter, wird in zehn Jahren schlicht als unanständig gelten. Es wird Tabu sein. Leistung wird sich dann erst recht lohnen – aber nicht ausschließlich monetär.
• Reine Spekulationsgewinne wird es ebenfalls nicht mehr geben. Sich etwa durch Spekulation auf Nahrungsmittelpreise am Hunger anderer zu bereichern, wird als unanständig gelten. Es wird Tabu sein. Man wird mit dem Finger auf Spekulanten zeigen. Jene spekulativen Geschäfte, die tatsächlich noch der realen Wirtschaft dienen – also einen Mehrwert schaffen – werden, wie alle anderen Produkte und Dienstleistungen auch, mit einer Mehrwertsteuer belegt (wie sie als Börsen- oder Finanztransaktionssteuer heute, 2009, gerade diskutiert wird). Denn warum sollte beispielsweise der außerbörsliche Handel mit Derivaten oder die Spekulation auf Währungsschwankungen von der Mehrwertsteuer befreit sein? Schließlich wird der Finanzsektor nicht müde, den Nutzen (also den Mehrwert) zu betonen, den diese Produkte für die reale Wirtschaft angeblich hätten. Dann sollen sie auch Mehrwertsteuer dafür zahlen.
Allen anderen Spekulationsgeschäften wird – ähnlich wie der Zockerei in Spielhöllen – die Rechtsgrundlage entzogen. Niemand hindert Investoren dann am Zocken, aber sie können Spielschulden nicht einklagen.
(Das unterscheidet Zocken übrigens vom Roulette-Spiel in einem Casino. Das Finanzsystem von heute wird gerne Casinokapitalismus genannt. Das ist eine Verunglimpfung – nicht der Akteure im Finanzsektor, sondern der Casinos. Denn Casinos sind anständige Unternehmen. In vielen Ländern sind sie in Staatsbesitz; sie sind streng reguliert; und sie zahlen Steuern…)
Sollten sich auf den Finanzmärkten auch in zehn Jahren trotz Mehrwertsteuer und Tabuisierung noch spekulative Blasen bilden, schreiten die Zentralbanken ein. Sie bekämpfen die Aktien- oder Immobilienblasen gezielt und lassen rechtzeitig die Luft heraus. So verliert der Finanzsektor seine Dominanz.
• Das Steuersystem bedarf am Ende einer grundsätzlichen Reform. Statt vor allem Wertschöpfung und Arbeit zu besteuern, werden Ressourcenverbrauch, soziale und ökologische Schäden durch eine Minderwertsteuer bestraft. Wo Mehrwert geschaffen wird, sind die Steuern niedrig, wo mehr Schaden entsteht, hoch. Denn das Ökosystem, in dem wir leben und wirtschaften ist endlich.
In einem ersten Schritt werden Investoren von nachhaltig wirtschaftenden Unternehmen belohnt – und ganz oder teilweise von der Kapitalertragssteuer befreit. Stellen Sie sich eine Hauptversammlung der Deutschen Bank vor, auf der sich Aktionäre über die hohe Eigenkapitalrendite beschweren. Denn hätte die Bank mehr Kredite an nachhaltige Unternehmen vergeben, würde zwar weniger Gewinn abfallen – aber die Aktionäre müssten auf ihre Dividende weniger Steuern zahlen.
• Unternehmen werden eine soziale und ökologische Bilanz veröffentlichen. Unternehmen, die sich etwa per Subventionstourismus eine höhere Rendite ermogeln, werden sich in ihrer Sozialbilanz überschulden – und im Extremfall für sozial insolvent erklärt. Die Gesellschaft wird Unternehmen, die ihre sozialen Schulden nicht mehr zurückzahlen können, die Lizenz entziehen.
• Die Leistung einer Wirtschaft wird nicht mehr nur am Bruttoinlandsprodukt gemessen. Bei wirtschaftspolitischen Entscheidungen wird es um Lebensstandard, Zufriedenheit und Glück der Menschen gehen. Reines Wirtschaftswachstum ist nur ein Mittel zum Zweck; Fortschritt ist mehr als materielles Wachstum auf alle Kosten.
Auf dem Weg in diese Richtung spielen die Gewerkschaften nicht nur die Rolle eines ökonomischen Korrektivs des unvollkommenen Arbeitsmarktes oder einer modernen Servicegesellschaft für ihre Mitglieder. Sondern sie sind einer der wichtigsten politischen Akteure.
Es ist Aufgabe der Gewerkschaften, Politik und Öffentlichkeit klar zu machen, dass es für die heimischen Jobs sehr viel bedeutet, unter welchen sozialen und ökologischen Bedingungen in Fernost Computer zusammengeschraubt werden.
Es ist Aufgabe der Gewerkschaften, den scheinbaren Widerspruch zwischen ökologischen und sozialen Zielen aufzulösen. Sie müssen die Perfidie der scheinbaren Interessenkollision von sozialer Verantwortung, Ökologie und Ökonomie selbst entlarven. Wer sollte das sonst tun? Sie müssen den Paradigmenwechsel selbst einleiten, anstatt sich von einer Abwrackprämie zur nächsten Opel-Rettung treiben zu lassen. Sonst tappen sie in die Falle, die ihnen der finanzmarktgetriebene Kapitalismus stellt, werden genauso kurzatmig und diskontieren langfristige Entwicklungen weg. Die Gewerkschaften müssen die Politik vor sich hertreiben, anstatt sich treiben zu lassen.
Solidarität wird für Gewerkschaften auch mehr bedeuten, als die Solidarität unter den Mitgliedern. Sie wird die einschließen müssen, die dem Verdrängungswettbewerb schon zum Opfer gefallen sind. Und ihm zum Opfer zu fallen drohen. Jedenfalls kann die Zukunft nicht in der Zersplitterung in immer mehr Einzel-Partikularinteressen-Nischen-Gewerkschaften nach dem Modell Cockpit liegen. Sonst veranstalten Investmentbanker in zehn Jahren unter dem Dach des DGB bundesweite Demonstrationen für höhere Boni. Und gegen ein verpflichtendes Soziales Jahr.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! (HDH)
Online-Flyer Nr. 225 vom 25.11.2009
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Arbeit und Soziales
60 Jahre DGB in Köln - und morgen?
Wie die Wirtschaft in zehn Jahren aussehen könnte
Stefan Biskamp
Sehr geehrte Damen und Herren,
versetzen wir uns zehn Jahre in die Zukunft. Könnten Sie sich diese Nachrichten in der Tagesschau des 22. November 2019 vorstellen:
„Guten Abend, meine Damen und Herren,
bei bundesweiten Demonstrationen von Investmentbankern, Private-Equity- und Hedge-Fonds-Managern kam es auch heute zu gewalttätigen Ausschreitungen. Einige Investmentbanker warfen die Fenster einer Sozialstation mit ihren Blackberrys ein und verwüsteten mit ihren Rollkoffern das Rübenfeld eines Biobauern. Investmentbanker demonstrieren seit Wochen gegen die Einführung eines verpflichtenden Sozialen Jahres für ihren Berufsstand. Das Pflichtjahr sei diskriminierend, würde die Wettbewerbsfähigkeit des Finanzplatzes Deutschland gefährden und einen halben Prozentpunkt Wirtschaftswachstum kosten, sagte ein Verbandssprecher. Ein Sprecher der Bundesregierung nannte das, so wörtlich, lachhaft.
Berlin – Die Bundesregierung plant eine radikale Steuerreform unter dem Motto „Wir besteuern, was uns schadet, nicht was uns nützt“.
Die Lohnsteuer wird demnach genauso abgeschafft wie die Mehrwertsteuer und durch eine Minderwertsteuer ersetzt. Statt Arbeit und Wertschöpfung wird künftig die Ausbeutung von Ressourcen besteuert.
Die Bundesregierung gibt zudem dem Druck der Gewerkschaften nach und plant die Einführung von flächendeckenden Höchstlöhnen; sie dürfen nur um einen Faktor drei über den Mindestlöhnen liegen. Ein Regierungssprecher sagte: „Zu hohe Gehälter sind gesellschaftlich und volkswirtschaftlich genauso schädlich wie zu niedrige.“
München – das ifo-Institut berichtet, der Happiness-Index habe in Deutschland im Oktober um 2,4 Punkte auf 87,3 Punkte zugelegt. Allerdings sei das Zufriedenheitswachstum in den glücklicheren Ländern Afrikas und Südamerikas nach wie vor höher. Halte der Trend an, sei eine Auswanderungswelle in den Süden zu befürchten. Das Beispiel des früheren Bundesaußenministers Guido Westerwelle, der heute in einer Kommune biodynamischer Reisbauern auf Madagaskar lebt, könne Schule machen.
Und nun die Wettervorhersage für Samstag, den 23. November. Wir melden uns wieder mit den Tagesthemen um 22:30. Darin: Oskar-Flut für die deutschen Filme „Ganz unten - Mein Leben als Investmentbanker“ und „Der letzte Spekulant“.
Das geht vielleicht doch eine Spur zu weit und klingt absurd. Aber warum eigentlich? Wirklich absurd, und gelinde gesagt leicht widersprüchlich, ist viel eher die Art und Weise, wie wir heute wirtschaften. Zum einen hat der Staat seit der Pleite von Lehmann Brothers im Herbst 2008 keine Großbank mehr fallen gelassen. Allein die Hypo Real Estate bekam Staatshilfe in Höhe von mehr als 100 Milliarden Euro. Hier feiert das Solidarprinzip fröhliche Urständ, und der Staat setzt den Markt außer Kraft. Zum anderen gilt das Solidarprinzip im Gesundheitswesen als nicht mehr finanzierbar. Die Lösung sind Eigeninitiative und Selbstverantwortung der Versicherten und Wettbewerb unter den Versicherungen; der Markt soll es richten.
Zum einen gibt es gute Argumente dafür, dass der Staat Banken wie die Hypo Real Estate nicht hätte retten müssen. Doch das – mutmaßlich geringe – Risiko einer Kettenreaktion wollte der Staat nicht eingehen.
Zum anderen gibt es gute Argumente dafür, dass ein Klimachaos unsere gesamte Zivilisation in ihrer Existenz bedroht. Wie wahrscheinlich der Eintritt dieses ungleich größeren Schadensfalls ist, können wir genauso wenig ausrechnen wie das Risiko einer Kettenreaktion im Bankensektor. Aber das Risiko eines Klimachaos gehen die Regierungen weltweit ein.
Ob wir uns vom Irrsinn lösen können, ist entscheidend für die Frage...
Quelle: World Future Council
Zum einen haben die Notenbanken in großem Stil Geld gedruckt, um die Liquiditätsnot von Wirtschaft und Bankensektor zu lindern; allein die Federal Reserve in den USA bislang 1,4 Billionen Dollar. Zum anderen droht der Weltklimagipfel in Kopenhagen in wenigen Wochen an einer Liquiditätslücke vergleichbarer Größenordnung zu scheitern. Dabei geht es vor allem um 110 Milliarden jährlich zur Unterstützung für die Entwicklungsländer bis 2020. Aber um diese Liquiditätsnot zu lindern, drucken die Zentralbanken kein Geld.
Absurd genug, doch das sind nur Symptome grundlegender Widersprüche. Der erste Widerspruch: Wir können unseren Kindern zwar haufenweise immer billigeres Plastikspielzeug aus Fernost zu Weihnachten schenken (was of nicht ganz ungefährlich ist). Aber teureres können sich auch immer weniger Bürger leisten wenn sie sich – statt mit vernünftig bezahlter Arbeit in der Produktion – mit 1-Euro-Jobs bei der Spargelernte oder in der kommunalen Gartenpflege über Wasser halten müssen. Das rein exportgetriebene Wachstum schiebt Jobs dorthin ab, wo Arbeit am billigsten ist. Der Anteil von Löhnen am Volkseinkommen sank in Deutschland zwischen1999 und 2007 von 72 Prozent auf 64 Prozent, und zwar zugunsten des Unternehmens- und Vermögensanteils.
Sicher: Eine Industrienation wie Deutschland wird immer ein Exportland bleiben; die Frage ist nur, wie hoch der Exportanteil sein muss. Wenn alle Volkswirtschaften nur versuchen, den anderen Absatz abzujagen, dann ist das für sie unter dem Strich ein Nullsummenspiel. Für die meisten Menschen ist der globale Verdrängungswettbewerb sogar ein Minusgeschäft. Er führt zu hoher Arbeitslosigkeit in Europa, Minderwertarbeit in den USA, grobem Verschleiß an Menschen in der übrigen Welt (von der Natur gar nicht zu reden) – und er produziert nicht zum ersten Mal eine weltweite Finanzkrise. In diesem Wettlauf nach unten werden Arbeitnehmerrechte, hohe soziale und ökologische Standards zu Wachstumsbremsen. Sie gefährden Arbeitsplätze – aber nur die Arbeitsplätze, die das rein exportgetriebene Wachstum ohnehin vernichtet.
Die Jagd nach immer billigeren Produktionsstandorten schafft Überproduktion und vernichtet Kaufkraft. Immer weniger Kaufkraft jagt immer mehr Produkte. Deflation ist auf lange Sicht das Problem, nicht Inflation. Heute schon wieder vor Inflation zu warnen (und Lohnzurückhaltung anzumahnen), grenzt an Propaganda.
Der zweite Widerspruch ist, dass der Wachstumsdruck auf die reale Wirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten rapide zugenommen hat – aber nicht das globale Wachstum. Das weltweite Wirtschaftswachstum lag in den 70er Jahren bei über vier Prozent; in den 90er Jahren bei nur mehr knapp der Hälfte. Der Wachstumsdruck ergibt sich aus der Dominanz des Finanz- und Bankensektors über die Realwirtschaft: Denn jede Investition in ein Unternehmen muss sich in Sachen Rendite an den Gewinnen messen, die sich innerhalb des Finanzsektors erzielen lassen. Und diese reinen Spekulationsgewinne liegen – zumindest bis die nächste Blase platzt – weit über denen der Realwirtschaft. Eigenkapitalrenditen von 25 Prozent, wie sie etwa die Deutsche Bank verspricht, können normale Unternehmen, die in einigermaßen fairem Wettbewerb stehen, kaum abliefern.
Der Wachstumsdruck wird zwar immer größer, aber die Wirtschaft kann ihm immer schlechter standhalten. Der dritte Widerspruch ist, dass diejenigen, die den Wachstumsdruck aufbauen – also Banken, Finanzinvestoren, Hedge-Fonds und andere institutionelle Investoren – die wahren Kosten dieses Wachstums gar nicht tragen müssen. Diese Kosten werden vergesellschaftet. Wer trägt die wahren Kosten von Bankenrettungen? Die Aktionäre der Hypo Real Estate? Nein, sie haben nur unter großem Protest und Gezeter ihr eingesetztes Kapital verloren. Wenn der Markt schon alles richten soll, dann müssen auch alle Kosten eingepreist sein. Die Akteure müssen dann auch die Verantwortung für die Risiken übernehmen, die sie eingehen, und zwar auch die sozialen und ökologischen Risiken. Das müssen sie heute nicht tun, die größten Schäden, die sie anrichten, trägt die Gesellschaft. Unternehmen, ihr Management und ihre Investoren dürfen die langfristigen Schäden ignorieren. So zählt für sie nur der maximale kurzfristige Gewinn. Das ist der Hauptgrund für die Kurzatmigkeit der Wirtschaft.
Die Gewerkschaften sind hier in einer besonders misslichen Lage. Denn die Betroffenen lassen sich perfide gegeneinander ausspielen: Die heimischen Arbeitnehmer gegen die in anderen Industrienationen und erst recht gegen die Kollegen in Entwicklungsländern; Arbeitnehmer einzelner Branchen und sogar Konzernsparten gegeneinander. Arbeitnehmer gegen Arbeitslose. Jeder nimmt hier jedem die Chance auf Arbeit. Arbeitnehmerinteressen lassen sich auch prima ausspielen gegen Umwelt- und Klimaschutz, die nur Wettbewerbsvorteile kosten. Und über allem schwebt die Drohung, dass Milliarden fleißiger und ehrgeiziger Chinesen für einen Bruchteil unserer Kosten die gleiche Arbeit tun. Dabei wandert die Billigproduktion längst von China ins noch billigere Vietnam ab.
...ob wir die Zukunft gewinnen können.
Quelle: geralt/cornerstone pixelio
Wie könnte also die Wirtschaft in zehn Jahren aussehen? Das kann ich Ihnen auch nicht sagen. Ich kann Ihnen nur sagen, wie ich sie mir wünsche. Und welche Rolle werden die Gewerkschaften auf dem Weg zu einer Vision 2019 spielen können.
1. Eine starke Binnennachfrage wird exportgetriebenes Wachstum als Paradigma abgelöst haben. Globale ökologische, Arbeitnehmer- und Sozialstandards gelten nicht mehr als Wachstumsbremse, sondern als Basis für alles Wirtschaften.
2. Die Wirtschaft hat die Balance zwischen Verantwortung und Risiko, Wachstum und Vorsorge wieder gefunden. Wachstum auf Kosten aller ist nicht mehr Voraussetzung für Wohlstand.
3. Der Finanzsektor ist auf das zurechtgestutzt, was er sein sollte: Ein Dienstleister für die reale Wirtschaft anstatt den Wachstumsdruck ständig zu erhöhen.
Konkret würde das zum Beispiel bedeuten:
• Flächendeckende Mindestlöhne und ein Grundeinkommen für alle sind in zehn Jahren global die Norm. Und auch darüber, dass zu hohe Gehälter gesellschaftlich ebenso schädlich sind wie Niedriglöhne, wird kaum noch jemand debattieren. Denn exzessive Gehälter und Boni schaffen Fehlanreize zu riskantem Handeln; sie fixieren das Bild vom Menschen als rücksichtslosem und von Gier getriebenem bloß auf materiellen Wohlstand dressiertem Homo Oeconomicus; sie zerstören gesellschaftlichen Zusammenhalt. Dass ein Vorstand mehr als 100mal so viel verdient wie ein Arbeiter, wird in zehn Jahren schlicht als unanständig gelten. Es wird Tabu sein. Leistung wird sich dann erst recht lohnen – aber nicht ausschließlich monetär.
• Reine Spekulationsgewinne wird es ebenfalls nicht mehr geben. Sich etwa durch Spekulation auf Nahrungsmittelpreise am Hunger anderer zu bereichern, wird als unanständig gelten. Es wird Tabu sein. Man wird mit dem Finger auf Spekulanten zeigen. Jene spekulativen Geschäfte, die tatsächlich noch der realen Wirtschaft dienen – also einen Mehrwert schaffen – werden, wie alle anderen Produkte und Dienstleistungen auch, mit einer Mehrwertsteuer belegt (wie sie als Börsen- oder Finanztransaktionssteuer heute, 2009, gerade diskutiert wird). Denn warum sollte beispielsweise der außerbörsliche Handel mit Derivaten oder die Spekulation auf Währungsschwankungen von der Mehrwertsteuer befreit sein? Schließlich wird der Finanzsektor nicht müde, den Nutzen (also den Mehrwert) zu betonen, den diese Produkte für die reale Wirtschaft angeblich hätten. Dann sollen sie auch Mehrwertsteuer dafür zahlen.
Allen anderen Spekulationsgeschäften wird – ähnlich wie der Zockerei in Spielhöllen – die Rechtsgrundlage entzogen. Niemand hindert Investoren dann am Zocken, aber sie können Spielschulden nicht einklagen.
(Das unterscheidet Zocken übrigens vom Roulette-Spiel in einem Casino. Das Finanzsystem von heute wird gerne Casinokapitalismus genannt. Das ist eine Verunglimpfung – nicht der Akteure im Finanzsektor, sondern der Casinos. Denn Casinos sind anständige Unternehmen. In vielen Ländern sind sie in Staatsbesitz; sie sind streng reguliert; und sie zahlen Steuern…)
Sollten sich auf den Finanzmärkten auch in zehn Jahren trotz Mehrwertsteuer und Tabuisierung noch spekulative Blasen bilden, schreiten die Zentralbanken ein. Sie bekämpfen die Aktien- oder Immobilienblasen gezielt und lassen rechtzeitig die Luft heraus. So verliert der Finanzsektor seine Dominanz.
• Das Steuersystem bedarf am Ende einer grundsätzlichen Reform. Statt vor allem Wertschöpfung und Arbeit zu besteuern, werden Ressourcenverbrauch, soziale und ökologische Schäden durch eine Minderwertsteuer bestraft. Wo Mehrwert geschaffen wird, sind die Steuern niedrig, wo mehr Schaden entsteht, hoch. Denn das Ökosystem, in dem wir leben und wirtschaften ist endlich.
In einem ersten Schritt werden Investoren von nachhaltig wirtschaftenden Unternehmen belohnt – und ganz oder teilweise von der Kapitalertragssteuer befreit. Stellen Sie sich eine Hauptversammlung der Deutschen Bank vor, auf der sich Aktionäre über die hohe Eigenkapitalrendite beschweren. Denn hätte die Bank mehr Kredite an nachhaltige Unternehmen vergeben, würde zwar weniger Gewinn abfallen – aber die Aktionäre müssten auf ihre Dividende weniger Steuern zahlen.
• Unternehmen werden eine soziale und ökologische Bilanz veröffentlichen. Unternehmen, die sich etwa per Subventionstourismus eine höhere Rendite ermogeln, werden sich in ihrer Sozialbilanz überschulden – und im Extremfall für sozial insolvent erklärt. Die Gesellschaft wird Unternehmen, die ihre sozialen Schulden nicht mehr zurückzahlen können, die Lizenz entziehen.
• Die Leistung einer Wirtschaft wird nicht mehr nur am Bruttoinlandsprodukt gemessen. Bei wirtschaftspolitischen Entscheidungen wird es um Lebensstandard, Zufriedenheit und Glück der Menschen gehen. Reines Wirtschaftswachstum ist nur ein Mittel zum Zweck; Fortschritt ist mehr als materielles Wachstum auf alle Kosten.
Auf dem Weg in diese Richtung spielen die Gewerkschaften nicht nur die Rolle eines ökonomischen Korrektivs des unvollkommenen Arbeitsmarktes oder einer modernen Servicegesellschaft für ihre Mitglieder. Sondern sie sind einer der wichtigsten politischen Akteure.
Es ist Aufgabe der Gewerkschaften, Politik und Öffentlichkeit klar zu machen, dass es für die heimischen Jobs sehr viel bedeutet, unter welchen sozialen und ökologischen Bedingungen in Fernost Computer zusammengeschraubt werden.
Es ist Aufgabe der Gewerkschaften, den scheinbaren Widerspruch zwischen ökologischen und sozialen Zielen aufzulösen. Sie müssen die Perfidie der scheinbaren Interessenkollision von sozialer Verantwortung, Ökologie und Ökonomie selbst entlarven. Wer sollte das sonst tun? Sie müssen den Paradigmenwechsel selbst einleiten, anstatt sich von einer Abwrackprämie zur nächsten Opel-Rettung treiben zu lassen. Sonst tappen sie in die Falle, die ihnen der finanzmarktgetriebene Kapitalismus stellt, werden genauso kurzatmig und diskontieren langfristige Entwicklungen weg. Die Gewerkschaften müssen die Politik vor sich hertreiben, anstatt sich treiben zu lassen.
Solidarität wird für Gewerkschaften auch mehr bedeuten, als die Solidarität unter den Mitgliedern. Sie wird die einschließen müssen, die dem Verdrängungswettbewerb schon zum Opfer gefallen sind. Und ihm zum Opfer zu fallen drohen. Jedenfalls kann die Zukunft nicht in der Zersplitterung in immer mehr Einzel-Partikularinteressen-Nischen-Gewerkschaften nach dem Modell Cockpit liegen. Sonst veranstalten Investmentbanker in zehn Jahren unter dem Dach des DGB bundesweite Demonstrationen für höhere Boni. Und gegen ein verpflichtendes Soziales Jahr.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! (HDH)
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