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Inland
Zwei Jahre nach der Sezession des Kosovo: Armut, Korruption, zunehmende Proteste
"Erfolgsgeschichte" der Bundeswehr
Von Hans Georg

Am zweiten Jahrestag seiner von Berlin forcierten Sezession drohen dem Kosovo schwere soziale Unruhen. Die wirtschaftliche Lage des Gebiets ist nach seiner Abspaltung von Serbien desolat, extreme Armut, Proteste und Streiks nehmen zu. Außerhalb der EU ist die Rede von einem "gescheiterten Staat". Während Deutschland gemeinsam mit den übrigen Führungsmächten des Westens weiter versucht, Serbien zur Anerkennung der illegalen Sezession zu zwingen, drohen kosovarische Politiker mit der Annexion weiterer Teile Serbiens.

1999: Bundeswehr wird im Kosovo begrüßt
Quelle: img115.imageshack.us

Aus den betroffenen Gebieten werden offenbar politisch motivierte Sprengstoffanschläge gemeldet. Die Lage der Minderheiten ist nach wie vor katastrophal; so sind Roma im Kosovo weiter massiver Diskriminierung ausgesetzt, Hunderte vegetieren in bleiverseuchten Lagern dahin. Berliner Pläne, nach Deutschland geflüchtete Roma in die Verfolgung abzuschieben, stoßen auf wachsenden Protest. Eine positive Entwicklung will allein die Bundeswehr erkannt haben. Die Besetzung des Gebietes durch die NATO sei eine "Erfolgsgeschichte", erklärt ein deutscher Militär und fordert die Bevölkerung auf, die "erfolgreiche Arbeit der Soldaten" zur Kenntnis zu nehmen.

Ein Pulverfass

Zwei Jahre nach der Sezession des Kosovo am 17. Februar 2008, die von Berlin energisch forciert wurde [1], ist die ökonomische Lage des Gebiets desolat. Fast die Hälfte der gesamten Erwerbsbevölkerung ist arbeitslos, Warenproduktion in nennenswertem Umfang findet nicht statt. Mehr als 90 Prozent der Güter, die im Kosovo verkauft werden, müssen importiert werden; Ausfuhren von rund 163 Millionen Euro im Jahr 2009 standen Einfuhren in zwölffacher Höhe entgegen (Volumen: 1,9 Milliarden Euro). Die ausländischen Investitionen gehen inzwischen zurück. Beinahe die Hälfte der Bevölkerung ist arm, 15 Prozent leben in extremer Armut. "Vor dem Krieg 1999 konnte ich mit meinem Gehalt eine zehnköpfige Familie ernähren", berichtet ein Kosovare: "Jetzt müssen sieben Familienmitglieder arbeiten, damit wir über die Runden kommen. Unser Lebensstandard ist sehr niedrig."[2] "Jeden Tag gibt es irgendwelche Proteste", sagt der Vizepräsident der kosovarischen Handelskammer und warnt: "Das Kosovo ist wie ein Pulverfass, das eines Tages explodieren könnte". Staatspräsident Fatmir Sejdiu erklärt, durch Streiks und weitere Formen des Protests dürfe "nicht die Stabilität des Landes bedroht werden".[3]

Gescheiterter Staat

Ähnlich desaströs gestaltet sich die Lage des Kosovo auch in anderer Hinsicht. Beobachter sprechen von grassierender Korruption. So landen laut Schätzungen von Experten rund zehn Prozent der Gelder, die für öffentliche Aufträge vorgesehen sind, in den Kassen der kosovarischen Parteien. Premierminister Hashim Thaci hat die führenden Posten in der kosovarischen Polizei an Personen vergeben, die vorher in seinem illegalen Geheimdienst SHIK tätig waren. Entsprechend pikiert vermerkt eine Schweizer Zeitung, dass der Diebstahl von 46 Kilogramm Drogen, die vor einem Jahr aus dem Prištinaer Polizeipräsidium verschwanden, bis heute nicht aufgeklärt ist. "Das Justizwesen in Kosovo besteht nur dem Namen nach" [4], bemerkt das Blatt - obwohl sich die EU seit zwei Jahren offiziell um seinen Aufbau kümmert. Zudem würden Angehörige der Organisierten Kriminalität nicht belangt. Dem Bericht zufolge hat der US-Botschafter in Priština das Kosovo kürzlich "andeutungsweise als gescheiterten Staat" eingestuft.[5] Um ihrem schlechten Image etwas entgegenzusetzen, hat die kosovarische Regierung bei der Werbeagentur Saatchi and Saatchi eine PR-Kampagne zur Verbesserung ihres Ansehens in Auftrag gegeben - Kosten: sechs Millionen Euro.

Sprengstoffanschlag

Angesichts neuer Aktivitäten der serbischen Regierung erhöhen Berlin und die übrigen Führungsmächte des Westens nun ihren Druck. Im Juni wird eine Stellungnahme des Internationalen Gerichtshofs (IGH) in Den Haag zur völkerrechtswidrigen Sezession des Kosovo erwartet. Belgrad will danach erneut über den Status des Gebiets verhandeln und plant, sein Anliegen vor die Vereinten Nationen zu bringen. Nur ungefähr ein Drittel der UN-Mitgliedstaaten hat bislang die Abspaltung des Kosovo anerkannt. In einer diplomatischen Note haben vergangene Woche Deutschland, Frankreich, Italien, Großbritannien und die USA den serbischen Außenminister aufgefordert, seine diesbezüglichen Bemühungen einzustellen; man warne vor "waghalsigen Handlungen".[6] Nicht verwarnt wurde der Sprecher des kosovarischen Parlaments, Jakup Krasniqi, der vor wenigen Tagen in Betracht zog, "die Albaner aus dem Presevo-Tal" nördlich des Kosovo könnten sich dem Abspaltungsgebiet anschließen - eine Überlegung, die auf die Annexion weiterer Teile Serbiens durch das Sezessionsregime in Priština hinausläuft. Kurz darauf wurde in Bujanovac im Presevo-Tal ein Angehöriger der serbischen Polizei bei einem Sprengstoffanschlag schwer verletzt. In dem Ort hatten Sezessionisten schon vor Jahren Attentate verübt, um den Anschluss ihres Wohngebiets an das Kosovo herbeizubomben.


Kosovo-Roma zwischen Flucht und Abschiebung
Quelle: www.papiere-fuer-alle.org

Anhaltend katastrophal ist nach mehr als zehn Jahren Besatzungsherrschaft unter deutscher Beteiligung die Lage der Minderheiten im Kosovo. "Armut und Diskriminierung, Arbeitslosigkeit von 90 Prozent, Ausschluss vom sozialen Sicherungssystem und ärztlicher Behandlung" seien etwa für die Roma "traurige Gegenwart", heißt es in einem Aufruf, der im Dezember 2009 von verschiedenen Flüchtlingsorganisationen veröffentlicht worden ist.[7] Letzte Woche hat der Menschenrechtskommissar des Europarats festgestellt, dass bis heute Hunderte Roma im Kosovo in bleiverseuchten Lagern dahinvegetieren müssen; trotz häufiger Beschwerden haben weder das kosovarische Regime in Priština noch die Besatzer aus Europa und den USA an ihrer desaströsen Lage etwas geändert. Berlin will im Gegenteil mehrere Tausend Roma aus Deutschland in das Kosovo abschieben - trotz heftiger Proteste, in die sich jetzt sogar das UN-Kinderhilfswerk UNICEF einreiht. UNICEF weist darauf hin, dass Roma, die aus Deutschland abgeschoben wurden, mit ihren Kindern "oft außerhalb der Gemeinden, in Holzbaracken, ohne Heizung und in verwahrlosten Verhältnissen" leben - ein Umstand, der die deutschen Behörden bislang nicht beeindruckt hat.[8]


Abweichend von Springer-Presse und
Bundeswehr – EU-Abgeordnete Doris Pack
Quelle: www.dorispack.de
Erstaunliche Bewertungen der Verhältnisse im Kosovo nach über zehn Jahren Besatzung und zwei Jahren von Berlin unterstützter Sezession finden sich in der Springer-Presse sowie bei der Bundeswehr. Wie die Tageszeitung Die Welt urteilt, befindet sich "die junge Republik Kosovo" auf einem "hoffnungsvollen Weg"; ihre Abspaltung habe "zur Stabilisierung der Region insgesamt beigetragen".[9] Ein Brigadegeneral der Bundeswehr stuft die Besatzung des Gebiets als "Erfolgsgeschichte" ein und fordert, die Bevölkerung müsse die "erfolgreiche Arbeit der Soldaten" im Kosovo stärker zur Kenntnis nehmen.[10] Erstaunlich und bemerkenswert ist zudem ein offenes Eingeständnis der CDU-Europaabgeordneten Doris Pack, die schon seit vielen Jahren mit Südosteuropa befasst ist. Laut Pack ist im Kosovo, seit es von der NATO besetzt wurde, "nicht sehr viel vorangegangen, im Gegenteil. In diesen zehn Jahren ist die Korruption gewachsen, sie wurde nicht bekämpft".[11] Es gebe unter anderem "Tausende von Fällen (...) von Kriminellen, die noch nicht vor Gericht gestellt wurden". Sämtliche Chefs der Besatzungsverwaltung UNMIK, die laut Pack der faktischen Unterstützung von Korruption schuldig sind, stammten aus EU-Staaten, allein zwei davon aus der Bundesrepublik. Deutschland ist der Staat, dem stets der größte Einfluss auf die UNMIK-Verwaltung zugeschrieben wurde.[12] (PK)

Weitere Informationen zur deutschen Kosovo-Politik finden Sie unter http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/57743 in den Beiträgen: Aufs engste verflochten, Politische Freundschaften, Heldenfigur, "Danke, Deutschland!", Unter deutscher Aufsicht, Organhandel, Willkür an der Macht, Nach NATO-Standards, Der Zauberlehrling, Die Mafia als Staat, Keine Kompromisse, Im dritten Anlauf (I) und Die Mafia als Staat (II).

[1] s. dazu Deutscher Verwalter stellt territoriale Integrität Jugoslawiens in Frage, Neuer Vasall, Mit kreativen Tricks und "Danke, Deutschland!"
[2], [3] Kosovo - ein soziales Pulverfass? Deutsche Welle 16.02.2010
[4], [5] Der Frust mit der Freiheit; Basler Zeitung 16.02.2010
[6] Major powers warn Serbia to cool down Kosovo rhetoric; waz.euobserver.com 09.02.2010
[7] s. dazu Unglaubwürdig und Besondere Verantwortung
[8] Roma-Kinder im Kosovo: Abgeschoben und ausgegrenzt; www.unicef.de 16.02.2010
[9] Richard Herzinger: Kosovo - ein Staat, besser als sein Ruf; Die Welt 16.02.2010
[10] Die vergessene Erfolgsgeschichte der Kfor; Hamburger Abendblatt 25.01.2010
[11] Pack: EULEX-Mission hat große Last zu tragen; Deutschlandradio Kultur 17.02.2010
[12] s. dazu Aufs engste verflochten

Online-Flyer Nr. 238  vom 24.02.2010

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