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Arbeit und Soziales
Bundesverfassungsgericht legitimiert Sozialrassismus
Bloß nicht verhungern
Von Georg Rammer
Um den sozialen Rechtsstaat hat sich das Bundesverfassungsgericht mit dem im Februar verkündeten Urteil zum Hartz-IV-Gesetz nicht verdient gemacht. Ganz im Gegenteil. Zwar stellte das Gericht fest, dass die Regelleistungen für Erwachsene und Kinder „nicht den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums […] erfüllen.“ Zwar rügte es ungewohnt klar den Gesetzgeber dafür, die Regelleistungen „ins Blaue hinein“ und den Schulbedarf für Kinder „freihändig“ geschätzt zu haben. Und es setzte ihm für die Neuregelung der verfassungswidrigen Normen eine Frist bis Ende des Jahres.
Und dennoch: Es hätte die Stunde des Verfassungsgerichts werden können – wenn es den Mut zu einem wegweisenden Spruch über Bedeutung und Wesen des sozialen Rechtsstaates in Zeiten des neoliberalen Kapitalismus besessen hätte. Hatte doch etwa der Bundesverfassungsrichter Siegfried Broß schon zuvor angemahnt: „Keinesfalls darf die staatliche und wirtschaftliche Ordnung so gestaltet werden, dass die Gesellschaft auseinanderbricht und nur ein Teil noch gleichsam auf der Sonnenseite des Lebens steht.“ Er hatte auch an frühere Urteile erinnert: Das Gesamtwohl werde demnach „eben nicht von vornherein gleichgesetzt mit den Interessen oder Wünschen einer bestimmten Klasse“. Die staatliche Ordnung müsse deshalb den Machtmissbrauch hemmen. 1)
Diesen Mut aber hatte das Gericht nicht. Stattdessen legitimiert es wachsende Armut in einem reichen Land und setzt Normen, die sogar eine Verschlechterung der Lage von Hartz-IV-Empfängern ermöglichen. Vor allem aber missachtet das Urteil selbst wesentliche Prinzipien des sozialen Rechtsstaates, die es doch zu konkretisieren vorgibt.
Zu Recht wird im Urteil hervorgehoben, dass „der Umfang des verfassungsrechtlichen Leistungsanspruchs […] im Hinblick auf die Arten des Bedarfs und die dafür erforderlichen Mittel nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden“ können. Die Konkretisierung obliege dem Gesetzgeber. Diese notwendige juristische Zurückhaltung wird allerdings mehrfach aufgegeben – nämlich immer dann, wenn es um die Bewertung der Höhe der Regelsätze und ihre mögliche Kürzung geht.
„Die […] geltenden Regelleistungen von 345, 311 und 207 Euro können zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht als evident unzureichend angesehen werden“, erklärt das Gericht. Auch der Betrag von 207 Euro für Kinder sei keineswegs zwingend zu niedrig: „Es ist insbesondere nicht ersichtlich, dass dieser Betrag nicht ausreicht, um das physische Existenzminimum, insbesondere den Ernährungsbedarf von Kindern im Alter von 7 bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres zu decken.“
Demo "Wir zahlen nicht für eure Krise" im März 2009 in Frankfurt/M.
QFoto: gesichter zei(ch/g)en
Während also dem Gesetzgeber keine Vorgaben zur Höhe des Bedarfs gemacht werden sollen, wird ihm explizit mitgeteilt, dass die geltenden Sätze nicht unzureichend scheinen. Dieses Angebot lässt sogar eine Verringerung der Regelleistungen für Kinder zu, da das Urteil auf die früher geltenden Sätze für Schulkinder in Höhe von 207 Euro Bezug nimmt; die Bundesregierung hatte diese skandalös niedrigeren Regelsätze in Erwartung des bevorstehenden Urteils bereits zuvor angehoben. Damit erklärt das Bundesverfassungsgericht die Tagessätze von 2,62 Euro für Essen und Trinken für Kinder unter 14 Jahren für zulässig, denn sie deckten das „physische Existenzminimum“.
Mit der Billigung dieser von Sozialverbänden als viel zu niedrig bewerteten Beträge wird die vorgebliche Zurückhaltung des Gerichts ad absurdum geführt, zumal es zum Abschluss der Urteilsbegründung noch einmal ausdrücklich betont: „Da nicht festgestellt werden kann, dass die gesetzlich festgesetzten Regelleistungsbeträge evident unzureichend sind, ist der Gesetzgeber nicht unmittelbar von Verfassungs wegen verpflichtet, höhere Leistungen festzusetzen.“
Eine weitere, geradezu fahrlässige und für die Betroffenen fatale Realitätsferne beweist das Gericht mit der Feststellung, der hilfebedürftige Hartz-IV-Empfänger könne in der Regel „sein individuelles Verbrauchsverhalten so gestalten, dass er mit dem Festbetrag auskommt; vor allem hat er bei besonderem Bedarf zuerst auf das Ansparpotential zurückzugreifen, das in der Regelleistung enthalten ist.“ Der Gedanke liegt nahe, dass den Verfassungsrichterinnen und -richtern die Lebensrealität armer Bevölkerungsgruppen nicht vertraut ist. Angesichts der existenziellen Not der Menschen, die auf Hartz IV angewiesen sind, wirken solche Aussagen, zumal den Betroffenen gegenüber, ignorant und zynisch.
Ein gravierender Einwand gegen das Urteil betrifft zudem den zugrunde gelegten Begriff des Sozialstaates. Dieser wird auf die „Sicherung der physischen Seite des Existenzminimums“ reduziert; die „soziale Seite des Existenzminimums“ stellt das Gericht dem „Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers“ anheim.
„Menschen sollen in Deutschland nicht verhungern. Alles Weitere regelt der Gesetzgeber.“
Damit wird der soziale Rechtsstaat auf einen kleinstmöglichen Rest zurechtgestutzt: Menschen sollen in Deutschland nicht verhungern. Alles Weitere regelt der Gesetzgeber. Aufschlussreich ist das, was die Verfassungsrichter beredt nicht sagen: Ist es mit dem Grundgesetz vereinbar, dass Armut immer größere Teile der Bevölkerung erfasst und sich der steigende Wohlstand in immer weniger Händen konzentriert? Ist es in Ordnung, dass die soziale Herkunft von Kindern über ihre Gesundheit, ihren Bildungsweg, ihre Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe und letztlich sogar über ihre Lebenserwartung entscheidet? (Sie sterben nämlich im Durchschnitt zehn Jahre früher als ihre Altersgenossen in materiell sicheren Verhältnissen.) Und hat es auch keine Bedeutung für den sozialen Rechtsstaat, wenn der Vorstandsvorsitzende von Siemens in einem Jahr einen Betrag „verdient“, für den ein einfacher Techniker im selben Konzern 250 Jahre lang arbeiten müsste?
Es ist überdies bemerkenswert, dass das Bundesverfassungsgericht ein grundlegendes Urteil zu einem höchst umstrittenen Thema fällt, ohne auf bereits bestehende, verpflichtende Prinzipien des sozialen Rechtsstaates
Hartz IV: Papier statt
Existenzsicherung
Quelle: NRhZ-Archiv
Diese erschöpfen sich nämlich keineswegs in der Garantie des physischen Existenzminimums; vielmehr verpflichten sie den Staat in einer „fundamental normativen Verfassungsaussage, […] durch aktive Sozialgestaltung für einen Ausgleich der sozialen Gegensätze und damit für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen“, damit „unangemessene Wohlstandsdifferenzen ausgeglichen und verhindert, Abhängigkeitsverhältnisse abgebaut und gemildert werden sowie eine gerechte Teilhabe aller an den Gütern der Gemeinschaft […] gesichert ist.“ 2)
Das Gericht fällt hinter diese normativen Verpflichtungen, die sich auch aus den Erfahrungen der Weimarer Verfassung und des Faschismus entwickelt hatten, weit zurück. Denn im Parlamentarischen Rat, der das Grundgesetz ausgearbeitet hat, konnte Konsens darüber erzielt werden, dass der Rechtsstaatsbegriff erweitert werden müsse gegenüber der bürgerlich-liberalen Verfassung der Weimarer Republik. 3) In der Bundesrepublik begrenzt sich staatliches Handeln nicht auf die Gewährleistung formaler Freiheiten; vielmehr muss ein materiell gerechter, sozialer Rechtszustand hergestellt werden, in dem Grundrechte nicht nur auf dem Papier für alle gelten, sondern in der Realität – und zwar unabhängig von der sozialen Herkunft.
Die krasse Spaltung der Gesellschaft bei Einkommen, Vermögen und Teilhabe, die „Refeudalisierung“ der sozialen Verhältnisse, in denen der Ort der Geburt über das weitere Leben bestimmt, die statistisch belegte systematische Benachteiligung durch das Aufwachsen in Armut – all diese deutschen Verhältnisse widersprechen den elementaren Grundsätzen des in der Verfassung verankerten sozialen Rechtsstaats.
Das Verfassungsgericht hat versäumt, die Verwirklichung des sozialen gegenüber dem bürgerlich-liberalen Rechtsstaat anzumahnen. Außer einer transparenten, begründeten Neuberechnung der Regelsätze hat es den Staat zu nichts verpflichtet. In Zeiten, in denen die wachsende soziale Kluft Menschen gesellschaftlich ausschließt und die Demokratie hohl werden lässt, ist das ein gefährliches Versäumnis.
Doch damit nicht genug: In einem Urteil vom 8. April haben die Karlsruher Richter die volle Anrechnung des Kindergeldes auf den Hartz-IV-Regelsatz ausdrücklich gebilligt. Ausgerechnet die Ärmsten im Lande profitieren also weiterhin nicht von dieser Leistung (und ihrer jüngsten Erhöhung). Mehr noch: Selbst Taschengeldgeschenke von Oma und Opa müssen nach Auffassung des Gerichts ab einer Höhe von 50 Euro vom Regelsatz abgezogen werden.
In Deutschland wird also weiterhin jedes fünfte Kind – höchstrichterlich gebilligt – in Verhältnissen aufwachsen, die es allein aufgrund seiner sozialen Herkunft systematisch benachteiligen. Es wird weiterhin mit seiner alleinerziehenden Mutter oder seinem zum Niedriglohn arbeitenden Vater auf die Tafeln und Almosen angewiesen sein, wie bereits eine Million Menschen in Deutschland. Und sie werden mit Unverständnis und Resignation oder mit Wut und Hass den wachsenden Reichtum einer selbst ernannten Leistungselite verfolgen.
Kein Richterspruch verpflichtet den Gesetzgeber, an diesen ungerechten, undemokratischen Verhältnissen etwas zu verändern. Und das Hartz-IV-Urteil erlaubt mangels Klarstellung zum sozialen Rechtsstaat den Kochs, Sarrazins und Westerwelles weiterhin, ihre sozialrassistische, rechtspopulistische Hetze zu betreiben. (HDH)
1) Siegfried Broß, Redemanuskript vom 10.1.2009.
2) Alfred Katz, Staatsrecht, S. 93.
3) Vgl. Hans Karl Rupp, Vom Antifaschismus zum Antikommunismus: Die Begründung der Bundesrepublik, in: „Blätter“, 5/2009, S. 79-87, hier S. 82 ff.
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Arbeit und Soziales
Bundesverfassungsgericht legitimiert Sozialrassismus
Bloß nicht verhungern
Von Georg Rammer
Um den sozialen Rechtsstaat hat sich das Bundesverfassungsgericht mit dem im Februar verkündeten Urteil zum Hartz-IV-Gesetz nicht verdient gemacht. Ganz im Gegenteil. Zwar stellte das Gericht fest, dass die Regelleistungen für Erwachsene und Kinder „nicht den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums […] erfüllen.“ Zwar rügte es ungewohnt klar den Gesetzgeber dafür, die Regelleistungen „ins Blaue hinein“ und den Schulbedarf für Kinder „freihändig“ geschätzt zu haben. Und es setzte ihm für die Neuregelung der verfassungswidrigen Normen eine Frist bis Ende des Jahres.
Und dennoch: Es hätte die Stunde des Verfassungsgerichts werden können – wenn es den Mut zu einem wegweisenden Spruch über Bedeutung und Wesen des sozialen Rechtsstaates in Zeiten des neoliberalen Kapitalismus besessen hätte. Hatte doch etwa der Bundesverfassungsrichter Siegfried Broß schon zuvor angemahnt: „Keinesfalls darf die staatliche und wirtschaftliche Ordnung so gestaltet werden, dass die Gesellschaft auseinanderbricht und nur ein Teil noch gleichsam auf der Sonnenseite des Lebens steht.“ Er hatte auch an frühere Urteile erinnert: Das Gesamtwohl werde demnach „eben nicht von vornherein gleichgesetzt mit den Interessen oder Wünschen einer bestimmten Klasse“. Die staatliche Ordnung müsse deshalb den Machtmissbrauch hemmen. 1)
Diesen Mut aber hatte das Gericht nicht. Stattdessen legitimiert es wachsende Armut in einem reichen Land und setzt Normen, die sogar eine Verschlechterung der Lage von Hartz-IV-Empfängern ermöglichen. Vor allem aber missachtet das Urteil selbst wesentliche Prinzipien des sozialen Rechtsstaates, die es doch zu konkretisieren vorgibt.
Zu Recht wird im Urteil hervorgehoben, dass „der Umfang des verfassungsrechtlichen Leistungsanspruchs […] im Hinblick auf die Arten des Bedarfs und die dafür erforderlichen Mittel nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden“ können. Die Konkretisierung obliege dem Gesetzgeber. Diese notwendige juristische Zurückhaltung wird allerdings mehrfach aufgegeben – nämlich immer dann, wenn es um die Bewertung der Höhe der Regelsätze und ihre mögliche Kürzung geht.
„Die […] geltenden Regelleistungen von 345, 311 und 207 Euro können zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht als evident unzureichend angesehen werden“, erklärt das Gericht. Auch der Betrag von 207 Euro für Kinder sei keineswegs zwingend zu niedrig: „Es ist insbesondere nicht ersichtlich, dass dieser Betrag nicht ausreicht, um das physische Existenzminimum, insbesondere den Ernährungsbedarf von Kindern im Alter von 7 bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres zu decken.“
Demo "Wir zahlen nicht für eure Krise" im März 2009 in Frankfurt/M.
QFoto: gesichter zei(ch/g)en
Während also dem Gesetzgeber keine Vorgaben zur Höhe des Bedarfs gemacht werden sollen, wird ihm explizit mitgeteilt, dass die geltenden Sätze nicht unzureichend scheinen. Dieses Angebot lässt sogar eine Verringerung der Regelleistungen für Kinder zu, da das Urteil auf die früher geltenden Sätze für Schulkinder in Höhe von 207 Euro Bezug nimmt; die Bundesregierung hatte diese skandalös niedrigeren Regelsätze in Erwartung des bevorstehenden Urteils bereits zuvor angehoben. Damit erklärt das Bundesverfassungsgericht die Tagessätze von 2,62 Euro für Essen und Trinken für Kinder unter 14 Jahren für zulässig, denn sie deckten das „physische Existenzminimum“.
Mit der Billigung dieser von Sozialverbänden als viel zu niedrig bewerteten Beträge wird die vorgebliche Zurückhaltung des Gerichts ad absurdum geführt, zumal es zum Abschluss der Urteilsbegründung noch einmal ausdrücklich betont: „Da nicht festgestellt werden kann, dass die gesetzlich festgesetzten Regelleistungsbeträge evident unzureichend sind, ist der Gesetzgeber nicht unmittelbar von Verfassungs wegen verpflichtet, höhere Leistungen festzusetzen.“
Eine weitere, geradezu fahrlässige und für die Betroffenen fatale Realitätsferne beweist das Gericht mit der Feststellung, der hilfebedürftige Hartz-IV-Empfänger könne in der Regel „sein individuelles Verbrauchsverhalten so gestalten, dass er mit dem Festbetrag auskommt; vor allem hat er bei besonderem Bedarf zuerst auf das Ansparpotential zurückzugreifen, das in der Regelleistung enthalten ist.“ Der Gedanke liegt nahe, dass den Verfassungsrichterinnen und -richtern die Lebensrealität armer Bevölkerungsgruppen nicht vertraut ist. Angesichts der existenziellen Not der Menschen, die auf Hartz IV angewiesen sind, wirken solche Aussagen, zumal den Betroffenen gegenüber, ignorant und zynisch.
Ein gravierender Einwand gegen das Urteil betrifft zudem den zugrunde gelegten Begriff des Sozialstaates. Dieser wird auf die „Sicherung der physischen Seite des Existenzminimums“ reduziert; die „soziale Seite des Existenzminimums“ stellt das Gericht dem „Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers“ anheim.
„Menschen sollen in Deutschland nicht verhungern. Alles Weitere regelt der Gesetzgeber.“
Damit wird der soziale Rechtsstaat auf einen kleinstmöglichen Rest zurechtgestutzt: Menschen sollen in Deutschland nicht verhungern. Alles Weitere regelt der Gesetzgeber. Aufschlussreich ist das, was die Verfassungsrichter beredt nicht sagen: Ist es mit dem Grundgesetz vereinbar, dass Armut immer größere Teile der Bevölkerung erfasst und sich der steigende Wohlstand in immer weniger Händen konzentriert? Ist es in Ordnung, dass die soziale Herkunft von Kindern über ihre Gesundheit, ihren Bildungsweg, ihre Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe und letztlich sogar über ihre Lebenserwartung entscheidet? (Sie sterben nämlich im Durchschnitt zehn Jahre früher als ihre Altersgenossen in materiell sicheren Verhältnissen.) Und hat es auch keine Bedeutung für den sozialen Rechtsstaat, wenn der Vorstandsvorsitzende von Siemens in einem Jahr einen Betrag „verdient“, für den ein einfacher Techniker im selben Konzern 250 Jahre lang arbeiten müsste?
Es ist überdies bemerkenswert, dass das Bundesverfassungsgericht ein grundlegendes Urteil zu einem höchst umstrittenen Thema fällt, ohne auf bereits bestehende, verpflichtende Prinzipien des sozialen Rechtsstaates
Hartz IV: Papier statt
Existenzsicherung
Quelle: NRhZ-Archiv
Das Gericht fällt hinter diese normativen Verpflichtungen, die sich auch aus den Erfahrungen der Weimarer Verfassung und des Faschismus entwickelt hatten, weit zurück. Denn im Parlamentarischen Rat, der das Grundgesetz ausgearbeitet hat, konnte Konsens darüber erzielt werden, dass der Rechtsstaatsbegriff erweitert werden müsse gegenüber der bürgerlich-liberalen Verfassung der Weimarer Republik. 3) In der Bundesrepublik begrenzt sich staatliches Handeln nicht auf die Gewährleistung formaler Freiheiten; vielmehr muss ein materiell gerechter, sozialer Rechtszustand hergestellt werden, in dem Grundrechte nicht nur auf dem Papier für alle gelten, sondern in der Realität – und zwar unabhängig von der sozialen Herkunft.
Die krasse Spaltung der Gesellschaft bei Einkommen, Vermögen und Teilhabe, die „Refeudalisierung“ der sozialen Verhältnisse, in denen der Ort der Geburt über das weitere Leben bestimmt, die statistisch belegte systematische Benachteiligung durch das Aufwachsen in Armut – all diese deutschen Verhältnisse widersprechen den elementaren Grundsätzen des in der Verfassung verankerten sozialen Rechtsstaats.
Das Verfassungsgericht hat versäumt, die Verwirklichung des sozialen gegenüber dem bürgerlich-liberalen Rechtsstaat anzumahnen. Außer einer transparenten, begründeten Neuberechnung der Regelsätze hat es den Staat zu nichts verpflichtet. In Zeiten, in denen die wachsende soziale Kluft Menschen gesellschaftlich ausschließt und die Demokratie hohl werden lässt, ist das ein gefährliches Versäumnis.
Doch damit nicht genug: In einem Urteil vom 8. April haben die Karlsruher Richter die volle Anrechnung des Kindergeldes auf den Hartz-IV-Regelsatz ausdrücklich gebilligt. Ausgerechnet die Ärmsten im Lande profitieren also weiterhin nicht von dieser Leistung (und ihrer jüngsten Erhöhung). Mehr noch: Selbst Taschengeldgeschenke von Oma und Opa müssen nach Auffassung des Gerichts ab einer Höhe von 50 Euro vom Regelsatz abgezogen werden.
In Deutschland wird also weiterhin jedes fünfte Kind – höchstrichterlich gebilligt – in Verhältnissen aufwachsen, die es allein aufgrund seiner sozialen Herkunft systematisch benachteiligen. Es wird weiterhin mit seiner alleinerziehenden Mutter oder seinem zum Niedriglohn arbeitenden Vater auf die Tafeln und Almosen angewiesen sein, wie bereits eine Million Menschen in Deutschland. Und sie werden mit Unverständnis und Resignation oder mit Wut und Hass den wachsenden Reichtum einer selbst ernannten Leistungselite verfolgen.
Kein Richterspruch verpflichtet den Gesetzgeber, an diesen ungerechten, undemokratischen Verhältnissen etwas zu verändern. Und das Hartz-IV-Urteil erlaubt mangels Klarstellung zum sozialen Rechtsstaat den Kochs, Sarrazins und Westerwelles weiterhin, ihre sozialrassistische, rechtspopulistische Hetze zu betreiben. (HDH)
1) Siegfried Broß, Redemanuskript vom 10.1.2009.
2) Alfred Katz, Staatsrecht, S. 93.
3) Vgl. Hans Karl Rupp, Vom Antifaschismus zum Antikommunismus: Die Begründung der Bundesrepublik, in: „Blätter“, 5/2009, S. 79-87, hier S. 82 ff.
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