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Globales
Über die Stadt, in der das kommende ESF stattfinden wird
Istanbul
Von Katja Strutz
Nebenbei wird man auch von dieser jungen, dynamischen Gesellschaft mit hoher Kaufkraft profitieren, die sich in den letzten Jahren zum Umschlagplatz für Rohstoffe aus Zentralasien und dem Nahen Osten gemausert hat. Das Aufeinandertreffen dieser Unterschiede ist aber auch der Grund, warum manche die Türkei nicht in der Europäischen Union sehen wollen. Das „Andere", den „clash of cultures", braucht man nicht im imaginierten Hintergarten. Doch auch dorthin schlägt die Türkei Brücken. Brücken schlagen - eine hübsche Metapher und eine, die im Besonderen in Istanbul, die Brücken zwischen dem europäischen und asiatischen Kontinent direkt vor der Nase, an Überzeugungskraft gewinnt.
Hagia Sophia - die "Blaue Moschee"
Foto: GarthT - Wikipedia
Es liegt fast auf der Hand, dass Istanbuls Marketingstrategie die Brücke zum Kernthema macht. Wie in ihrer erfolgreichen Bewerbung als Europäische Kulturhauptstadt 2010: Von der Byzantinischen Kathedrale, vorbei an den neu renovierten „Osmanischen Häusern", in die Blaue Moschee, noch ein kurzer Abstecher zum Teppichkaufen im großen Bazar und dann ab zur Ausstellungseröffnung mit „cheese and wine", bevor man den Abend im Technoclub mit Blick auf den Bosporus beendet. Das geheimnisvolle, mythische Abenteuer, kurz das „Andere", Hand in Hand mit dem „Modernen", macht den Reiz aus. Und deshalb werden sie in Scharen kommen, die Touristen. Angeblich 10 Millionen dieses Jahr, halb so viele wie Paris erwartet.
Europaische Kulturhauptstadt!
Entsprechend flössen die Gelder, die im Rahmen der „Europäischen Kulturhauptstadt 2010" vergeben wurden, fast ausschließlich in Kulturprojekte auf der historischen Halbinsel und Beyoglu, auch wenn dort nur knapp drei Prozent der Gesamtbevölkerung wohnt. So fügt sich auch die Europäische Kulturhauptstadt dem Hauptziel, denn Istanbul wird - das ist das auserkorene Ziel seit nunmehr zwanzig Jahren - eine Global City. Allein im Kulturbereich plant die Stadt zumindest auf dem Papier fünf weitere Kulturzentren, eine professionelle Konzerthalle auf der asiatischen Seite, zwei Museen zur Stadtgeschichte, ein Theatermuseum, zehn Bibliotheken, ein Open-Air-Theater in einem Kulturpark, die Umgestaltung des Viertels Süleymaniye in ein Freilichtmuseum, drei Kongress- und Messezentren und weitere drei Theater mit jeweils mindestens 600 Sitzen bis 2011 zu errichten.
Die Brücke am Bosphorus bei Nacht
Foto: Kara Sabahat - wikipedia
In fast täglichem Rhythmus erfährt der interessierte Zeitungsleser von neuen Superprojekten: Sapphire, der neueste Wolkenkratzer mit integrierter Shopping Mall, welcher mit Wohnungen mit Gärten auf 267 Metern Höhe wirbt, ein Sieben-Sterne-Hotel am Bosporus mit sieben Stockwerken unter Wasser, eine dritte Brücke über den Bosporus - die Liste lässt sich beliebig verlängern. Gemein haben all diese Projekte vor allem eins: Sie sind nicht Teil des Stadtplanungprozesses in Istanbul. Die Vision ist es, bis zum Jahr 2023 die Zahl der Beschäftigten im Dienstleistungssektor von 60 auf 70 Prozent zu erhöhen. Wie ein derartiger sektoraler Strukturwandel - in der Industrie sollen in 13 Jahren 8 Prozent weniger beschäftigt sein - angesichts ungebrochen starker Binnenmigration vonstatten gehen soll, darüber wird sich ausgeschwiegen.
Europäischer Kulturpräsident?
Eine Antwort auf diese Frage findet sich schnell, wenn man die Industriezentren, die Wohnviertel hinter den Superprojekten und den Tourismuskulissen besucht. Von Europäischer Kulturhauptstadt ist hier keine Spur, die Wahrscheinlichkeit ist hoch, auf die Frage nach letzterer einen verständnislosen Blick oder die Versicherung, noch nie davon gehört zu haben, dass die Türkei jetzt „Europäischer Kulturpräsident" wäre, zu ernten. Als Teil des Plans, Istanbul in eine Weltmetropole zu verwandeln, verändert sie dennoch das Leben von Istanbuls Bevölkerung, vor allem in sämtlichen Stadtteilen auf der historischen Halbinsel mit ihrer größtenteils mittellosen Bevölkerung. Die frisch zugewanderten Müllsammler und Straßenverkäufer in Süleymaniyes Junggesellenwohnheimen müssen der Rekonstruktion eines Osmanischen „Mahalle" (= Kiez, Veedel) weichen, die Roma in Sulukule einer innerstädtischen gated Community oder die Kurden und legalisierten Migranten in Tarlabasi einem Transformationsprojekt, welches sich damit rühmt, Tarlabasi zur Champs Elysee zu machen.
Istanbul, in der Mitte die Hagia Sophia
Foto: Josep Renalias - Wikipedia
Als Ausgleich zur Zwangsenteignung bietet die Stadt häufig das Anrecht auf eine der Sozialwohnungen der stadteigenen Firma „TOKI". Diese allerdings sind in den allermeisten Fällen am Rand der Stadt, wo es zwar Wald, aber keine Arbeit gibt. Nicht nur Wohnungen im historischen Zentrum, auch die Gecekondus - informelle slumartige Siedlungen - die zwischen den fünfziger und achtziger Jahren durch Zuwanderer vom Land selbst errichtet wurden, ohne davor einen Grundbucheintrag zu erkaufen, müssen den rasant steigenden Bodenpreisen und Profitraten weichen. „Schandflecken" wie diese haben in einer modernen Metropole nichts zu suchen. Im Zweifelsfall wird dann in den Gecekondus rund ums Olympiastadion in Ayazma eben mal der Strom abgestellt - dann sieht man sie wenigstens nachts nicht.
Dafür, dass Istanbul sich selbst gerne als Stadt sieht, die Brücken schlägt, ist sie doch auffällig angestrengt damit beschäftigt alle Verbindungen zu ihrer einkommensschwachen, sogenannten bildungs- und kulturlosen Bevölkerung einzureißen. Doch diese Brücke wäre von viel vitalerem Interesse als Brücken zwischen Ost und West... (HDH)
Online-Flyer Nr. 255 vom 23.06.2010
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Über die Stadt, in der das kommende ESF stattfinden wird
Istanbul
Von Katja Strutz
Nebenbei wird man auch von dieser jungen, dynamischen Gesellschaft mit hoher Kaufkraft profitieren, die sich in den letzten Jahren zum Umschlagplatz für Rohstoffe aus Zentralasien und dem Nahen Osten gemausert hat. Das Aufeinandertreffen dieser Unterschiede ist aber auch der Grund, warum manche die Türkei nicht in der Europäischen Union sehen wollen. Das „Andere", den „clash of cultures", braucht man nicht im imaginierten Hintergarten. Doch auch dorthin schlägt die Türkei Brücken. Brücken schlagen - eine hübsche Metapher und eine, die im Besonderen in Istanbul, die Brücken zwischen dem europäischen und asiatischen Kontinent direkt vor der Nase, an Überzeugungskraft gewinnt.
Hagia Sophia - die "Blaue Moschee"
Foto: GarthT - Wikipedia
Es liegt fast auf der Hand, dass Istanbuls Marketingstrategie die Brücke zum Kernthema macht. Wie in ihrer erfolgreichen Bewerbung als Europäische Kulturhauptstadt 2010: Von der Byzantinischen Kathedrale, vorbei an den neu renovierten „Osmanischen Häusern", in die Blaue Moschee, noch ein kurzer Abstecher zum Teppichkaufen im großen Bazar und dann ab zur Ausstellungseröffnung mit „cheese and wine", bevor man den Abend im Technoclub mit Blick auf den Bosporus beendet. Das geheimnisvolle, mythische Abenteuer, kurz das „Andere", Hand in Hand mit dem „Modernen", macht den Reiz aus. Und deshalb werden sie in Scharen kommen, die Touristen. Angeblich 10 Millionen dieses Jahr, halb so viele wie Paris erwartet.
Europaische Kulturhauptstadt!
Entsprechend flössen die Gelder, die im Rahmen der „Europäischen Kulturhauptstadt 2010" vergeben wurden, fast ausschließlich in Kulturprojekte auf der historischen Halbinsel und Beyoglu, auch wenn dort nur knapp drei Prozent der Gesamtbevölkerung wohnt. So fügt sich auch die Europäische Kulturhauptstadt dem Hauptziel, denn Istanbul wird - das ist das auserkorene Ziel seit nunmehr zwanzig Jahren - eine Global City. Allein im Kulturbereich plant die Stadt zumindest auf dem Papier fünf weitere Kulturzentren, eine professionelle Konzerthalle auf der asiatischen Seite, zwei Museen zur Stadtgeschichte, ein Theatermuseum, zehn Bibliotheken, ein Open-Air-Theater in einem Kulturpark, die Umgestaltung des Viertels Süleymaniye in ein Freilichtmuseum, drei Kongress- und Messezentren und weitere drei Theater mit jeweils mindestens 600 Sitzen bis 2011 zu errichten.
Die Brücke am Bosphorus bei Nacht
Foto: Kara Sabahat - wikipedia
In fast täglichem Rhythmus erfährt der interessierte Zeitungsleser von neuen Superprojekten: Sapphire, der neueste Wolkenkratzer mit integrierter Shopping Mall, welcher mit Wohnungen mit Gärten auf 267 Metern Höhe wirbt, ein Sieben-Sterne-Hotel am Bosporus mit sieben Stockwerken unter Wasser, eine dritte Brücke über den Bosporus - die Liste lässt sich beliebig verlängern. Gemein haben all diese Projekte vor allem eins: Sie sind nicht Teil des Stadtplanungprozesses in Istanbul. Die Vision ist es, bis zum Jahr 2023 die Zahl der Beschäftigten im Dienstleistungssektor von 60 auf 70 Prozent zu erhöhen. Wie ein derartiger sektoraler Strukturwandel - in der Industrie sollen in 13 Jahren 8 Prozent weniger beschäftigt sein - angesichts ungebrochen starker Binnenmigration vonstatten gehen soll, darüber wird sich ausgeschwiegen.
Europäischer Kulturpräsident?
Eine Antwort auf diese Frage findet sich schnell, wenn man die Industriezentren, die Wohnviertel hinter den Superprojekten und den Tourismuskulissen besucht. Von Europäischer Kulturhauptstadt ist hier keine Spur, die Wahrscheinlichkeit ist hoch, auf die Frage nach letzterer einen verständnislosen Blick oder die Versicherung, noch nie davon gehört zu haben, dass die Türkei jetzt „Europäischer Kulturpräsident" wäre, zu ernten. Als Teil des Plans, Istanbul in eine Weltmetropole zu verwandeln, verändert sie dennoch das Leben von Istanbuls Bevölkerung, vor allem in sämtlichen Stadtteilen auf der historischen Halbinsel mit ihrer größtenteils mittellosen Bevölkerung. Die frisch zugewanderten Müllsammler und Straßenverkäufer in Süleymaniyes Junggesellenwohnheimen müssen der Rekonstruktion eines Osmanischen „Mahalle" (= Kiez, Veedel) weichen, die Roma in Sulukule einer innerstädtischen gated Community oder die Kurden und legalisierten Migranten in Tarlabasi einem Transformationsprojekt, welches sich damit rühmt, Tarlabasi zur Champs Elysee zu machen.
Istanbul, in der Mitte die Hagia Sophia
Foto: Josep Renalias - Wikipedia
Als Ausgleich zur Zwangsenteignung bietet die Stadt häufig das Anrecht auf eine der Sozialwohnungen der stadteigenen Firma „TOKI". Diese allerdings sind in den allermeisten Fällen am Rand der Stadt, wo es zwar Wald, aber keine Arbeit gibt. Nicht nur Wohnungen im historischen Zentrum, auch die Gecekondus - informelle slumartige Siedlungen - die zwischen den fünfziger und achtziger Jahren durch Zuwanderer vom Land selbst errichtet wurden, ohne davor einen Grundbucheintrag zu erkaufen, müssen den rasant steigenden Bodenpreisen und Profitraten weichen. „Schandflecken" wie diese haben in einer modernen Metropole nichts zu suchen. Im Zweifelsfall wird dann in den Gecekondus rund ums Olympiastadion in Ayazma eben mal der Strom abgestellt - dann sieht man sie wenigstens nachts nicht.
Dafür, dass Istanbul sich selbst gerne als Stadt sieht, die Brücken schlägt, ist sie doch auffällig angestrengt damit beschäftigt alle Verbindungen zu ihrer einkommensschwachen, sogenannten bildungs- und kulturlosen Bevölkerung einzureißen. Doch diese Brücke wäre von viel vitalerem Interesse als Brücken zwischen Ost und West... (HDH)
Online-Flyer Nr. 255 vom 23.06.2010
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