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Aktueller Online-Flyer vom 26. Dezember 2024  

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Arbeit und Soziales
Trotz Krise des Europäischen Sozialforums:
Ein anderes Europa ist nötig
Von Silke Veth

„Ein anderes Europa ist nötig!", lautet der Aufruf des Europäischen Sozialforums, dem politischen Treffpunkt vieler sozialer Bewegungen, linker Netzwerke, kritischer WissenschaftlerInnen und Nichtregierungsorganisationen, das vom 1.-4. Juli 2010 in Istanbul stattfand. Im Angesicht des globalen Klimawandels, der Festung Europa und der massiven Krisenabwälzungen auf die abhängig Beschäftigten und Erwerbslosen sollten die vielfältigen Stimmen für ein anderes Europa gebündelt werden und das Forum zu einem „Labor des internationalen Widerstands" werden.

Istanbul 2010 war das sechste Europäische Sozialforum seit 2001. (Link: Text „Prager Frühling). Istanbul war ein besonderer Ort für die Austragung des Forums. Vor dem Hintergrund der anhaltenden Debatten um den EU-Beitritt der Türkei und die vermeintlichen Grenzen Europas, aber auch, weil Istanbul Transit-Stadt ist für viele MigrantInnen, Flüchtlinge oder SexarbeiterInnen auf ihrem Weg in die EU. 2009 wurde die 20-jährige Städtepartnerschaft Berlin-Istanbul gefeiert. Istanbul ist dieses Jahr Europäische Kulturhauptstadt. Das ESF sollte einen wichtigen Kontrapunkt setzen zu den glamourösen Feierlichkeiten und den westlichen Klischeevorstellungen einer exotischen Metropole zwischen 'Orient' und 'Okzident'.



Zwischen europaweitem Sozialprotest....

Missverhältnis zwischen institutionalisierter Linke und sozialen Bewegungen

Der erhoffte Impuls, der von Istanbul ausgehen sollte, ist nicht erfolgt. Neben der europäischen Krise war beinahe genauso oft von der Krise des ESF zu hören. Die Eröffnungsveranstaltung, die mit der Abschlussdemo des Treffens des „World March of Women“ am 30. Juni begann, war laut und feministisch. 3.000 Menschen nahmen dann nur in den nächsten drei Tagen an den Seminaren teil. Lediglich zur Abschlussdemonstration waren rund 10.000 Leute auf der Straße. Es ist eine Entwicklung zu beobachten, die sich schon vor zwei Jahren in Malmö angedeutet hatte und vielleicht mittlerweile widersprüchlich zum Gedanken des Sozialforums, ein wachsender Ort für einen breiten Austausch und neue Allianzen sein zu wollen, ist: Das ESF ist immer mehr ein Ort, an dem sich Netzwerke treffen und der damit auch relativ geschlossen wirkt. Gleichzeitig haben traditionelle Seminare, Kommunikationsformen und die Präsenz von FunktionärInnen zugenommen.





Das Spannungsverhältnis zwischen einer institutionalisierten Linken und sozialen Bewegungen war schon von Anfang an präsent. Problematisch ist heute, dass sich das quantitative Verhältnis stark zuungunsten der Bewegungen verändert hat. Es fehlten die Intellektuellen Europas sowie eine Kunst- und Kulturszene, die für emanzipative, queere Forderungen eines anderen Europas stehen. Es ist paradox: Wir haben eine Schwäche der Bewegung in einer politischen Situation, die förmlich nach Verständigung schreit. Der Charme des Neuen ist jedoch endgültig weg und diejenigen, für die das ESF noch Bezugspunkt ist, müssen sich fragen, wie dieses wieder attraktiv werden kann. Dazu gehört z.B. auch die internationalen und transnationalen Bezüge und Kontakte des ESF zu stärken, um das globale Setting der Krise nicht aus den Augen zu verlieren, so Raffaela Bollini, Vertreterin der italienischen Koordination des ESF und WSF.

Alte und neue Kämpfe

Betrachtet man die thematische Vielfalt der Veranstaltungen, war natürlich die Analyse der Konsequenzen der Krise und die Entwicklung von Alternativen stark präsent – wenn auch oft sehr konventionell  umgesetzt. Darüber hinaus spielten die Fragen der Repression in der Türkei und insbesondere in Kurdistan sowie die Frage des Widerstands gegen Großprojekte und Privatisierungen im Wassersektor eine große Rolle. Die Bewegungen gegen Staudammprojekte haben das Forum zum großen Teil als Ort für ihre Vernetzung genutzt. Auch Konflikte im Bereich der Arbeits- und Gewerkschaftsrechte, der Bildungspolitik und der Formierung einer europäischen Rechten spielten eine große Rolle. Feministische und queere Seminare konnte man mit der Lupe suchen.





Zum ersten Mal auf einem ESF in einem relevanten Maße sichtbar waren die Diskussionen und Aktionen der Bewegung für Klimagerechtigkeit, die seit Kopenhagen im Dezember vergangenen Jahres viel Dynamik entwickelt hat. Vielerorts wurde klar, dass Fragen ökologischer und sozialer Gerechtigkeit verbunden werden müssen und dies andere Formen der Reproduktion und Produktion nach sich ziehen muss. Es geht um eine Deglobalisierung aus linker Perspektive, so Ewa Charkiewicz vom feministischen Netzwerk WIDE. Diese Debatte birgt Sprengstoff für die europäische Linke. Das zeigt zum Beispiel die Diskussion in der Abschlussversammlung, als von einem Vertreter des Climate Justice Network das Mobilisierungsmotto „No Cuts – More Growth“ des Europäischen Gewerkschaftsbundes für den Aktionstag am 29. September 2010 scharf kritisiert wurde.

Nichtsdestotrotz: Die Debatten der Klimabewegung sind im ESF angekommen. Zwei Bewegungen, die es geschafft haben, jenseits von überladenen Riesenpodien neue Formen der Auseinandersetzung zu finden und sich mit Bewegungen vor Ort zu vernetzen, sind die AktivstInnen im Feld stadtpolitischer Kampfe, des „Recht auf Stadt“ und gegen Vertreibung sowie die migrationspolitischen Netzwerke. Beide waren mit einem eigenen thematischen Programm sichtbar und haben sowohl Veranstaltungen im Rahmen des ESF angeboten wie auch zusammen mit Gruppen vor Ort Aktionen und Diskussionen in den Vierteln und an relevanten Orten der Auseinandersetzung initiiert. Das lokale Netzwerk „Kein-Mensch-ist-illegal" organisierte eine Demonstration vom ESF-Tagungsort zum Abschiebegefängnis in Kumkapi, einem Stadtteil von Istanbul, in dem unter unmenschlichen Bedingungen Flüchtlinge u.a. aus Pakistan, Bulgarien, Kurdistan und afrikanischen Ländern untergebracht sind.

Konzept des offenen Raums

Ein Plädoyer für den offenen Prozesscharakter der Sozialforen hielt der Brasilianer Chico Whitaker, einer der Gründungsväter des Weltsozialforums. Für ihn ist das Sozialforum der Ort, an dem vergangene und zukünftige politische Aktionen gemeinsam reflektiert werden, dies sich dann jeweils vor Ort wieder konkretisieren und umsetzen. Das Sozialforum ist für ihn ein Werkzeug für die Reflektionsphase und erfüllt diese Aufgabe umso besser, wenn es möglichst viele unterschiedliche Akteure versammelt und gegenseitiges Verständnis  ermöglicht. Das ESF, so Whitacker, muss dafür wachsen, die Charta von Porto Alegre ist die Methode, zum Erfolg zu kommen. Wie dies praktisch umgesetzt werden kann, zeigt das eine Woche vorher dem ESF stattgefundene US-Sozialforum in Detroit, das mit 1.200 selbstorganisierten Veranstaltungen und horizontalen Workshopkonzepten von vielen Teilnehmenden als großer Erfolg eingeschätzt wurde. Das lag vor allem daran, dass sowohl die Vorstellung des „open space“, d.h. das Versprechen, „wenn du hierher kommst, wirst du nicht instrumentalisiert“, sehr deutlich kommuniziert als auch ein Konzept der Intentionalität verfolgt wurde, d.h. die verschiedenen Spektren der sozialen Linken und Zivilgesellschaft vom Organisationsteam gezielt zur Teilnahme und Vorbereitung aufgefordert wurden. Zudem wurde dem „Right Attitude“, d.h. der gegenseitigen Achtung vor der jeweiligen Andersartigkeit hohe Priorität zugemessen. Dazu gehört, dass auch der „dümmste“ Vorschlag ernsthaft diskutiert wird, so Francine Mestrum, eine Vertreterin des Detroiter Sozialforums.  





Im Rahmen des ESF wird das Konzept des offenen Raums jedoch immer schwieriger umsetzbar, weil sich grob formuliert, eine Struktur herausgebildet hat, die Macht hat, aber nicht kontrolliert werden kann, weil sie offiziell keine Macht hat. Das Konzept der Horizontalität funktioniert eben auch nur, wenn die TeilnehmerInnen sich weiterentwickeln, lernen und Vereinbarungen von Arbeitsschritten auch in den jeweiligen Bewegungen in ihren Ländern umgesetzt werden. Daran muss in der nächsten Zeit gearbeitet werden.

Zwischen progressivem Chaos und mangelnder Organisation

Schon in den vergangenen Wochen und Monaten war ersichtlich, dass die Vorbereitungsgruppe des diesjährigen ESF mit Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Die vereinbarte Unterstützung von TeilnehmerInnen aus mittel- und osteuropäischen Ländern konnte nur in letzter Minute wirklich zugesagt werden, die Bereitstellung einer Übersetzungsstruktur war prekär. Der Punkt ist wahrscheinlich gekommen, dass, gerade wenn in Zukunft das ESF in Ländern stattfinden wird, die über weniger Ressourcen, Know-how verfügen und zudem die Linke schwach und/oder gespalten ist, eine transnationale Organisierung des Forums umso wichtiger wird und die Vorbereitungsgremien, die so genannten European Prepatory Assemblies, kurz EPAs, wieder mehr Verantwortung diesbezüglich übernehmen müssen.

Wie weiter?

Die Krise des ESF bzw. der europäischen Linken, die das ESF organisieren und verkörpern sollten, war am letzten Tag in der „Final Assembly“, der Schlussversammlung auch zu spüren. Es gab keinen Vorschlag zu eigenen Initiativen des ESF , sondern es wurde aufgefordert, sich an der europaweiten Mobilisierung der Gewerkschaften am 29. September 2010 zu beteiligen. Zweifelsohne sind die Gewerkschaften wichtige Akteurinnen des Prozesses. Dennoch: Dies wird einem großen Teil der Bewegung, der heute fehlt, aber wichtig für die Heterogenität und auch die Attraktivität des ESF ist, wieder ein Beweis sein, dass das ESF sich immer mehr zu einem Ort entwickelt, wo klassische linke Diskussionen präsent sind, aber nicht der Austausch mit progressiven, neuen Bewegungen, die hegemoniale Lösungsansätze in der Linken in Frage stellen, anders organisiert und vernetzt sind, gesucht wird. Über dieses Problem der Vereinseitigung des ESF, das entscheidend zu seiner schleichenden Marginalität beiträgt, muss nun in einem breiten Konsultationsprozess mit den Bewegungen in den einzelnen Ländern diskutiert werden.



...und Workshop
Fotos: Erwin Heil, Anne Steckner / Rosa-Luxemburg-Stiftung

In einer Versammlung der europäischen Bewegungen am 23/24.10.10 oder 13./14.11.10 in Paris soll dann weiter über die Mobilisierung und Koordinierung der europäischen Linken diskutiert werden, das diesjährige ESF ausgewertet und die Zukunft des europäischen Sozialforum-Prozesses in die Hand genommen werden. Hoffentlich in einer Art und Weise, dass das ESF wieder entwicklungsfähig wird, Attraktivität und Größe zurückgewinnt und noch genügend Raum für Dinge lässt, die wir uns heute noch gar nicht denken können. (HDH)

Die Autorin ist Referentin für internationale Politik und soziale Bewegungen der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Die RLS bietet zum Europäischen Sozialforum eine Sonderseite an. Der Artikel erschien ebenfalls in der "Crossover-Ausgabe" des Prager Frühling.


Online-Flyer Nr. 257  vom 07.07.2010

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