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Aktueller Online-Flyer vom 27. Dezember 2024  

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Arbeit und Soziales
„Es hat mich gereizt, etwas Besonderes zu machen"
Interview mit Ruedi Jörg Fromm
Von Hanne Schweitzer

Der Schweizer Ruedi Jörg-Fromm, seit drei Jahren im Ruhestand, befand sich gerade in einer Phase, wo er sich fragte, was er im Leben noch unternehmen könne. Dann las er in der NZZ von "2 – 3 Straßen". So heißt das einjährige Projekt, das der Konzeptkünstler Jochen Gerz für die Kulturhauptstadt RUHR.2010 realisiert, und das übrigens jederzeit, wie eine Ausstellung, besichtigt werden kann. „Und am Ende wird meine Straße nicht mehr die gleiche sein ...“ beschreibt die Intention von 2 -3 Straßen. Soziale Veränderungen sollen bewirkt werden. Ruedi war interessiert und ist aus Zürich nach Mülheim an der Ruhr gezogen.
   
Er war nicht der Einzige. Auf die Anzeige „GRUNDGEHALT: 1 JAHR

Ruedi Jörg-Fromm
Foto: Sabitha Saul
MIETFREI WOHNEN“ hatten sich 1.447 BewerberInnen aus der ganzen Welt gemeldet. Es fanden sich leider nur drei Wohnungsbaugesellschaften, die bereit waren, aus ihrem Leerstand ein Jahr lang sanierte Wohnungen in typischen Ruhrgebietsstraßen zur Verfügung zu stellen: Kaltmiete-frei.
 
Ausgewählt wurden 22 Frauen und 56 Männer zwischen 19 und 68 Jahren. Sie sind aus Deutschland, Marokko, Russland und Japan, aus Österreich, der Schweiz, den Niederlanden und der Slowakei ins Ruhrgebiet gezogen und leben seit Anfang des Jahres in Dortmund, Duisburg oder, wie Ruedi und 20 weiter ProjektteilnehmerInnen, in einem 20stöckigen Doppelhochhaus aus den 70iger Jahren am Hans-Böckler-Platz in Mülheim an der Ruhr.
 
Als Gegenleistung für das Jahr ohne Kaltmiete haben sich die TeilnehmerInnen vertraglich dazu verpflichtet, jeden Tag etwas über ihr Leben im Revier zu schreiben und an ein digitales Archiv zu schicken, wo es für die AutorInnen weder einsehbar noch korrigierbar ist. Während des Projektverlaufs veränderte sich aber die Aufgabenstellung. Die TeilnehmerInnen wurden von Jochen Gerz aufgefordert, eigene Aktivitäten in ihrem direkten Wohnumfeld zu realisieren.
 
Bei herrlichem Sommerwetter sitze ich mit Ruedi am 17.6. 2010 in einem Biergarten an der Ruhr.
 
Wie hast Du von dem Projekt erfahren?
 
Die Neue Zürcher Zeitung hatte die Projektausschreibung veröffentlicht. Ich war interessiert, weil ich gerade in einer Phase war, wo ich mich fragte, was ich noch unternehmen könne. Ich war schon drei Jahre im Ruhestand, aber mit ehrenamtlichen Arbeiten beschäftigt.
Es hat mich gereizt, noch etwas Besonderes zu machen, etwas länger wohin zu gehen. Ich lebte seit 38 Jahren im selben Quartier, in einer Umgebung, wo es überschaubar ist, wo man zum Teil auch die Nachbarn kennt. Ich bin 41 Jahre verheiratet und hatte das Bedürfnis, etwas Neues zu machen, solange es noch möglich ist.
 
Hinzu kommt: Das Ruhrgebiet interessierte mich schon früher. Ich las von den Umstrukturierungen, von den kulturellen Einrichtungen, welche die Region wieder beleben und Alternativen schaffen sollen für die untergehende Industrie. Kultur wird immer wichtiger, weil die Sinngebung durch Arbeit abnimmt. Man findet nicht mehr durch Arbeit ins Leben hinein. Vielleicht hat man gar keine Arbeit oder eine prekäre. Kultur ist aber das, was man selber gestalten kann.
 
War das ein einsamer Entschluss oder wurde er in der Familie diskutiert?
 
Wenn man so lange verheiratet ist, hat man gelernt, dass man diskutieren muss und nicht einfach einsame Beschlüsse fassen kann. Ich habe darüber mit meiner Frau geredet und sie fand das auch o.k. - solange es noch in der unverbindlichen Phase war. So wie ich auch, dachte sie: Schauen wir mal, was das sein könnte. Als es aber darum ging, sich festzulegen, die Verträge zu unterschreiben, den Mietvertrag und die Vereinbarungen mit Jochen Gerz, kam eine kritische Phase in unserer Beziehung. Magdalena, so heißt meine Frau, spürte: Das geht doch etwas ans Lebendige.
 
Wir haben schwierige Diskussionen gehabt. Das ging so weit, dass wir dachten, jetzt brauchen wir eine Mediation, also eine unabhängige Beratung, damit wir über das Problem mit einer Person reden konnten, die sich das unabhängig von außen anschaut. Das hat dazu geführt, dass Magdalena sagte, sie könne mir das nicht verbieten. Es sei besser, sie mache gute Miene zum bösen Spiel. Es sei besser, statt sich zu verweigern, konstruktiv mitzumachen, indem sie zustimmt und auch die positiven Seiten sieht: Dass sie mich ja besuchen kann, dass sich vielleicht unsere Beziehung etwas verändert, und in einem positiven Sinn - das, was schon etwas festgefahren ist - im Alltagsleben, in den Gewohnheiten, aufgefrischt wird.
 
Interessant ist: Da wird eine Entscheidung gefällt. Aber es gibt Rückfälle. Es gab schwierige Situationen, als es an die Planung ging. Magdalena hat doch wieder eine vorwurfsvolle Haltung eingenommen. Ich spürte, sie hat es nicht ganz akzeptiert. Das geht ja auch nicht nur rational.
 
Aber sie war sehr verständnisvoll und selbstständig genug, sich vorstellen zu können, das Jahr allein zu leben. Die Bedingungen waren günstig, weil sie viele verwandtschaftliche Beziehungen hat. Sie hat vier Schwestern, und wir haben Enkelkinder, zwei Mädchen, die jetzt sechs- und achtjährig sind, die hüten wir regelmäßig. Interessant ist, dass ich diese Aufgabe ohne große Wallungen aufgeben konnte für ein Jahr. Meine Frau hätte es nicht fertiggebracht, wegzugehen, und ihre Großmutterpflichten aufzugeben. Da sieht man schon, dass man unterschiedlich funktioniert.
 
Ist die Teilnahme am Projekt von Jochen Gerz ein großer Schritt in die Welt?
 
Ja schon. So lange wie hier, für ein Jahr, war ich noch nicht weg. Ich war hauptsächlich als Lehrer tätig. Das war in Zürich. Ich habe Aktivitäten gehabt, die mich nach Bern geführt haben, das ist die Hauptstadt der Schweiz. Oder ich war hier und da im Ausland zur Weiterbildung auf Studienreisen.
 
Man findet sich im Ruhrgebiet rasch zurecht als Schweizer. Bei der Sprache und dem Essen ist der Unterschied relativ gering, das war nicht so eine große Veränderung. Aber von der Familiensituation her, allein leben, das ist ganz etwas Neues für mich.
 
Warst Du zuvor schon einmal im Ruhrgebiet?
 
Ich kannte das Ruhrgebiet nur vom Durchfahren. Ich habe aber viel gelesen über den Strukturwandel, und ich bin interessiert etwas zu erfahren über die Vergangenheit, die Geschichte der Schwerindustrie, was das für die Menschen bedeutet hat, wie die Menschen jetzt leben, nach diesem Wandel. Ich bin ja von der Ausbildung her Soziologe, deshalb ist die Gesellschaft, der soziale Wandel ein Thema für mich. Ich bin stark geprägt durch diese Ausbildung und durch meine berufliche Tätigkeit.
 
Ich stelle immer wieder fest, dass es nicht so viele Menschen gibt, die diese Interessen teilen. Das macht mich manchmal etwas einsam. Ich ertappe mich immer wieder dabei, dass ich gerne nach den Hintergründen frage. Warum ist das so, warum sind die Menschen so? Da bin ich anders als meine Frau. Es ist eigentlich erstaunlich, dass wir so lange zusammen leben. Sie ist nicht so ein komplexer, kopflastiger Mensch. Ich kann mit ihr über diese Dinge, die mich interessieren, nicht so ausführliche Gespräche führen.
 
Wusstest Du, dass Du in Mülheim in einem Hochhaus wohnen würdest?
 
Man konnte sich die Stadt wünschen. Ich habe Mülheim angegeben, weil ich dachte, Mülheim ist überschaubar, nicht so anonym, so groß. Die Einkaufsmöglichkeiten spielten für mich eine Rolle, weil ich kein Auto habe, und ich wusste, dass ich mit der Bahn häufig unterwegs sein würde, und deshalb war wichtig, dass ich die Bahn gut erreiche. Das ist in Duisburg und Dortmund etwas schwieriger. Da muss man zuerst noch das Tram nehmen, bevor man die Bahn erreicht.
 
Bevor ich die Verträge unterschrieb, bin ich im Oktober nach Mülheim gefahren, um mir das Hochhaus von außen anzuschauen. Das fand ich sogar interessant. Ich kam noch einmal im Dezember, um Möbel einzukaufen, da konnte ich die Wohnung anschauen, im siebten Stock. Ich war auch an der Ruhr und dachte, dass es schön sein kann, im Sommer da im Biergarten zu sitzen. Das hat sich bestätigt.
 
Bist Du schon mit Ideen für Projekte nach Mülheim gekommen?
 
So konkret war es ja nicht am Anfang. Man wurde darauf vorbereitet, dass man die Kunst nicht als etwas Abgehobenes versteht, sondern als etwas, das etwas auslöst, und man selbst sollte etwas zu einer Veränderung beitragen. Durch die Rückfragen nach der Bewerbung wurde man schon veranlasst, zu überlegen: Was würde ich machen? Was bedeutet für mich das Schreiben?
 
Es hat sich dann herausgestellt, dass doch konkretere Erwartungen vorhanden waren. Es gab Spannungen am Anfang. Einerseits hat Jochen Gerz die Offenheit des Projekts betont, aber andererseits hieß es: Jetzt macht mal, ihr seid nicht nur da, um auf der Insel zu hocken. Bringt euch ein! Da spürte man, dass es Erwartungen der Sponsoren an das Projekt gibt, dass etwas sichtbar wird.
 
Es entstand ein gewisser Druck, vorzeigbare Aktivitäten zu planen. Und es gab einen gewissen Unmut. Viele Teilnehmer sagten zu Recht, wir sind hier, um zu schreiben. Wir müssen die Copyright-Vorgaben beachten, aber sonst haben wir keine Verpflichtungen. Die Gegenleistung, dass man ein Jahr lang mietfrei wohnen kann, ist nicht so gewaltig. Die Nebenkosten muss man selbst bezahlen.
 
Die Nebenkosten stellen aber für junge Leute, die kein festes Einkommen haben, eine erhebliche Belastung dar. Sie sind höher als normal, weil es im Haus einen Conciergedienst gibt, ein Schwimmbad und so weiter. Deshalb haben die jungen Leute, die arbeiten müssen, gesagt: Wir können nicht beliebig Zeit in Aktivitäten stecken, wo monetär nichts rausschaut.
 
Im Nachhinein finde ich es aber gut, dass man uns etwas gepuscht hat. Man muss ja eine gewisse Trägheit überwinden. Nur die Art und Weise war nicht so gut.
 
Viele Projektteilnehmer sind jünger.
 
Von den am Projekt Teilnehmendem ist der nächst Ältere 60, aber der ist erst vor drei Wochen gekommen. Vorher war der nächst Ältere 47, das ist schon ein Generationenunterschied. Aber es ist für mich eine Chance, einen Austausch zu haben, den ich sonst nicht haben kann. Das ginge zwar auch mit meinen beiden Söhnen, die interessiert sind, aber da ist ja immer das Vater/Sohn Verhältnis, das man nicht wegbringt. Deshalb sind diese neuen partnerschaftlichen Kontakte eine Chance für mich.
 
Ein Kollege aus dem Projekt hat mich z.B. aufmerksam gemacht, auf einen Artikel aus dem Spiegel, der nach der Kopenhagen-Konferenz (Klimagipfel) erschienen ist. Ein typischer Spiegelartikel. Die Themen werden süffisant und oberflächig abgehandelt. Wissenschafter, die sagen, dass es wichtig sei, zu beachten, dass die Klimaerwärmung nicht über 2 % hinausgeht, werden als Klimapäpste lächerlich gemacht.
 
Für mich ist die Klimaproblematik ein deutliches Zeichen, dass wir ein gemeinsames Schicksal haben und die ganze Welt betrachten sollten, nicht nur die Nachbarschaft. Das Projekt ist mir etwas zu eng, wenn man es nur auf die Veränderung im Hochhaus begrenzt. Die Welt ist ja auch deshalb spannend, weil vieles mit vielem zusammenhängt.
 
Wir haben darüber gesprochen, was nötig wäre, um die Klimaerwärmung, die sich anbahnt, vielleicht noch aufzuhalten. Dabei habe ich einen Einblick bekommen, dass die jungen Leute eine grundsätzliche Skepsis gegenüber Autoritäten, gegenüber Organisationen und gegenüber der Klimapolitik haben. Sie sind skeptisch gegenüber allem, was sie so hören. Das ist ein Unterschied zu meiner 68iger Generation. Wir waren auch sehr kritisch, wir haben uns aber eine eigene Weltsicht erarbeitet. Daher habe ich meine Überzeugungen und deshalb glaube ich, dass sich die Welt erklären lässt. Und wenn es nicht so läuft, wie es sollte, gibt es wieder Gründe dafür.
 
Begegnen Dir als älterem Herrn die jüngeren Projektteilnehmer anders?
 
Auf der sachlichen Ebene, wenn es um das Projekt geht, eigentlich nicht. Da spüre ich eher, dass sie mein Alter als eine Qualität sehen. Weil ich mehr Lebenserfahrung habe und im gewissen Sinne einen Durchblick habe oder haben könnte.
 
Aber wenn es um´s Privatleben geht, um`s Gesellige, versuche ich gar nicht, ebenbürtig zu sein. Ihr Freizeitverhalten ist schon anders. Wenn wir z.B. eine Party machen, beginnt das um 10 Uhr, aber ich gehe meist schon um 11 ins Bett. Schon die Gewohnheit, dass es bei einer Party Hintergrundmusik hat, stört mich eigentlich. Es ist ohnehin schon laut genug, wenn 20 Leute in einer Wohnung sind, so dass es nicht so leicht ist, sich zu verständigen. Aber es gehört dazu, in der Jugend Musik abzuspielen. Ich habe mehr eine Regelmäßigkeit, eine Tagesstruktur.
 
Macht das Alter einen Unterschied, wenn jemand zum Handelnden wird?
 
Das Zusammentreffen von Menschen ist eine große Ressource. Eigentlich müsste man sagen, die ist altersabhängig. Man hat als Älterer so viele Dinge gesehen, so viele Beziehungen hergestellt. Aber ein Kind ist vielleicht viel interessierter als ein Erwachsener.
 
Ich glaube, die Jüngeren haben einen Vorsprung, weil sie spontaner sind. Sie überlegen sich nicht alle Für und Wider so gründlich, wie ich. Ich bin ohnehin ein Mensch, der etwas kompliziert ist, der viel überlegt, bevor er etwas macht. Bei diesem Bioeinkaufsführer für Mülheim z.B., den ich mit einer anderen Projektteilnehmerin zusammenstelle, muss man ja erklären, worauf man achten soll, auch die Biolabel spielen eine Rolle. Da habe ich den Eindruck, dass meine Erfahrung nützlich ist. Ich weiß, was man wie gewichtet, was man auswählt. Da ist meine Lebensgeschichte eine Chance. Das Zusammenwirken ist gut, wenn jemand unbekümmert an die Sache rangeht.
 
Eine andere Aktivität im Hochhaus, an der ich beteiligt bin, dient dem besseren Kennenlernen der Mieter untereinander. Die 20 Etagen im Hochhaus tragen bisher nur die Namen europäischer Hauptstädte, außereuropäische kommen nicht vor. Auf einer sogenannten Hausreise haben die Mieter, die nicht aus Europa sind, Gelegenheit, sich und ihr Land vorzustellen. Da wird dann, wenigstens vorübergehend, dem vorhandenen Städtenamen ein außereuropäischer Städtenamen hinzugefügt.
 
Während der Planung gab es eine Besprechung mit einer beteiligten Familie, und das Fernsehen war dabei. Sie wollten zeigen, wie die neuen und die bisherigen Bewohner zusammenwirken. Da habe ich gemerkt, mir macht das nicht so viel aus, mit der Familie zu reden, während das Fernsehen dabei ist. Ich habe Erfahrung mit dem Führen von Gesprächen, ich weiß, worauf man achten sollte.
 
Hast Du durch die Projektteilnahme eine neue Sicht auf das Leben bekommen?
 
Ja. Einmal in dem Sinne, wie wichtig der kulturelle Austausch ist und die Stärkung der kulturellen Kräfte. Das merke ich, weil ich ja aufgrund meiner Interessen überall Anknüpfungspunkte habe. Dann gibt mir das Projekt eine Art Empowerment. Ich bin ermächtigt, Dinge zu machen, die ich mir vorher kaum zugetraut hätte. Zum Beispiel habe ich mit einigen Projektteilnehmern das WM-Fußballspiel geschaut, Schweiz gegen Spanien. Und ich habe gespürt, die Schweizer könnten gut abschneiden, vielleicht gewinnen. Da habe ich gesagt, ich mache einen Striptease, wenn die Schweizer gewinnen. Die Idee ist gekommen, weil mir meine Frau eine Unterhose zur Fußballweltmeisterschaft geschenkt hat, mit der Abwehr drauf. Und nachdem die Schweizer das Spiel gewonnen haben, habe ich gedacht, diese Unterhose, die könnte ich jetzt mal zur Geltung bringen und habe im Projektbüro einen Striptease gemacht. Das ist ein Beispiel dafür, dass ich mir etwas zugetraut habe, was ich früher nicht gemacht hätte.
 
Das Klima untereinander hier ist so wohlwollend. Man schätzt mich so, dass ich das machen kann und nicht Angst haben muss, ausgelacht oder düpiert zu werden. Dieses Klima des Vertrauens und Wohlwollens ist etwas vom Positiven, was ich hier erlebe. Es hat ein gutes Wort dafür. Die Kultur ist ein guter Resonanzboden. Hier bekomme ich Resonanz bei dem, was mich beschäftigt.
 
Hast Du ein bisschen Angst davor, was mit deinem Leben wird, wenn das Projekt vorbei ist?
 
Eigentlich nicht. Ich glaube, ich kann schon etwas mitnehmen von hier. In meinem Leben in der Schweiz habe ich oft die Einsamkeit gespürt, weil ich andere Interessen habe, zu wenig Resonanz fand. Wenn man älter ist, und den Beruf nicht mehr hat, der einem das Leben strukturiert und mit der Welt in Verbindung bringt, muss man das alles selber herstellen, muss sich um den Austausch bemühen.
 
Ich werde zu Hause versuchen, etwas beharrlicher zu sein, etwas direkter auch. Das ist etwas, was man hier lernen kann: Eine gewisse Direktheit, sich nicht so schnell zurückziehen, etwas zu fordern. Da bin ich zuversichtlich, weil ich eben in der Schweiz meine Betätigung habe, meine ehrenamtlichen Arbeiten. Man kann bestimmen, wie man etwas machen möchte, denn man macht es ja freiwillig.
 
Ich habe hier aber auch Tiefschläge einstecken müssen. Das will ich gerne sagen, denn es gehört dazu. Wenn man in einer anderen Umgebung ist, für längere Zeit, hat man das Bedürfnis nach Intimität. Man würde sich gerne verlieben, die körperliche Nähe genießen können.
 
Ich habe mich hier schon zweimal verliebt. Das waren beide Male jüngere Frauen und beide Male war es eine Enttäuschung, weil ich zurückgewiesen wurde. Vielleicht war es der Altersunterschied. Die eine Frau war 50. Sie hat mir gesagt, sie sei nicht an Männern interessiert, sondern an Frauen. Ich nehme an, es war ehrlich gemeint. Bei der anderen war es wohl wirklich der Altersunterschied, sie ist noch jünger. Beide waren interessiert an einem Austausch. Sie fanden es vielleicht interessant, dass ein Schweizer an diesem Projekt mitmacht, und etwas zu erzählen weiß. Als sie spürten, dass ich auch Erwartungen an die körperliche Nähe hatte, war es vorbei. Die Jüngere hat eine merkwürdige Erklärung abgegeben, übrigens nur per Email. Vielleicht war sie fast so etwas wie beleidigt, dass ich ihr zumutete, dass sie sich auf einen alten Knacker einlassen solle.
 
Was ich eigentlich sagen will mit dieser neuen Erfahrung: Ich habe gemeint, Männer haben immer Chancen, ältere Frauen nicht mehr so, weil sich Männer eben für jüngere Frauen interessieren. Das stimmt, das muss ich zugeben.
 
Ich habe gemeint, Männer kriegen alle eine jüngere Frau. Aufgrund dieser beiden Erfahrungen habe ich aber feststellen müssen: Das gilt eigentlich nur für Männer die reich sind oder die ein Leben führen, bei dem die Frau gerne mitmacht. Also Männer wie Sarkozy oder Müntefering zum Beispiel. Als normaler Mann hat man keine Chance, oder es ist viel weniger einfach, als ich meinte. Das war für mich eine Ernüchterung, eine schmerzliche Erfahrung. Diese Wünsche, die begleiten einen wohl das Leben lang.
 
Was bedeutet die Autorenschaft, von der Jochen Gerz spricht?
 
Die Autorenschaft besteht im täglichen Schreiben für diese Publikation, die erst nach dem Ende des Projekts sichtbar wird. Ich erlebe das tägliche Schreiben als eine kreative Angelegenheit, die mir Einiges bringt. Durch das Schreiben wird man veranlasst, neue Zusammenhänge zu sehen. Es entwickelt sich etwas. Ich habe mir überlegt, warum Schriftsteller wie Max Frisch, Dürrenmatt oder Heinrich Böll als intellektuelle Kapazitäten gegolten haben? Warum haben sie eine solche Rolle spielen können? Nicht, weil sie viel intelligenter sind, sondern weil sie durch das Schreiben gezwungen waren, sich die Dinge etwas gründlicher zu überlegen, als es ein normaler Mensch macht.
 
Wir bräuchten eine Gesellschaft, wo nicht mehr die Position, die Arbeit und der Konsum im Vordergrund stehen. Man muss ja nur in ein Einkaufszentrum gehen und schauen, wie viele von den Waren einigermaßen wichtig für das Leben sind und was nur noch Konsumrausch ist. Es könnte einem ja kotzübel werden.
 
Schreiben. Sie besteht auch darin, dass man Handelnder wird, dass man Dinge macht, gestaltet!
 
Hanne Schweizer hat dieses Interview am 28. Juli auf der Webseite http://www.altersdiskriminierung.de/themen/artikel.php?id=3788
veröffentlicht. (PK)

Ein Besuch, der sich lohnt:
2-3 Straßen
http://www.2-3strassen.eu/index.html
45468 Mülheim an der Ruhr Tel.: 0208 3016195
47053 Duisburg Tel.: 0203 6084359
44145 Dortmund Tel.: 0231 1897169
 


Online-Flyer Nr. 261  vom 04.08.2010

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