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Aktueller Online-Flyer vom 24. November 2024  

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Kultur und Wissen
Ein Buch für Richter, Verfassungsschützer, Polizisten und alle anderen auch
Pflichtlektüre
Von Dorothea Hartung

Einen knappen Monat, nachdem das Buch "Antisemitismus und Islamophobie - ein Vergleich" von Sabine Schiffer und Constantin Wagner erschienen war, geschah der Mord an der Muslima Marwa el Sherbini. Wir haben schon vor dem Mord in Dresden dazu eine Rezension veröffentlicht, bekamen aber nun eine von Dorothea Hartung angeboten, die darin
auf diese Tragödie eingeht und auf deren Ursachen und Folgen. - Die Redaktion
 
Hätte diese Gesellschaft, hätte die Bundeszentrale für politische Bildung, hätten Eltern und Lehrer den Inhalt dieses Buches gekannt, hätte der Verfassungsschutz es vielleicht als seine Aufgabe angesehen, das Internet nach rechtsextremen, ausländerfeindlichen, rassistischen und anti-Islam-Seiten zu durchforsten und notfalls die Seiten-Gestalter öffentlich anzuprangern oder die Seiten zu verbieten. Hätte man all die Warnungen und Hinweise von Sabine Schiffer in ihren Vorträgen, ihren zuvor veröffentlichten Texten und schließlich in diesem wichtigen Buche ernst genommen: vielleicht hätte dann sogar das Dresdener Gericht den Brief des späteren Mörders mit wachem Verstand zur Kenntnis genommen, in dem dieser seine tiefe Verachtung für arabisch-moslemische Menschen zum Ausdruck brachte, anstatt ihn lediglich abzuheften: Wer weiß, vielleicht wäre dieses Gericht in der Lage gewesen zu erkennen, daß Marwa el Sherbini und ihre kleine Familie vor einem solchen Menschen auch im Gerichtssaal hätten geschützt werden müssen. Das geschah aber nicht.


Marwa el Sherbini und ihr Sohn, der den Mord im Gerichtssaal miterleben mußte.
NRhZ-Archiv
 
Einen solchen demonstrativen mörderischen Akt kann man vielleicht auch mit Vorsichtsmaßnahmen nicht immer verhindern, aber man kann die Gefahr für MigrantInnen und Moslems in unserer Gesellschaft erkennen, wenn man die vielen Warnungen ernst nimmt, und diese Menschen entsprechend schützen, ihnen zum Beispiel ersparen, ihre Widersacher vor Gericht zu treffen. Im Fall Marwa el Sherbini hätte eine schriftliche Aussage von ihr als Zeugin ja vollkommen genügt.
 
Ein Jahr nach der Tat haben am Ort des Geschehens, in Dresden, einige Menschen über die Mordtat hinaus die Initiative im Sinne von Sabine Schiffer und anderen ergriffen. Sie stellten an mehreren Orten Denkmäler auf und versahen sie mit Informationstafeln. Ihr Anliegen war, verallgemeinernd auf den alltäglichen Rassismus in unserer Gesellschaft aufmerksam zu machen. Einige der Denkmäler wurden inzwischen teilweise zerstört. Traurig ist diese Information, traurig ist aber auch, daß wir in Berlin zum Beispiel erst durch die Zerstörungen darüber informiert wurden, daß es in Dresden diese wichtige Initiative gibt.
 

Autorin Sabine Schiffer
NRhZ-Archiv
Sabine Schiffer gab ein paar Tage nach dem Mord ein Interview, in dem sie vermutete, daß der Polizist, der den Ehemann von Marwa el Sherbini im Gericht irrtümlich anschoß, als dieser versuchte, dem Mörder das Messer zu entreißen, aus unbewußten rassistischen Regungen den Dunkleren der beiden Ringenden als Täter angesehen haben könnte. Danach erhielt auch sie Morddrohungen, ging zur Polizei und bat um Schutz für ihre Kinder und für sich. Den erhielt sie nicht. Stattdessen bemühte sich die Polizei, Kontakt mit Dresden aufzunehmen und den betreffenden Polizisten anzuregen, sich juristisch gegen Sabine Schiffer zu wenden. Und das tat er. Sie erhielt eine Anzeige, auf die sie nicht reagierte - das mußte sie auch nicht. Schließlich wurde ein Prozeß daraus. Und, o Wunder, sie wurde freigesprochen, Normalität in einem deutschen Gericht. Sabine Schiffer hatte als Gründerin des Instituts für Medienverantwortung und als Wissenschaftlerin eine Möglichkeit ausgesprochen. So etwas gehört zum Recht auf freie Meinungsäußerung.
 
Aber warum sollte sich der gesunde juristische Menschenverstand durchsetzen? Zehn Tage nach dem Freispruch stand fest: Die Staatsanwaltschaft wollte ihn nicht widerspruchslos hinnehmen und ging in Revision. Wird diese zugelassen, kommt es zu einer Fortsetzung des Prozesses gegen Sabine Schiffer. Ob das Gericht dies wirklich will, ist nicht sicher, denn dann müßte endlich auch der Polizist aussagen, warum er überhaupt bewaffnet als Zeuge in einem anderen Prozeß ausgesagt hatte und es kommt vielleicht heraus, warum nicht sechs erwachsene Menschen ohne Schußwaffen zwei Ringende auseinander bringen konnten. Was hätten sie alle getan, hätte er seine Pistole - wie das in anderen Gerichten üblich ist - am Eingang abgegeben? Gar nichts? Oder ist dieser Polizist immer noch der Meinung, er habe gerade durch seinen Schuß das Leben des Ehemannes gerettet, obwohl dieser durch den Schuß beinahe am Ort verblutet wäre?
 
Tatsächlich gab es bisher keine Erklärung von Einsicht in Schuld, weder bei dem Polizisten, noch beim Gericht, das sich nicht gebührend beim Ehemann und dem kleinen Sohn des Paares entschuldigt oder dem Polizisten nahegelegt hat, die Verfolgung von Sabine Schiffer zu unterlassen.
 
Unter solchen Umständen, so ist zu befürchten, wird auch in Zukunft die Gesellschaft den Inhalt des Buches nicht zur Kenntnis nehmen, obwohl beide Autoren erschreckende Parallelen nachweisen zur Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland, Ende des 19. Jahrhunderts, und zur Entstehung des neuen Anti-Islam, schon lange vor dem 11. September 2001, wie früher schon aus einer recht christlichen Mitte heraus und in Krisenzeiten angeheizt...
 
Wissenschaftlich akkurat recherchiert untermauern sie die These: Häufig ist der virulente Anti-Islam lediglich ein verschobener Antisemitismus. Wenigstens den traut man sich heute nicht so dreist zu zeigen wie in früheren Zeiten. Aber es gibt ihn weiterhin, und teilweise werden die jeweiligen Diskriminierungsopfer noch gegeneinander ausgespielt.
 
Erschreckend neu jedoch sind heute die "Verbrüderungen" mancher Anti-Islam-Vertreter, die gestern noch selbst zu einer verfolgten Minderheit gehörten oder in anderen Zusammenhängen durchaus in der Lage sind, rechte rassistische Entwicklungen zu übernehmen - weshalb für Ungeübte auch die Entlarvung dieser Islam-Hetzer schwierig ist.
 
Tummelplatz für ungeahnte Demütigungen und Bösartigkeiten, nahe an Vernichtungsgedanken wie sie auch der Mörder von Marwa el Sherbini in Wort und Tat offenbarte, ist das Internet. Wenn ich mich dort der Qual aussetze und diese Seiten kurz anlese, um mir ein Bild von den Schrecken eines derart missverstandenen „freien Wortes" zu machen, das vom Verfassungsschutz nicht überwacht wird - warum auch, wir sind ja meistens keine Moslems - liegt dieses Buch neben mir. Und zu fast jeder dieser unglaublichen Seiten finde ich dort Hinweise, wer sie macht, mit welchem politischen Hintergrund, seit wann mit welchen Link-Verbindungen. Ich erfahre auch, was der- oder diejenige sonst noch so schreibt oder sagt - leider auch mal als AutorIn unserer Bundeszentrale für politische Bildung, was ein Skandal ist.
 
Die beiden Autoren haben sich dieser Qual offensichtlich über Jahre ausgesetzt. Dafür müßten sie geehrt und vor allem gelesen werden. Immer noch haben wir die Möglichkeit, dies zu tun. Immer noch hat die Bundeszentrale für politische Bildung die Pflicht, dieses Buch als Handbuch anzubieten für Lehrer, Eltern und auch Jugendliche, die sonst dem Internet ausgeliefert sind, weil viele Lehrer sich nicht auskennen und die Schüler allein lassen. Und das darf nicht sein.
Nicht schon wieder!
 
Das Buch erschien im Sommer 2009 im HWK-Verlag in der 'Reihe Bücher, die unsere Weltsicht verändern'. Siehe NRhZ 196, http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=13736
ISBN 978-3-937245-05-8, Ladenpreis 24,80 €

Die Autoren:
Dr. Sabine Schiffer: Nach dem Studium der Sprachwissenschaft, Promotion zur Islamdarstellung in den Medien. Vorträge, Seminare und Publikationen zu gesellschaftsrelevanten Themen wie Medienbildung, Diskriminierende Diskurse, Kriegspropaganda und Fragen der Vierten und einer erstarkenden Fünften Gewalt. Gründung und Leitung des Instituts für Medienverantwortung. 
Constantin Wagner: Doppelstudium Soziologie / Religionswissenschaft in Frankfurt a.M. und Genf mit den Schwerpunkten soziale Teilhabe und Ausschließungsprozesse sowie Religions- und Migrationssoziologie. Er arbeitet zum Thema „soziale Funktionen des Islam-Diskurses in Deutschland“. (PK)


Online-Flyer Nr. 261  vom 04.08.2010

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