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Arbeit und Soziales
Zu Lasten der Menschen im Lande:
Obszöne Politik
Von Hans-Dieter Hey
Hohle Sprüche als Heilslehren
Solche Entwicklungen wurden von manchen als alternativlos herausgefordert, um die Situation auf dem Arbeitsmarkt vermeintlich zu verbessern. Einer ist immer wieder Hans-Werner Sinn, der – von der BILD-Zeitung zum „besten Ökonomen Deutschlands“ gekürt 1) – von den öffentlich-rechtlichen Anstalten als Chefökonom oft und gern eingeladen wird. Er hatte noch Anfang des Jahres mantraartig vorgetragen, dass in der Finanz- und Wirtschaftskrise die Arbeitslosigkeit wegen der Maßnahmen der Agenda 2010 nicht besonders gestiegen sei, und er verteidigt mutig weiter den Niedriglohnsektor. 2) Aber auch aus grundsätzlichen Erwägungen redet Sinn Unsinn, weil es in einer kapitalistisch organisierten Wirtschaft gar nicht um mehr Arbeitsplätze gehen kann, sondern nur um soviel Arbeitsplätze, wie unter Gewinn- und Rentabilitätsgesichtspunkten gerade erforderlich sind.
Merkel: „Ich möchte die Bundeskanzlerin aller Deutschen sein"
Quelle: Duckhome
Auch für Arbeitgeber und Arbeitgeber-Präsident Dieter Hundt kommen – offenbar seit er das Licht der Welt erblickte – Lohnerhöhungen schon immer zur falschen Zeit. Erst kürzlich warnte er wieder vor „einer Diskussion über Lohnerhöhungen zur Unzeit. Im Moment muss alles verhindert werden, was den Aufschwung bremst.“ 3) Das ist natürlich Unsinn, denn selbstverständlich wirken sich höhere Löhne auf den Konsum und in Folge auf die Investitionen aus. Und mehr Stützung der Binnennachfrage braucht das Land, wenn wir schon einer Wachstumsideologie anhängen. Für die Entwicklung von neuen Arbeitsplätzen bringen solche Thesen so gut wie nichts. In früheren Jahren hatten wir bis zu fünf Prozent Wachstum – bei steigenden Arbeitslosenzahlen.
Wirtschaftswunder, dass keines ist
Gar von einem neuen Wirtschaftswunder sprach Angela Merkel angesichts des stabilen Wachstums. Und selbst das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) ging noch im August von einem Wachstum von bis zu drei Prozent aus 4). Das wäre viel, aber angesichts des Einbruchs 2009 von fünf Prozent doch wieder relativ. Inzwischen kühlt sich die Situation bereits ab. Das DIW geht nur von einem Wachstum im dritten Quartal von 0,9 Prozent aus. 5) Man klammert sich offenbar an jeden Strohhalm, weil die Europäische Kommission die Wachstumsrate mit 3,4 Prozent nach oben orakelt. 6) Das IFW in Hamburg rechnet allerdings damit, dass das Wachstum im nächsten Jahr nur noch 1,7 Prozent betragen wird. 7) Das war‘s dann vielleicht auch erst mal wieder, und das bedeutet, dass die Erosion auf dem Arbeitsmarkt fortschreitet.
Denn zur Schaffung von neuen Arbeitsplätzen sind Wachstumsraten von mehr als vier Prozent notwendig. Das wird durch den Export allein nicht zu machen sein, auch wenn dieser bisher zur ökonomischen Stabilität beigetragen hat. Der Exportaufschwung wurde allerdings nur durch die Abnahme von Vollzeitarbeitsplätzen gegen prekäre erkauft 8), und war netto nur ein „jobless growth“. Unsere Exportstärke hat zudem unsere europäischen Nachbarn im Wettbewerb geschwächt und ging zu Lasten unseres außenwirtschaftlichen Gleichgewichts. 9). Deutschland wäre dagegen besser beraten gewesen mit Lohnsteigerungen und der Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns. Statt dessen sank die Summe der Bruttolöhne von 2000 bis 2008 preisbereinigt um zwei Prozent. In keinem Land der EU sind seit dem Jahr 2000 die Bruttolöhne mit 21,8 Prozent so gering gestiegen, wie in Deutschland. Im EU-Durchschnitt lag die Steigerung sie bei 35,5 Prozent lag. 10)
Erosion am Arbeitsmarkt hat sich verstetigt
Zwischen 2000 und 2008 sank die durchschnittliche Jahresarbeitszeit eines Werktätigen auf 43 Stunden bzw. um drei Prozent. Weil aber das Arbeitsvolumen im Aufschwung von 2001 bis 2008 von 38,8 Millionen auf 40,3 Millionen Stunden in dieser Zeit gestiegen ist, stieg auch die Zahl der Erwerbstätigen um 1,1 Millionen. Doch diese Entwicklung ging eindeutig zu Lasten der Qualität von Arbeitsplätzen, von denen Menschen auch leben können.
Im Zeitraum von 2001 bis 1008 stieg die Zahl der geringfügig Beschäftigten von 4,8 Millionen auf 5,6 Millionen und der Anteil der – häufig prekären – Selbständigen stieg von 10 auf 11 Prozent. Sogenannte „Solo-Beschäftigte“ machen mit 2,3 Millionen inzwischen mehr als die Hälfte aller Selbständigen aus. Ihr Verdienst lag im Jahr 2008 bei weniger als 1.100 Euro netto im Monat. Die Zahl der Vollzeitbeschäftigten ging von 2000 bis 2005 um 2,45 Millionen Stellen zurück. 2009 gingen die Vollzeitstellen noch einmal um 100.000 zurück. 11)
Das alles gibt kein Bild, um von einem Job-Wunder zu sprechen, wie es die Bundesagentur für Arbeit noch im März bekannt gab. 12) Im übrigen dürften die Halbwahrheiten der von ihr gemeldeten Zahlen inzwischen hinlänglich bekannt sein. Meist werden sie unrecherchiert und kommentarlos von den Mainstream-Medien verbreitet, weswegen Blogger zurecht von einem erbärmlichen Journalismus sprechen. 13) Eigentlich könnte die BA die Zahlen der „Unterbeschäftigung“ veröffentlichen, die ein genaueres Bild der Arbeitslosigkeit bieten. Doch dadurch wäre das Scheitern der Politik zu offenkundig. Tatsächlich sind nämlich 1,14 Millionen Menschen mehr arbeitslos, als öffentlich angegeben. Hinzu kommt die gleiche Anzahl von Menschen in Kurzarbeit.
In den offizielle bekannt gegebenen Zahlen sind auch weder die sogenannten Trainingsmaßnahmen (Juli 2010: 904 Tausend), noch die berufliche Weiterbildung (192.477), noch die Ein-Euro-Jobs (316.411), noch die Über-58-Jährigen im ALG-II-Bezug (350.000) enthalten. 14) Von der stillen Reserve ganz zu schweigen. Jedenfalls dürften die Zahlen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO da ehrlicher sein, als die Angaben der eigenen BA.15)
Ferdinand Lasalle lässt grüßen
Die Nettolöhne sanken in den Jahren 2000 bis 2008 preisbereinigt um 3,8 Prozent. Hinzu gesellte sich – wie oben dargelegt – die Ausweitung der atypischen und prekären Beschäftigung. Inzwischen treten „amerikanische Verhältnisse“ ein, weil mehr und mehr Menschen zwei oder gar mehrere Jobs zur Sicherung ihrer Existenz benötigen. In keinem Land der Europäischen Union gibt es mehr Niedriglöhner als in Deutschland. Hier arbeiten inzwischen 6,5 Mio. Menschen, und damit 22 Prozent aller Beschäftigten. In den USA sind dies 25 Prozent. 16) Zwei Millionen arbeiten für unter 5 Euro in der Stunde. Rund 1,4 Mio. Menschen verdienen so wenig, dass sie noch Hartz-IV beantragen müssen. Das ist kein Jobwunder, sondern ein „Aufschwung der schlechten Jobs“, wie die Gewerkschaft ver.di analysiert. 17) Das kostet den Staat 50 Milliarden Euro im Jahr, die nichts anderes als Lohnsubventionen für die Wirtschaft bedeuten. 18)
Karikatur: Kostas Koufogiorgos
www.koufogiorgos.de
Mit den Arbeitsmarktreformen wurde längst das „Eherne Lohngesetz“ überschritten. Ferdinand Lasalle (1825-1864), Wegbereiter der Sozialdemokratie, bezeichnete so die sich bei schrankenlosem Kapitalismus am Existenzminimum bewegenden Löhne und verlangte einen gesetzlichen Mindestlohn. Doch gerade Sozialdemokraten hatten mit den Bündnisgrünen den Weg des Lohndumping begonnen, und es zeigt sich längst, dass sich diese Arbeitsmarktreformen negativ sowohl auf die werktätigen Menschen wie auch auf die Erwerbslosen ausgewirkt haben.
Die sinkenden Einkommen hatten auch ungünstige Auswirkungen auf die Vermögensverteilung der Werktätigen und Erwerbslosen. Inzwischen muss der Mittelstand um sein Vermögen fürchten. Dies wurde sogar vom wirtschaftsfreundlichen DIW kritisch in seinem Gutachten 4/2009 festgestellt. Danach hatte zwischen 2002 und 2007 die Konzentration der Nettovermögen an der Spitze weiter zugenommen, aber „mehr als zwei Drittel der Gesamtbevölkerung besaßen dagegen kein oder nur ein sehr geringes individuelles Nettovermögen. Die untersten 70 Prozent der nach dem Vermögen sortierten Bevölkerung haben einen Anteil am Gesamtvermögen von unter neun Prozent und damit rund 1,5 Prozentpunkte weniger als 2002.“ 19)
Weiterer Ruin absehbar
Es kann jedenfalls auf Dauer nicht gut gehen, wenn Wachstum nur den Unternehmen und Vermögenden dient. Politik darf sich nicht länger gegen die Werktätigen Menschen und die Erwerbslosen richten. Die Obszönität gegenwärtiger Politik hat Wolfang Bittner eindrucksvoll in seiner Rede zur Verleihung des „Kölner Karls-Preises“ verlautbart. 20) "Ohne eine Beendigung nationaler Umverteilungen zu Lasten der Arbeits- und Sozialeinkommen, aber auch internationaler Umverteilungen zu Lasten der schwächeren, nicht so produktiven Volkswirtschaften, die hier zu negativen Leistungsbilanzen führen, wird es kein Ende der längst noch nicht überstandenen weltweiten Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise geben", so die Memo-Gruppe in Ihrem Gutachten vom August diesen Jahres. 21)
Und während durch Angela Merkels Politik die Reichen und Vermögenden im Lande weiter bedient werden, werden durch die Kürzungen im Haushalt der Sozialstaat in den Ruin getrieben und die Finanzen der Länder und Kommunen kaputtgespart, die insbesondere den Osten des Landes betreffen. 22) Bis zum Jahr 2014 will die Bundesregierung 81,6 Milliarden Euro im Haushalt einsparen. 30 Prozent davon betreffen den Sozialhaushalt. Der eigentliche Skandal ist aber, das Großverdiener, Vermögende und Erben nicht zur Haushaltssanierung und zum Sparkpaket beitragen. Das wird unweigerlich zu höherer Arbeitslosigkeit führen. 23)
Dennoch will die Politik der schwarz-gelben Koalition die Situation offenbar noch weiter verschärfen, und die Verteilung von unten nach oben fortsetzen. Der von DGB-Chef Michael Sommer eingeschlagene Kuschelkurs mit Kanzlerin Angela Merkel 24) stößt allerdings auf Kritik aus den eigenen Reihen. Ver.di-Chef Frank Bsirske warnte davor, von Merkel „die große soziale Versöhnung zu erwarten.“ 25)
Doch für wirkliche Veränderungen müsste deutlich mehr Protestkultur entstehen, damit sich die Politik überhaupt beeindrucken lässt, die sich von den Bürgerinnen und Bürgern mehr und mehr wirklichkeitsentfremdet hat. Wollen wir im günstigen Fall annehmen, dass im „heißen Herbst“ einige ihre roten Trillerpfeifen auspacken und zu Aktionen finden. 26) In einem Leserbrief an die NRhZ als Raktion auf Wolfgang Bittners Rede 20) forderte eine Leserin: „Wenn wir doch endlich aufwachten! Ja, wenn. (HDH)
____________________________________________________________
1) http://www.nachdenkseiten.de/?p=1299
2) http://www.mindestlohn.de/meldung/arbeitsmarkt-2010/
3) http://www.finanzzeug.de/arbeitgeberpraesident-hundt-euphorie-ueber-aufschwung-gewinne-rauf-und-loehne-runter-15595
4) http://www.boeckler.de/320_108267.html
5) http://www.finanzzeug.de/diw-aufschwung-verlangsamt-sich-deutlich-16719
6) http://www.dw-world.de/dw/function/0,,12356_cid_5999948,00.html
7) http://www.finanzzeug.de/laut-ifw-wird-sich-wirtschaftswachstum-halbieren-17145
8) http://www.dgb.de/themen/++co++4490755a-6e43-11df-59ed-00188b4dc422
9) http://www.boeckler.de/pdf/p_imk_report_53_2010.pdf
10) http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/0,1518,716495,00.html
11) Wirtschaft und Statistik 12/2009
12) http://www.ftd.de/politik/konjunktur/:deutsches-jobwunder-ba-erwartet-unter-drei-millionen-arbeitslose/50163450.html
13) http://213.71.15.108/id/40011/3188-millionen-menschen-ohne-job
14) http://www.die-linke-nordfriesland.de/fileadmin/user_upload/KV_Nordfriesland/Runners/Unterbeschaeftigung.pdf
15) http://www.statistiker-blog.de/archives/date/2010/07/27
16) http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/lohn-dumping-in-deutschland-so-viel-billigarbeit-war-nie-1.193094?page=14
17) http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/lohn-dumping-in-deutschland-so-viel-billigarbeit-war-nie-1.193094?page=14
18) http://www.stern.de/politik/deutschland/debatte-um-hartz-iv-aufstocker-wenn-der-lohn-zum-leben-nicht-reicht-1592579.html
19) http://www.diw.de/documents/publikationen/73/93785/09-4-1.pdf
20) Wolfgang Bittner: Was wir leben und was wir sind, Rede zur Karls-Preis-Verleihung der NRhZ am 6.8.2010
21) Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, Bremen: „Politik hat nichts gelernt – das Umverteilen von unten nach oben geht weiter“, August 2010
22) Wipo aktuell, Nr. 16, August 2010
23) Wipo 1/2010, Reiche verschonen – Wachstum und Sozialstaat ruinieren, Juni 2010
24) http://www.tagesschau.de/wirtschaft/merkelsommer102.html
25) http://www.focus.de/politik/deutschland/gewerkschaften-bsirske-warnt-gewerkschaften-vor-illusionen_aid_442570.html
26) http://lafontaines-linke.de/2010/08/heisser-herbst-proteste-anti-atom-sozialabbau-attac-dgb-gewerkschaften/
Online-Flyer Nr. 267 vom 15.09.2010
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Arbeit und Soziales
Zu Lasten der Menschen im Lande:
Obszöne Politik
Von Hans-Dieter Hey
Hohle Sprüche als Heilslehren
Solche Entwicklungen wurden von manchen als alternativlos herausgefordert, um die Situation auf dem Arbeitsmarkt vermeintlich zu verbessern. Einer ist immer wieder Hans-Werner Sinn, der – von der BILD-Zeitung zum „besten Ökonomen Deutschlands“ gekürt 1) – von den öffentlich-rechtlichen Anstalten als Chefökonom oft und gern eingeladen wird. Er hatte noch Anfang des Jahres mantraartig vorgetragen, dass in der Finanz- und Wirtschaftskrise die Arbeitslosigkeit wegen der Maßnahmen der Agenda 2010 nicht besonders gestiegen sei, und er verteidigt mutig weiter den Niedriglohnsektor. 2) Aber auch aus grundsätzlichen Erwägungen redet Sinn Unsinn, weil es in einer kapitalistisch organisierten Wirtschaft gar nicht um mehr Arbeitsplätze gehen kann, sondern nur um soviel Arbeitsplätze, wie unter Gewinn- und Rentabilitätsgesichtspunkten gerade erforderlich sind.
Merkel: „Ich möchte die Bundeskanzlerin aller Deutschen sein"
Quelle: Duckhome
Auch für Arbeitgeber und Arbeitgeber-Präsident Dieter Hundt kommen – offenbar seit er das Licht der Welt erblickte – Lohnerhöhungen schon immer zur falschen Zeit. Erst kürzlich warnte er wieder vor „einer Diskussion über Lohnerhöhungen zur Unzeit. Im Moment muss alles verhindert werden, was den Aufschwung bremst.“ 3) Das ist natürlich Unsinn, denn selbstverständlich wirken sich höhere Löhne auf den Konsum und in Folge auf die Investitionen aus. Und mehr Stützung der Binnennachfrage braucht das Land, wenn wir schon einer Wachstumsideologie anhängen. Für die Entwicklung von neuen Arbeitsplätzen bringen solche Thesen so gut wie nichts. In früheren Jahren hatten wir bis zu fünf Prozent Wachstum – bei steigenden Arbeitslosenzahlen.
Wirtschaftswunder, dass keines ist
Gar von einem neuen Wirtschaftswunder sprach Angela Merkel angesichts des stabilen Wachstums. Und selbst das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) ging noch im August von einem Wachstum von bis zu drei Prozent aus 4). Das wäre viel, aber angesichts des Einbruchs 2009 von fünf Prozent doch wieder relativ. Inzwischen kühlt sich die Situation bereits ab. Das DIW geht nur von einem Wachstum im dritten Quartal von 0,9 Prozent aus. 5) Man klammert sich offenbar an jeden Strohhalm, weil die Europäische Kommission die Wachstumsrate mit 3,4 Prozent nach oben orakelt. 6) Das IFW in Hamburg rechnet allerdings damit, dass das Wachstum im nächsten Jahr nur noch 1,7 Prozent betragen wird. 7) Das war‘s dann vielleicht auch erst mal wieder, und das bedeutet, dass die Erosion auf dem Arbeitsmarkt fortschreitet.
Denn zur Schaffung von neuen Arbeitsplätzen sind Wachstumsraten von mehr als vier Prozent notwendig. Das wird durch den Export allein nicht zu machen sein, auch wenn dieser bisher zur ökonomischen Stabilität beigetragen hat. Der Exportaufschwung wurde allerdings nur durch die Abnahme von Vollzeitarbeitsplätzen gegen prekäre erkauft 8), und war netto nur ein „jobless growth“. Unsere Exportstärke hat zudem unsere europäischen Nachbarn im Wettbewerb geschwächt und ging zu Lasten unseres außenwirtschaftlichen Gleichgewichts. 9). Deutschland wäre dagegen besser beraten gewesen mit Lohnsteigerungen und der Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns. Statt dessen sank die Summe der Bruttolöhne von 2000 bis 2008 preisbereinigt um zwei Prozent. In keinem Land der EU sind seit dem Jahr 2000 die Bruttolöhne mit 21,8 Prozent so gering gestiegen, wie in Deutschland. Im EU-Durchschnitt lag die Steigerung sie bei 35,5 Prozent lag. 10)
Erosion am Arbeitsmarkt hat sich verstetigt
Zwischen 2000 und 2008 sank die durchschnittliche Jahresarbeitszeit eines Werktätigen auf 43 Stunden bzw. um drei Prozent. Weil aber das Arbeitsvolumen im Aufschwung von 2001 bis 2008 von 38,8 Millionen auf 40,3 Millionen Stunden in dieser Zeit gestiegen ist, stieg auch die Zahl der Erwerbstätigen um 1,1 Millionen. Doch diese Entwicklung ging eindeutig zu Lasten der Qualität von Arbeitsplätzen, von denen Menschen auch leben können.
Im Zeitraum von 2001 bis 1008 stieg die Zahl der geringfügig Beschäftigten von 4,8 Millionen auf 5,6 Millionen und der Anteil der – häufig prekären – Selbständigen stieg von 10 auf 11 Prozent. Sogenannte „Solo-Beschäftigte“ machen mit 2,3 Millionen inzwischen mehr als die Hälfte aller Selbständigen aus. Ihr Verdienst lag im Jahr 2008 bei weniger als 1.100 Euro netto im Monat. Die Zahl der Vollzeitbeschäftigten ging von 2000 bis 2005 um 2,45 Millionen Stellen zurück. 2009 gingen die Vollzeitstellen noch einmal um 100.000 zurück. 11)
Das alles gibt kein Bild, um von einem Job-Wunder zu sprechen, wie es die Bundesagentur für Arbeit noch im März bekannt gab. 12) Im übrigen dürften die Halbwahrheiten der von ihr gemeldeten Zahlen inzwischen hinlänglich bekannt sein. Meist werden sie unrecherchiert und kommentarlos von den Mainstream-Medien verbreitet, weswegen Blogger zurecht von einem erbärmlichen Journalismus sprechen. 13) Eigentlich könnte die BA die Zahlen der „Unterbeschäftigung“ veröffentlichen, die ein genaueres Bild der Arbeitslosigkeit bieten. Doch dadurch wäre das Scheitern der Politik zu offenkundig. Tatsächlich sind nämlich 1,14 Millionen Menschen mehr arbeitslos, als öffentlich angegeben. Hinzu kommt die gleiche Anzahl von Menschen in Kurzarbeit.
In den offizielle bekannt gegebenen Zahlen sind auch weder die sogenannten Trainingsmaßnahmen (Juli 2010: 904 Tausend), noch die berufliche Weiterbildung (192.477), noch die Ein-Euro-Jobs (316.411), noch die Über-58-Jährigen im ALG-II-Bezug (350.000) enthalten. 14) Von der stillen Reserve ganz zu schweigen. Jedenfalls dürften die Zahlen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO da ehrlicher sein, als die Angaben der eigenen BA.15)
Ferdinand Lasalle lässt grüßen
Die Nettolöhne sanken in den Jahren 2000 bis 2008 preisbereinigt um 3,8 Prozent. Hinzu gesellte sich – wie oben dargelegt – die Ausweitung der atypischen und prekären Beschäftigung. Inzwischen treten „amerikanische Verhältnisse“ ein, weil mehr und mehr Menschen zwei oder gar mehrere Jobs zur Sicherung ihrer Existenz benötigen. In keinem Land der Europäischen Union gibt es mehr Niedriglöhner als in Deutschland. Hier arbeiten inzwischen 6,5 Mio. Menschen, und damit 22 Prozent aller Beschäftigten. In den USA sind dies 25 Prozent. 16) Zwei Millionen arbeiten für unter 5 Euro in der Stunde. Rund 1,4 Mio. Menschen verdienen so wenig, dass sie noch Hartz-IV beantragen müssen. Das ist kein Jobwunder, sondern ein „Aufschwung der schlechten Jobs“, wie die Gewerkschaft ver.di analysiert. 17) Das kostet den Staat 50 Milliarden Euro im Jahr, die nichts anderes als Lohnsubventionen für die Wirtschaft bedeuten. 18)
Karikatur: Kostas Koufogiorgos
www.koufogiorgos.de
Mit den Arbeitsmarktreformen wurde längst das „Eherne Lohngesetz“ überschritten. Ferdinand Lasalle (1825-1864), Wegbereiter der Sozialdemokratie, bezeichnete so die sich bei schrankenlosem Kapitalismus am Existenzminimum bewegenden Löhne und verlangte einen gesetzlichen Mindestlohn. Doch gerade Sozialdemokraten hatten mit den Bündnisgrünen den Weg des Lohndumping begonnen, und es zeigt sich längst, dass sich diese Arbeitsmarktreformen negativ sowohl auf die werktätigen Menschen wie auch auf die Erwerbslosen ausgewirkt haben.
Die sinkenden Einkommen hatten auch ungünstige Auswirkungen auf die Vermögensverteilung der Werktätigen und Erwerbslosen. Inzwischen muss der Mittelstand um sein Vermögen fürchten. Dies wurde sogar vom wirtschaftsfreundlichen DIW kritisch in seinem Gutachten 4/2009 festgestellt. Danach hatte zwischen 2002 und 2007 die Konzentration der Nettovermögen an der Spitze weiter zugenommen, aber „mehr als zwei Drittel der Gesamtbevölkerung besaßen dagegen kein oder nur ein sehr geringes individuelles Nettovermögen. Die untersten 70 Prozent der nach dem Vermögen sortierten Bevölkerung haben einen Anteil am Gesamtvermögen von unter neun Prozent und damit rund 1,5 Prozentpunkte weniger als 2002.“ 19)
Weiterer Ruin absehbar
Es kann jedenfalls auf Dauer nicht gut gehen, wenn Wachstum nur den Unternehmen und Vermögenden dient. Politik darf sich nicht länger gegen die Werktätigen Menschen und die Erwerbslosen richten. Die Obszönität gegenwärtiger Politik hat Wolfang Bittner eindrucksvoll in seiner Rede zur Verleihung des „Kölner Karls-Preises“ verlautbart. 20) "Ohne eine Beendigung nationaler Umverteilungen zu Lasten der Arbeits- und Sozialeinkommen, aber auch internationaler Umverteilungen zu Lasten der schwächeren, nicht so produktiven Volkswirtschaften, die hier zu negativen Leistungsbilanzen führen, wird es kein Ende der längst noch nicht überstandenen weltweiten Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise geben", so die Memo-Gruppe in Ihrem Gutachten vom August diesen Jahres. 21)
Und während durch Angela Merkels Politik die Reichen und Vermögenden im Lande weiter bedient werden, werden durch die Kürzungen im Haushalt der Sozialstaat in den Ruin getrieben und die Finanzen der Länder und Kommunen kaputtgespart, die insbesondere den Osten des Landes betreffen. 22) Bis zum Jahr 2014 will die Bundesregierung 81,6 Milliarden Euro im Haushalt einsparen. 30 Prozent davon betreffen den Sozialhaushalt. Der eigentliche Skandal ist aber, das Großverdiener, Vermögende und Erben nicht zur Haushaltssanierung und zum Sparkpaket beitragen. Das wird unweigerlich zu höherer Arbeitslosigkeit führen. 23)
Dennoch will die Politik der schwarz-gelben Koalition die Situation offenbar noch weiter verschärfen, und die Verteilung von unten nach oben fortsetzen. Der von DGB-Chef Michael Sommer eingeschlagene Kuschelkurs mit Kanzlerin Angela Merkel 24) stößt allerdings auf Kritik aus den eigenen Reihen. Ver.di-Chef Frank Bsirske warnte davor, von Merkel „die große soziale Versöhnung zu erwarten.“ 25)
Doch für wirkliche Veränderungen müsste deutlich mehr Protestkultur entstehen, damit sich die Politik überhaupt beeindrucken lässt, die sich von den Bürgerinnen und Bürgern mehr und mehr wirklichkeitsentfremdet hat. Wollen wir im günstigen Fall annehmen, dass im „heißen Herbst“ einige ihre roten Trillerpfeifen auspacken und zu Aktionen finden. 26) In einem Leserbrief an die NRhZ als Raktion auf Wolfgang Bittners Rede 20) forderte eine Leserin: „Wenn wir doch endlich aufwachten! Ja, wenn. (HDH)
____________________________________________________________
1) http://www.nachdenkseiten.de/?p=1299
2) http://www.mindestlohn.de/meldung/arbeitsmarkt-2010/
3) http://www.finanzzeug.de/arbeitgeberpraesident-hundt-euphorie-ueber-aufschwung-gewinne-rauf-und-loehne-runter-15595
4) http://www.boeckler.de/320_108267.html
5) http://www.finanzzeug.de/diw-aufschwung-verlangsamt-sich-deutlich-16719
6) http://www.dw-world.de/dw/function/0,,12356_cid_5999948,00.html
7) http://www.finanzzeug.de/laut-ifw-wird-sich-wirtschaftswachstum-halbieren-17145
8) http://www.dgb.de/themen/++co++4490755a-6e43-11df-59ed-00188b4dc422
9) http://www.boeckler.de/pdf/p_imk_report_53_2010.pdf
10) http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/0,1518,716495,00.html
11) Wirtschaft und Statistik 12/2009
12) http://www.ftd.de/politik/konjunktur/:deutsches-jobwunder-ba-erwartet-unter-drei-millionen-arbeitslose/50163450.html
13) http://213.71.15.108/id/40011/3188-millionen-menschen-ohne-job
14) http://www.die-linke-nordfriesland.de/fileadmin/user_upload/KV_Nordfriesland/Runners/Unterbeschaeftigung.pdf
15) http://www.statistiker-blog.de/archives/date/2010/07/27
16) http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/lohn-dumping-in-deutschland-so-viel-billigarbeit-war-nie-1.193094?page=14
17) http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/lohn-dumping-in-deutschland-so-viel-billigarbeit-war-nie-1.193094?page=14
18) http://www.stern.de/politik/deutschland/debatte-um-hartz-iv-aufstocker-wenn-der-lohn-zum-leben-nicht-reicht-1592579.html
19) http://www.diw.de/documents/publikationen/73/93785/09-4-1.pdf
20) Wolfgang Bittner: Was wir leben und was wir sind, Rede zur Karls-Preis-Verleihung der NRhZ am 6.8.2010
21) Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, Bremen: „Politik hat nichts gelernt – das Umverteilen von unten nach oben geht weiter“, August 2010
22) Wipo aktuell, Nr. 16, August 2010
23) Wipo 1/2010, Reiche verschonen – Wachstum und Sozialstaat ruinieren, Juni 2010
24) http://www.tagesschau.de/wirtschaft/merkelsommer102.html
25) http://www.focus.de/politik/deutschland/gewerkschaften-bsirske-warnt-gewerkschaften-vor-illusionen_aid_442570.html
26) http://lafontaines-linke.de/2010/08/heisser-herbst-proteste-anti-atom-sozialabbau-attac-dgb-gewerkschaften/
Online-Flyer Nr. 267 vom 15.09.2010
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