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Inland
Wie viel Unterschied verträgt die Einheit?
Zwanzig Jahre Zweiheit
Von Hans-Dieter Hey
Fehlstart ins Buch der Geschichte
Im Artikel 23 des Grundgesetzes vor 1990 war der „Anschluss“ der DDR an die Bundesrepublik geregelt. Am 23. September 1990 wurde das „Einigungsvertragsgesetz“ beschlossen, das Näheres darüber bestimmte. Damit wurde der „Anschluss“ der DDR an die Bundesrepublik ermöglicht. Mit diesem Schachzug hatte die Regierung Helmut Kohl – der sich selbst gern als Wiedervereiniger im Buch der Geschichte sah – und konservative „Blockflöten“-Kreise in der DDR verhindert, dass sich die Deutschen nach Artikel 146 des Grundgesetzes staatlich neu konstituieren und sich erstmalig in ihrer Geschichte ihre Verfassung selbst geben. Den Dolchstoß gegen eine wirkliche Vereinigung hatten sich die Bürgerinnen und Bürger der DDR allerdings selbst versetzt. In den letzten Volkskammerwahlen am 18. März 1990 entschieden sie sich mit der Mehrheit von 41 Prozent der Stimmen für die CDU, die diesen Weg präferiert hatte. Vermutlich wurden die meisten von Ihnen in Unkenntnis über die Folgen gehalten. Zudem kam Kohls Werbe-Gag mit den „blühenden Landschaften“ besser an, als kritische Betrachtung.
Verpatzte Möglichkeiten
Nicht nur die vielfach ungünstigeren ökonomischen Startbedingungen der DDR nach dem II. Weltkrieg haben sich auf den Vereinigungsprozess ausgewirkt. Während es im „Westen“ nach dem Krieg den Marschall-Plan und hohe Auslandsinvestitionen gab, wurden in der DDR Investitionsgüter abgebaut und in die UDSSR verbracht. Fast die gesamten Kriegsfolgelasten wurden durch die DDR getragen, zwei Millionen Menschen wanderten in den „Westen“ ab. Auch Ressourcenarmut, Handelshemmnisse des Westens, die Starrheit des zentralverwaltungswirtschaftlichen Systems und falsche ökonomische Weichenstellungen hatten die eigene Entwicklung gehemmt und den Anschluss an den Weltmarkt in vielen Bereichen behindert. Vor allem aber konnten die Ausgangsbedingungen für die Vereinigung durch die Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme unterschiedlicher nicht sein.
Siechtum auf Raten
Die Folgen der übereilten Vereinigung durch falsche Weichenstellungen der deutschen Politik sind nach wie vor dramatisch. „Das Verschwinden einer Alternative zum kapitalistischen Gesellschafts- und Wirtschaftssystem, welche die DDR ungeachtet ihrer Defizite verkörperte, wirkte sich negativ auf die Auseinandersetzungen um den Erhalt des Sozialstaats und auf die Arbeitskämpfe um höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen in den alten Bundesländern aus“, es wurde im Vereinigungsprozess zudem völlig ignoriert, dass „die Verhältnisse der alten Bundesrepublik selbst reform- und veränderungsbedürftig und der sozial-ökologische Umbau sowie die Weiterentwicklung des Sozialstaats als Aufgaben in ganz Deutschland zu lösen waren“, kritisiert die „Arbeitsgruppe“ in ihrem Buch. Denn die Probleme des Neoliberalismus – vor allem des Finanzmarktkapitalismus – waren schon vor 1998 zu erkennen.
Aufschrei gegen den Niedergang
Einer der großen Probleme des Anschlusses war die Währungsunion. Während der Währungsumtausch im Verhältnis 1:1 den Menschen sofort ein größeres Warenangebot ermöglichte, waren die Wirkungen für die einheimische Wirtschaft ruinös. „Die Wirtschaftsleistung ging, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, innerhalb weniger Monate nach der Währungsunion um rund ein Drittel zurück, die Industrieproduktion sogar um zwei Drittel.“ Das war ein Zusammenbruch, der dem der Weltwirtschaftskrise 1929 mit einem Einbruch von 40 Prozent bei der Industrieproduktion durchaus nahe kam.
Im Zusammenhang mit dem Vereinigungsprozess ist vor allem das Wirken der Treuhandanstalt und spätere Einrichtungen mit ihren Privatisierungsorgien kritisch zu sehen. „Die 1991 begonnene Umstrukturierung der Wirtschaft führte zu einem rapiden Verfall der bisherigen Wertschöpfung und der Einnahmen der Unternehmen, folglich auch zum Wegbrechen großer Teile der öffentlichen Einnahmen der ostdeutschen Gebietskörperschaften“.
Um die zum Teil selbst geschaffenen Probleme aufzufangen, flossen von 1991 bis 2010 in die ostdeutschen Länder durch die verschiedenen Solidarpakte jährlich ca. 70 Milliarden Euro Transferleistungen, bisher insgesamt 1,5 Billionen. „Sie sind mithin eine Folge des „Beitritts“ nach Artikel 23 GG als Vereinigungsmodus“. Denn dadurch war, so die Arbeitsgruppe, den politischen Akteuren kaum Gestaltungsspielraum zur Entwicklung geblieben.
Scheitern fordert Politikwechsel heraus
Die Entwicklung der letzten 20 Jahre hat für die werktätigen Menschen, insbesondere die ostdeutsche Bevölkerung, schwerwiegende Folgen. Im Osten der Republik wird heute durchschnittlich 30 Prozent weniger verdient, als im Westen. Immer mehr Menschen wird kein angemessener Lebensunterhalt mehr gewährt. Abwanderungen in den Westen schwächen das System erneut. Und dies ist zweifellos Folge durch Fehler im Vereinigungsprozess, in dem nach wie vor Strukturdefizite, Differenzen beim Produktivitäts- und Entgeltniveau und bestimmten Eigenheiten ostdeutscher Strukturen existieren.
Trotz vieler Verbesserungen für die Menschen im Osten erklärt die „Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik“ den Vereinigungsprozess für gescheitert. „Entscheidende Kriterien für die Herstellung der ökonomischen und sozialen Einheit – wozu gehört, eine selbsttragende wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Bundesländern zu erreichen, die Ungleichbehandlung von Ostdeutschen zu überwinden, gleichwertige Lebensverhältnisse herzustellen und das Abwandern junger, gut ausgebildeter Menschen aus den neuen Bundesländern zu stoppen – sind bis heute unerfüllt.“ Die Vereinigung würde durch Umweltprobleme, den Abbau des Sozialstaates, die soziale Polarisierung und damit einhergehender Zukunftsängste verschärft. „Mit der tiefen Krise des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus hat sich die Dringlichkeit eines Politikwechsels erhöht. Die Turbulenzen in der Eurozone, die hohen Haushaltsdefizite des Bundes und der Bundesländer sowie die ausweglose Haushaltslage in den Kommunen (…) zeigen deutlich, dass die Krisengefahren bei weitem nicht vorüber sind“.
Wenn die „Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik“ mit ihrem Buch „Deutsche Zweiheit – Oder: Wie viel Unterschied verträgt die Einheit“ vorhatte, Kritiker der Entwicklungen im Vereinigungsprozess mit handfesten Informationen gegen Stammtisch-Niveau und BILD-Zeitungsstil zu versehen, ist dies vollauf gelungen. Von den unterschiedlichen Ausgangsbedingungen, über die gesellschaftliche Entwicklung und ihren Folgen bis zu alternativen Vorschlägen enthält das Buch, was man zur sogenannten „Wiedervereinigung“ wissen muss, unterstützt mit umfangreichen Zahlenmaterial. Denn wer Gegenwart und Zukunft verstehen will, muss wissen, was gewesen ist. Dafür steht dieses Buch. (HDH)
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Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik
Deutsche Zweiheit – Oder:
Wie viel Unterschied verträgt die Einheit?
Bilanz der Vereinigungspolitik
Neue kleine Bibliothek 157, 255 Seiten
EUR 16,90 [D] / 17,50 [A] / CHF 31,00
ISBN 978-3-89438-447-0
erschienen im September 2010
Online-Flyer Nr. 269 vom 29.09.2010
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Wie viel Unterschied verträgt die Einheit?
Zwanzig Jahre Zweiheit
Von Hans-Dieter Hey
Fehlstart ins Buch der Geschichte
Im Artikel 23 des Grundgesetzes vor 1990 war der „Anschluss“ der DDR an die Bundesrepublik geregelt. Am 23. September 1990 wurde das „Einigungsvertragsgesetz“ beschlossen, das Näheres darüber bestimmte. Damit wurde der „Anschluss“ der DDR an die Bundesrepublik ermöglicht. Mit diesem Schachzug hatte die Regierung Helmut Kohl – der sich selbst gern als Wiedervereiniger im Buch der Geschichte sah – und konservative „Blockflöten“-Kreise in der DDR verhindert, dass sich die Deutschen nach Artikel 146 des Grundgesetzes staatlich neu konstituieren und sich erstmalig in ihrer Geschichte ihre Verfassung selbst geben. Den Dolchstoß gegen eine wirkliche Vereinigung hatten sich die Bürgerinnen und Bürger der DDR allerdings selbst versetzt. In den letzten Volkskammerwahlen am 18. März 1990 entschieden sie sich mit der Mehrheit von 41 Prozent der Stimmen für die CDU, die diesen Weg präferiert hatte. Vermutlich wurden die meisten von Ihnen in Unkenntnis über die Folgen gehalten. Zudem kam Kohls Werbe-Gag mit den „blühenden Landschaften“ besser an, als kritische Betrachtung.
Verpatzte Möglichkeiten
Nicht nur die vielfach ungünstigeren ökonomischen Startbedingungen der DDR nach dem II. Weltkrieg haben sich auf den Vereinigungsprozess ausgewirkt. Während es im „Westen“ nach dem Krieg den Marschall-Plan und hohe Auslandsinvestitionen gab, wurden in der DDR Investitionsgüter abgebaut und in die UDSSR verbracht. Fast die gesamten Kriegsfolgelasten wurden durch die DDR getragen, zwei Millionen Menschen wanderten in den „Westen“ ab. Auch Ressourcenarmut, Handelshemmnisse des Westens, die Starrheit des zentralverwaltungswirtschaftlichen Systems und falsche ökonomische Weichenstellungen hatten die eigene Entwicklung gehemmt und den Anschluss an den Weltmarkt in vielen Bereichen behindert. Vor allem aber konnten die Ausgangsbedingungen für die Vereinigung durch die Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme unterschiedlicher nicht sein.
Siechtum auf Raten
Die Folgen der übereilten Vereinigung durch falsche Weichenstellungen der deutschen Politik sind nach wie vor dramatisch. „Das Verschwinden einer Alternative zum kapitalistischen Gesellschafts- und Wirtschaftssystem, welche die DDR ungeachtet ihrer Defizite verkörperte, wirkte sich negativ auf die Auseinandersetzungen um den Erhalt des Sozialstaats und auf die Arbeitskämpfe um höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen in den alten Bundesländern aus“, es wurde im Vereinigungsprozess zudem völlig ignoriert, dass „die Verhältnisse der alten Bundesrepublik selbst reform- und veränderungsbedürftig und der sozial-ökologische Umbau sowie die Weiterentwicklung des Sozialstaats als Aufgaben in ganz Deutschland zu lösen waren“, kritisiert die „Arbeitsgruppe“ in ihrem Buch. Denn die Probleme des Neoliberalismus – vor allem des Finanzmarktkapitalismus – waren schon vor 1998 zu erkennen.
Aufschrei gegen den Niedergang
Einer der großen Probleme des Anschlusses war die Währungsunion. Während der Währungsumtausch im Verhältnis 1:1 den Menschen sofort ein größeres Warenangebot ermöglichte, waren die Wirkungen für die einheimische Wirtschaft ruinös. „Die Wirtschaftsleistung ging, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, innerhalb weniger Monate nach der Währungsunion um rund ein Drittel zurück, die Industrieproduktion sogar um zwei Drittel.“ Das war ein Zusammenbruch, der dem der Weltwirtschaftskrise 1929 mit einem Einbruch von 40 Prozent bei der Industrieproduktion durchaus nahe kam.
Im Zusammenhang mit dem Vereinigungsprozess ist vor allem das Wirken der Treuhandanstalt und spätere Einrichtungen mit ihren Privatisierungsorgien kritisch zu sehen. „Die 1991 begonnene Umstrukturierung der Wirtschaft führte zu einem rapiden Verfall der bisherigen Wertschöpfung und der Einnahmen der Unternehmen, folglich auch zum Wegbrechen großer Teile der öffentlichen Einnahmen der ostdeutschen Gebietskörperschaften“.
Um die zum Teil selbst geschaffenen Probleme aufzufangen, flossen von 1991 bis 2010 in die ostdeutschen Länder durch die verschiedenen Solidarpakte jährlich ca. 70 Milliarden Euro Transferleistungen, bisher insgesamt 1,5 Billionen. „Sie sind mithin eine Folge des „Beitritts“ nach Artikel 23 GG als Vereinigungsmodus“. Denn dadurch war, so die Arbeitsgruppe, den politischen Akteuren kaum Gestaltungsspielraum zur Entwicklung geblieben.
Scheitern fordert Politikwechsel heraus
Die Entwicklung der letzten 20 Jahre hat für die werktätigen Menschen, insbesondere die ostdeutsche Bevölkerung, schwerwiegende Folgen. Im Osten der Republik wird heute durchschnittlich 30 Prozent weniger verdient, als im Westen. Immer mehr Menschen wird kein angemessener Lebensunterhalt mehr gewährt. Abwanderungen in den Westen schwächen das System erneut. Und dies ist zweifellos Folge durch Fehler im Vereinigungsprozess, in dem nach wie vor Strukturdefizite, Differenzen beim Produktivitäts- und Entgeltniveau und bestimmten Eigenheiten ostdeutscher Strukturen existieren.
Trotz vieler Verbesserungen für die Menschen im Osten erklärt die „Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik“ den Vereinigungsprozess für gescheitert. „Entscheidende Kriterien für die Herstellung der ökonomischen und sozialen Einheit – wozu gehört, eine selbsttragende wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Bundesländern zu erreichen, die Ungleichbehandlung von Ostdeutschen zu überwinden, gleichwertige Lebensverhältnisse herzustellen und das Abwandern junger, gut ausgebildeter Menschen aus den neuen Bundesländern zu stoppen – sind bis heute unerfüllt.“ Die Vereinigung würde durch Umweltprobleme, den Abbau des Sozialstaates, die soziale Polarisierung und damit einhergehender Zukunftsängste verschärft. „Mit der tiefen Krise des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus hat sich die Dringlichkeit eines Politikwechsels erhöht. Die Turbulenzen in der Eurozone, die hohen Haushaltsdefizite des Bundes und der Bundesländer sowie die ausweglose Haushaltslage in den Kommunen (…) zeigen deutlich, dass die Krisengefahren bei weitem nicht vorüber sind“.
Wenn die „Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik“ mit ihrem Buch „Deutsche Zweiheit – Oder: Wie viel Unterschied verträgt die Einheit“ vorhatte, Kritiker der Entwicklungen im Vereinigungsprozess mit handfesten Informationen gegen Stammtisch-Niveau und BILD-Zeitungsstil zu versehen, ist dies vollauf gelungen. Von den unterschiedlichen Ausgangsbedingungen, über die gesellschaftliche Entwicklung und ihren Folgen bis zu alternativen Vorschlägen enthält das Buch, was man zur sogenannten „Wiedervereinigung“ wissen muss, unterstützt mit umfangreichen Zahlenmaterial. Denn wer Gegenwart und Zukunft verstehen will, muss wissen, was gewesen ist. Dafür steht dieses Buch. (HDH)
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Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik
Deutsche Zweiheit – Oder:
Wie viel Unterschied verträgt die Einheit?
Bilanz der Vereinigungspolitik
Neue kleine Bibliothek 157, 255 Seiten
EUR 16,90 [D] / 17,50 [A] / CHF 31,00
ISBN 978-3-89438-447-0
erschienen im September 2010
Online-Flyer Nr. 269 vom 29.09.2010
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