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Aktueller Online-Flyer vom 26. Dezember 2024  

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Lokales
Was ist los in Frankreich, und
warum nicht in Deutschland?
Von Hans-Dieter Hey

Die Bewegung der streikenden französischen Bürger und ihrer Gewerkschaften gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 62 bzw. 67 Jahre dauert nun über sieben Wochen. Warum geht so etwas in Frankreich und nicht in Deutschland? Was ist anders? Was fehlt uns Deutschen an demokratischem Verständnis? Welche Rolle spielen die Gewerkschaften. Diese und andere Fragen versuchten vier französische Gewerkschafter mit deutschen Aktivisten auf einer Veranstaltung im Naturfreundehaus Kalk am Freitag auszuloten.

Metro, Maloche, Kiste"
 
Von unseren französischen Nachbarn wird diese sogenannte „Reform“ als Symbol für die seit Jahren andauernde Verschlechterung der Lebensbedingungen ausgemacht, ähnlich wie in Deutschland am Beispiel von „Stuttgart 21“ oder „Krach schlagen gegen Hartz IV“. JDie Renten sanken in Frankreich wie auch in Deutschland seit Jahren. Nun geht der Ruf „Métro, boulot, caveau!“ („Metro, Maloche, Kiste") durchs Land. Doch selbst die Wut der Millionen Streikenden, lahmgelegte Betriebe und Blockaden, ein Viertel der Tankstellen ohne Benzin, reichten nicht, um die Regierung von Nikolas Sarkozi zu bewegen, die Rentenreform zu stoppen.
 
Interesse an "französischen Verhältnissen"

Vor einigen Tagen wurde sie in der Nationalversammlung mit 336 gegen 233 Stimmen im Eiltempo durchgepeitscht, im Senat am 26. Oktober mit 177 zu 151 Stimmen. Doch das ist in Frankreich nicht wichtig. Schon manches beschlossene Gesetz wurde anschließend durch Streiks wieder kassiert, wie das „hire-and-fire“-Gesetz von 2006. Deshalb geht auch jetzt der Widerstand weiter. Am 27. Oktober wurde das Versicherungsunternehmen des Sohnes von Nikolas Sarkozi, Guillaume Sarkozi, bestreikt, das von den Rentenreformen besonders profitiert, weil es Zusatzversicherungen abschließt. Ein Aktionstag war am 29. Oktober, der nächste ist am 6. November, wenn in Deutschland im Wendland gegen Kernkraftwerke oder in Bonn gegen Hartz IV demonstriert wird.


Unterstützt werden die seit Jahren massivsten Proteste durch ein Aktionsbündnis verschiedener Gewerkschaften, insbesondere SUD-Solidaire und CGT oder durch private Unterstützer oder Organisationen wie attac. Inzwischen vor allem auch durch die Schüler und Studenten. Weltweit rufen Organisationen aus der Arbeiterbewegung zur Solidarität mit den französischen Streikenden auf. Vor Botschaften, Konsulaten und französischen Unternehmen soll protestiert oder der Transport von Treibstoff nach Frankreich blockiert werden. Offenbar kann hier auch der meiste Druck ausgeübt werden. Was wäre in Deutschland los, nähme man den Deutschen ihr „Liebstes“, ihr Auto, um Zukunftsinteressen zu verteidigen?
 
Nur Basisarbeit ist erfolgreich
 
Eigentlich hätten Robert, Eric, Julien und Mohamed von der SUD Solidaires in Frankreich bleiben müssen, aber sie kamen trotzdem nach Köln. Denn im Moment überprüfen die Streikenden in Frankreich, wie es weitergeht im Widerstand gegen die ungeliebte "Reform". Moderator Peter Bach, der zu Beginn der Streiks im September in Rouen war, berichtete (siehe Artikel NRhZ), dass man zu Beginn mit 10.000 Streikenden gerechnet hatte. Es kamen 70.000, die in der kleinen Stadt demonstrierten. Sämtliche vier Brücken über die Seine waren besetzt. Neu sei diesmal, dass man täglich über den Fortgang der Streiks basisdemokratisch beschließe.

Auch dadurch sei es möglich gewesen, so lange durchzuhalten, auch gegen Widerstände. Das sei aber notwendig, weil die Angriffe auf die Sozialsysteme in Europa inzwischen besonders massiv sind. In Frankreich würden bald immer weniger Menschen das Eintrittsalter von 62 Jahren erreichen und müssten dann bis 67 Jahren arbeiten. Vor allem seien Frauen betroffen. Viele würden gerade eine Rente von 600 Euro erreichen. Die Diskussion kennen wir aus Deutschland. Mit dem Unterschied: Bei uns tut sich an Gegenwehr doch sehr viel weniger, was von der Basis kommt. Da ist Deutschland aus demokratischer Sicht noch entwicklungsfähig.

 
Robert, Übersetzer Willi Hajek, Eric, Julien und Mohamed
Fotos: Hans-Dieter Hey


Acht Gewerkschaften haben bei den Massenprotesten mitgezogen, obwohl es anfangs Überzeugungsprobleme gab. Dass täglich über den Streik entschieden wird, hat sich als erfolgreich heraus gestellt. Gleichzeitig war es, so Robert, „auch eine Schwierigkeit. Es gibt keine Streikgelder, was sich bei der Länge des Streiks auch auswirkt, vor allem, wenn der Streik länger als zwei Wochen dauert.“ Insofern ist der Mut und das Durchhaltevermögen der Streikenden in Frankreich besonders bewundernswert. Das sehen auch die meisten Franzosen so. Julien: „Was wir jetzt erleben, ist eine seltene Sache, dass ein Aktion so breit unterstützt wird.“ Fast drei Viertel aller Franzosen stehen dahinter, selbst beim Generalstreik. Das zeige die tiefe Unzufriedenheit mit der Regierung, und zwar insgesamt.
 
Die „neue Sau“ als Ablenkungsmanöver
 
Interessant ist auch das Schüren der Angst gegen Ausländer. Sarkozis rassistische Aktion gegen Roma hat dies deutlich gezeigt. Dies sei allerdings nur lanciert worden, meint Mohamed, um davon abzulenken, dass die Mehrheit gegen die Regierung von Sarkozi ist. Und irgendwie erinnert das an die Zustände in Deutschland seit Thilo Sarrazin bis zur Ausgrenzungsdebatte Horst Seehofers auf dem CSU-Parteitag über eine vermeintlich existierende christliche „Wertegemeinschaft“. Immer wieder schafft es offenbar die Politik, eine „neue Sau durchs Dorf zu jagen“, um von den wirklichen Problemen abzulenken. Allerdings gäbe es von den Gewerkschaften in Frankreich eine starke Unterstützung gegen die Abschiebung der Roma und für die „Sans Papiers“ (Menschen ohne Papiere), meint Mohamed.
 
Insgesamt werde es mit der Länge der Zeit aber immer schwieriger, die Streiks aufrecht zu erhalten, doch man kämpft weiter. An diesem Freitag Morgen kam es wieder zur Blockade 

Seit 1995 neuer Wind auf der
Gewerkschaftsbühne: Basisge-
werkschaft SUD | Foto: H.-D. Hey
einer Brücke über die Garonne. Die Eisenbahner mit ihrem hohen Organisationsgrad streiken bereits 17 Tage ununterbrochen. Das bedeutet für sie eine große Herausforderung, die nur mit breiter solidarischer Unterstützung durchzuhalten ist. Die Streikenden treffen sich regelmäßig, um Vorschläge zu diskutieren, wie man die Proteste fortführen kann. Dadurch konnte vermieden werden, dass einige Gewerkschaften sich zurückziehen konnten, weil es eine breite Zustimmung zu neuen Streiks gab. Das ist ein demokratischer Unterschied zu deutschen Verhältnissen, in denen Streiks von den Gewerkschaftsspitzen beschlossen werden. Außer einer Veranstaltung zum vom DGB vollmundig angekündigten „heißen Herbst“ am 13. November in Dortmund unter der dürftigen Parole „Gemeinsam für ein gutes Leben“ ist bisher nichts herum gekommen.
 
Medienmanipulation und Meinungsmache
 
Streikbereitschaft zeige sich auch immer deutlicher bei französischen Jugendlichen, obwohl ihr Organisationsgrad noch nicht sehr groß ist. Die Streikbeteiligung wird ihnen auch von der Polizei schwer gemacht. Sie werden bis in die Schulen verfolgt und von den „agents provocateurs“ der Polizei gereizt, wodurch sich irgendwann ihre Aggression entladen muss, und die Polizei dann zu äußerst aggressiven Einsätzen veranlasst. Dies war massiv im Jahre 2006, nachdem das „hire-and-fire“-Gesetz beschlossen wurde. Anlässlich solcher Vorkommnisse sieht in den Medien die Berichterstattung bei spektakulären Aktionen recht einseitig und staatstreu aus, weil auf die Provokation der Polizei nicht hingewiesen wird. Offenbar haben die Medien – so scheint es – den Auftrag, die Gesellschaft zu spalten. Kritische Medienkonsumenten in Deutschland dürften sich an ähnliches in den Fällen von Rostock, Stuttgart und anderswo erinnern. In Frankreich funktioniere diese Spaltung allerdings nicht mehr, wenn die Streiks sehr stark sind. Beispielsweise würde in den Medien seit Wochen folgenlos wiederholt, den Streikenden ginge die Luft aus, führt Julien fort.


Der Streik geht weiter
Quelle: juralibertaire

Wie wenig zimperlich man versucht, an Informationen zu kommen, zeigt das Beispiel, als der französische Verfassungsschutz über die Polizei an Anschriften über einen Journalisten der bekannten Zeitung „Le Monde“ kam. Seit den 1970er Jahren hätte man sich bei Streiks mit Selbstverteidigungsgruppen allerdings gegen die brutalen Angriffe der nationalen Polizei CRS durch Feuerwerksfeuer und Molotow-Cocktails usw. erwehren können. Heute wäre das nicht mehr so einfach. Aber in Ausnahmefällen würden die Streikenden beispielsweise von den Dächern herunter mit entsprechenden Methoden unterstützt. Die brutale Gewalt der Polizei sei inzwischen sehr massiv und hätte – beispielsweise durch die Gummigeschosse, die „Flash-Balls“,
einen Jugendlichen bei einer Schülerdemo das Augenlicht gekostet.

In Frankreich seien die jungen Menschen aufgewacht. Ihnen werde inzwischen immer klarer, dass der Schule Jahre der Arbeitslosigkeit folgten. Sie müssten nun noch länger arbeiten und hätten dennoch keine anständige Rente zu erwarten. Deshalb hätten sich gerade auch die Schüler- und Studentengewerkschaften massiv für die Streiks eingesetzt, meint Julien.
 
Im Moment könne man sich ohne Weiteres vorstellen, so Robert, „dass diese Auseinandersetzung auch auf andere Gruppen übergehen kann.“ Allerdings förderten die französischen Gewerkschaften die gewalttätigen Ausschreitungen nicht, weil dies eine Gefahr für die Entwicklung der Streiks bedeute. So wie es im Moment aussehe, würde „man weiter machen, bis das Gesetz wieder weg ist.“ (HDH)
 


Online-Flyer Nr. 274  vom 03.11.2010

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