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Inland
Prosit Neujahr!
Staat ohne Scham
Von Daniela Dahn
Das Jahr 2010 war das Jahr, in dem die Kluft zwischen den Wünschen, wie wir leben wollen, und dem, wie wir tatsächlich leben, erneut gewachsen ist. Mit dem Fünf-Euro-Hohn für Hartz-IV-Empfänger und den Banker-Boni, mit Kinderarmut und Luxus-Bildung. Das Buch Gleichheit ist Glück hatte im Frühjahr Debatten ausgelöst. Anhand von UNO-Statistiken wiesen zwei britische Forscher nach, dass Wohlbefinden nicht davon abhängt, wie viel man besitzt, sondern wie gleichmäßig der Reichtum verteilt ist. Denn Ungleichheit erzeugt Stress, der krankmachende Hormone ausschüttet, führt zu Gewalt, Alkoholkonsum, Konflikten und Zukunftsangst. Zu einer Gesellschaft, in der selbst die Reichen gefährdet sind.
Ein Prosit auf das Neue Jahr!
Dass das Buch für „neue und herausfordernde“ Ideen prämiert wurde, war erfreulich und zugleich ein wenig komisch. Denn neu ist diese Herausforderung wahrlich nicht. Spätestens seit der Französischen Revolution, deren Motto 1945 zum Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wurde, ist „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ das gültige Programm. Die Sozialismusversuche in Osteuropa, Asien und Lateinamerika waren schließlich in ihrem Ursprung nicht Ausgeburten totalitärer Herrscher, sondern die emanzipatorische Annahme dieser Herausforderung.
Überwachte Wünsche
Dabei ist die Gleichheit verabsolutiert worden – wie auf der anderen Seite die Freiheit. Dass eines ohne das andere seinen Wert verliert, ist nun wieder stärker im Bewusstsein. Dennoch bleibt die zentrale Frage unbeantwortet, weshalb bisher keine Gesellschaft dauerhaft Freiheit und Gleichheit garantieren konnte. Fehlt es uns an Brüderlichkeit, Mitmenschlichkeit? Sind wir der Größe der Aufgabe charakterlich nicht gewachsen? Oder sind wir Gefangene von Strukturen, die uns zwingen, gegen unseren Willen zu handeln?
Grundsätze der Vernunft
Darüber wurde in allen Religionen und Kulturen nachgedacht. Die Bibel durchzieht der Gedanke von einer „Erde, die alle in gleicher Weise trägt“, „damit sie das Gleiche bekommen“. Und „die Gerechtigkeit kommt durch das Gesetz“. Konfuzius erkannte: „In einem Staat, der nach den Grundsätzen der Vernunft regiert wird, wird man sich für Elend und Armut schämen; in einem Staat, der nicht nach den Grundsätzen der Vernunft regiert wird, schämt man sich für Reichtum und Ruhm.“ Nach welchen Grundsätzen aber wird ein Staat regiert, in dem man sich für gar nichts schämt – wie unser gegenwärtiger?
Offenbar nach den Geboten der Selbstbereicherung einer gewissenlosen Elite. Wir leben in einer von Grund auf verkehrten Welt. Die meisten wissen das inzwischen. Neun von zehn Deutschen, so hat Emnid unlängst ermittelt, wollen eine andere Wirtschaftsordnung. Was für ein Erkenntnisgewinn! Sie trauen dem Kapitalismus nicht zu, die anstehenden Probleme zu lösen. Sind doch die Banken die eigentliche Parallelgesellschaft – Piraten, die den Bürger in Geiselhaft nehmen. Und niemand macht ihnen den Prozess, weil niemand Gesetze gegen sie macht. Alle wissen, dass die Krise noch nicht vorbei ist. Ihre angeblich so versierte Bewältigung hat die Gesellschaft weiter in eine prekäre Richtung verwandelt: Neue Arbeitsplätze sind zwar begrüßenswert – aber auch dann, wenn es vorwiegend im Niedriglohnbereich liegende Zeit-, Leih- und Minijobs sind? Nur noch 38 Prozent der Beschäftigten haben eine unbefristete Vollzeitarbeit. Das ist ein weiterer Schritt hinab in den Hades der Angstgesellschaft.
Das Falsche hergestellt
Und dort, wo richtige Arbeitsplätze entstehen, wird das Falsche hergestellt: Rüstung zum Beispiel, oder Autos, nicht öffentliche Verkehrsmittel. An den großen Verkehrsmagistralen, da, wo es ungesund und laut ist, wohnen die Ärmeren. Es sind vom Markt eingerichtete Gettos der Unterschicht, von Menschen, die keine Stimme haben oder nicht mehr daran glauben, eine zu haben. Die Hilfeschreie der Natur mag wider besseres Wissen erst recht niemand hören. Die lobbyhörigen Gesetzgeber ersparen uns und den Unternehmen den wirklichen Preis, weil sie den Naturverbrauch nicht in Rechnung stellen. So überlassen sie den Nachkommen zu den Billionen Staatsschulden auch noch die schlimmste Quittung für das Leben auf Pump: eine ruinierte Umwelt.
Die Würde scheint wieder antastbar hierzulande
Fotos: Hans-Dieter Hey
Fehlgesteuert von Zinstreiberei und Profitmaximierung, gleichsam im Wachkoma, schaffen wir die Instrumente unserer Selbstzerstörung. Offenbar unfähig, Lebenssinn außerhalb des beschleunigten Wachstums materieller Güter zu finden, beschwören wir das Verhängnis herauf. Adorno sprach von der lieblosen Nichtachtung der Dinge, die sich notwendig gegen die Menschen kehren, von der „Ideologie für die, welche mit schlechtem Gewissen das Ihre behalten wollen. Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Dieses nach 1989 mit unerbittlicher Anklagepose gegen alle Ostbiografien gerichtete Verdikt bezieht sich, aus seiner Verkürzung gelöst, vielmehr auf die Destruktivität des Privateigentums in der bürgerlichen Gesellschaft.
Was hält diese Gesellschaft noch zusammen? Ressentiment-Debatten? Wetten dass..? Die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat? Werden wir das Ende der Zuschauerdemokratie und des Herrschaftswissens einläuten oder uns einer oligarchischen Elite beugen? Es geht ums Ganze – Prost Neujahr. (HDH)
Erschienen im "Freitag" vom 17.12.2010
Online-Flyer Nr. 281 vom 22.12.2010
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Inland
Prosit Neujahr!
Staat ohne Scham
Von Daniela Dahn
Das Jahr 2010 war das Jahr, in dem die Kluft zwischen den Wünschen, wie wir leben wollen, und dem, wie wir tatsächlich leben, erneut gewachsen ist. Mit dem Fünf-Euro-Hohn für Hartz-IV-Empfänger und den Banker-Boni, mit Kinderarmut und Luxus-Bildung. Das Buch Gleichheit ist Glück hatte im Frühjahr Debatten ausgelöst. Anhand von UNO-Statistiken wiesen zwei britische Forscher nach, dass Wohlbefinden nicht davon abhängt, wie viel man besitzt, sondern wie gleichmäßig der Reichtum verteilt ist. Denn Ungleichheit erzeugt Stress, der krankmachende Hormone ausschüttet, führt zu Gewalt, Alkoholkonsum, Konflikten und Zukunftsangst. Zu einer Gesellschaft, in der selbst die Reichen gefährdet sind.
Ein Prosit auf das Neue Jahr!
Dass das Buch für „neue und herausfordernde“ Ideen prämiert wurde, war erfreulich und zugleich ein wenig komisch. Denn neu ist diese Herausforderung wahrlich nicht. Spätestens seit der Französischen Revolution, deren Motto 1945 zum Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wurde, ist „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ das gültige Programm. Die Sozialismusversuche in Osteuropa, Asien und Lateinamerika waren schließlich in ihrem Ursprung nicht Ausgeburten totalitärer Herrscher, sondern die emanzipatorische Annahme dieser Herausforderung.
Überwachte Wünsche
Dabei ist die Gleichheit verabsolutiert worden – wie auf der anderen Seite die Freiheit. Dass eines ohne das andere seinen Wert verliert, ist nun wieder stärker im Bewusstsein. Dennoch bleibt die zentrale Frage unbeantwortet, weshalb bisher keine Gesellschaft dauerhaft Freiheit und Gleichheit garantieren konnte. Fehlt es uns an Brüderlichkeit, Mitmenschlichkeit? Sind wir der Größe der Aufgabe charakterlich nicht gewachsen? Oder sind wir Gefangene von Strukturen, die uns zwingen, gegen unseren Willen zu handeln?
Grundsätze der Vernunft
Darüber wurde in allen Religionen und Kulturen nachgedacht. Die Bibel durchzieht der Gedanke von einer „Erde, die alle in gleicher Weise trägt“, „damit sie das Gleiche bekommen“. Und „die Gerechtigkeit kommt durch das Gesetz“. Konfuzius erkannte: „In einem Staat, der nach den Grundsätzen der Vernunft regiert wird, wird man sich für Elend und Armut schämen; in einem Staat, der nicht nach den Grundsätzen der Vernunft regiert wird, schämt man sich für Reichtum und Ruhm.“ Nach welchen Grundsätzen aber wird ein Staat regiert, in dem man sich für gar nichts schämt – wie unser gegenwärtiger?
Offenbar nach den Geboten der Selbstbereicherung einer gewissenlosen Elite. Wir leben in einer von Grund auf verkehrten Welt. Die meisten wissen das inzwischen. Neun von zehn Deutschen, so hat Emnid unlängst ermittelt, wollen eine andere Wirtschaftsordnung. Was für ein Erkenntnisgewinn! Sie trauen dem Kapitalismus nicht zu, die anstehenden Probleme zu lösen. Sind doch die Banken die eigentliche Parallelgesellschaft – Piraten, die den Bürger in Geiselhaft nehmen. Und niemand macht ihnen den Prozess, weil niemand Gesetze gegen sie macht. Alle wissen, dass die Krise noch nicht vorbei ist. Ihre angeblich so versierte Bewältigung hat die Gesellschaft weiter in eine prekäre Richtung verwandelt: Neue Arbeitsplätze sind zwar begrüßenswert – aber auch dann, wenn es vorwiegend im Niedriglohnbereich liegende Zeit-, Leih- und Minijobs sind? Nur noch 38 Prozent der Beschäftigten haben eine unbefristete Vollzeitarbeit. Das ist ein weiterer Schritt hinab in den Hades der Angstgesellschaft.
Das Falsche hergestellt
Und dort, wo richtige Arbeitsplätze entstehen, wird das Falsche hergestellt: Rüstung zum Beispiel, oder Autos, nicht öffentliche Verkehrsmittel. An den großen Verkehrsmagistralen, da, wo es ungesund und laut ist, wohnen die Ärmeren. Es sind vom Markt eingerichtete Gettos der Unterschicht, von Menschen, die keine Stimme haben oder nicht mehr daran glauben, eine zu haben. Die Hilfeschreie der Natur mag wider besseres Wissen erst recht niemand hören. Die lobbyhörigen Gesetzgeber ersparen uns und den Unternehmen den wirklichen Preis, weil sie den Naturverbrauch nicht in Rechnung stellen. So überlassen sie den Nachkommen zu den Billionen Staatsschulden auch noch die schlimmste Quittung für das Leben auf Pump: eine ruinierte Umwelt.
Die Würde scheint wieder antastbar hierzulande
Fotos: Hans-Dieter Hey
Fehlgesteuert von Zinstreiberei und Profitmaximierung, gleichsam im Wachkoma, schaffen wir die Instrumente unserer Selbstzerstörung. Offenbar unfähig, Lebenssinn außerhalb des beschleunigten Wachstums materieller Güter zu finden, beschwören wir das Verhängnis herauf. Adorno sprach von der lieblosen Nichtachtung der Dinge, die sich notwendig gegen die Menschen kehren, von der „Ideologie für die, welche mit schlechtem Gewissen das Ihre behalten wollen. Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Dieses nach 1989 mit unerbittlicher Anklagepose gegen alle Ostbiografien gerichtete Verdikt bezieht sich, aus seiner Verkürzung gelöst, vielmehr auf die Destruktivität des Privateigentums in der bürgerlichen Gesellschaft.
Was hält diese Gesellschaft noch zusammen? Ressentiment-Debatten? Wetten dass..? Die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat? Werden wir das Ende der Zuschauerdemokratie und des Herrschaftswissens einläuten oder uns einer oligarchischen Elite beugen? Es geht ums Ganze – Prost Neujahr. (HDH)
Erschienen im "Freitag" vom 17.12.2010
Online-Flyer Nr. 281 vom 22.12.2010
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