Globales
Beschränkung auf die Zwei-Staaten-Lösung ignoriert die Ursache des Problems
"Stuttgarter Erklärung"
Von Attia und Verena Rajab
Professsor Ilan Pappé
NRhZ-Archiv
Die große Mehrheit stellte fest, dass das dogmatische Festhalten an der Zwei-Staaten-Lösung die tatsächlichen Realitäten ignoriert und von einer falschen Parität zwischen einer kolonialisierten und besetzten Bevölkerung auf der einen Seite und einem Kolonialstaat mit seiner militärischen Übermacht auf der anderen Seite ausgeht. Dies propagiert fälschlicherweise die Möglichkeit einen Frieden zu erreichen, indem den in den 1967 besetzten Gebieten lebenden PalästinenserInnen begrenzte nationale Rechte zugestanden würden, während den in den Grenzen von 1948 lebenden und den vertriebenen Menschen ihre Rechte verwehrt würden.
Das Festhalten an der Zwei-Staaten-Lösung verurteilt die PalästinenserInnen mit israelischer Staatsangehörigkeit dazu, als Bürger zweiter Klasse in ihrem angestammten Land zu leben, in einem rassistischen Staat, der ihnen nicht dieselben Rechte wie den jüdischen BürgerInnen gewährt. Außerdem würde das Fortbestehen eines zionistischen Staates den palästinensischen Flüchtlingen aus dessen Territorium das international anerkannte Recht auf Rückkehr verwehren.
Die Zwei-Staaten-Lösung kann zu nichts anderem führen als der Vertiefung und Zementierung der Ungleichheit. Das Modell zweier nach Ethnien oder Religionszugehörigkeiten getrennter Staaten bedeutet ethnische Separation oder fundamentale Ungleichheit innerhalb dieser Staaten, wie wir dies im heutigen Israel erleben. Die Ausführungen Ilan Pappes und der palästinensischen ReferentInnen belegten schlüssig, dass der bisherige sogenannte Friedensprozess und die Verhandlungen nur einen Deckmantel für Israels Fortsetzung des Landraubs und der Entrechtung der palästinensischen Bevölkerung abgegeben haben.
Am Ende der Diskussion bestand weit gehendes Einvernehmen darüber, dass nur die Schaffung eines gemeinsamen, säkularen und demokratischen Staates auf dem historischen Palästina mit gleichen Rechten für alle Frieden und Gerechtigkeit für PalästinenserInnen und Israelis bringen kann - ein Staat, in dem alle Menschen, gleich welcher Religion und Herkunft, gleichberechtigt zusammenleben. Dies schließt selbstverständlich die aus dem Land vertriebenen PalästinenserInnen mit ein (Einlösung der Resolution 194 der UN-Vollversammlung).
Nach wie vor dulden oder unterstützen die maßgeblichen Mächte, vor allem die USA und die EU-Staaten, die anhaltenden Verstöße Israels gegen internationales Recht und die Missachtung sämtlicher UN Resolutionen, die die koloniale und diskriminierende Politik Israels als illegal verurteilen. Die Regierungen der USA und der EU tolerieren die ständigen Angriffe auf die palästinensische Bevölkerung und ihre Wohngebiete. Besonders das totale Versagen der „internationalen Gemeinschaft“ während des israelischen Massakers in Gaza im Winter 2008/2009 machte vielen klar, dass allein der Druck zivilgesellschaftlicher Initiativen weltweit eine Änderung der Politik Israels und seiner UnterstützerInnen erzwingen kann.
Die Politik der Aushöhlung des internationalen Rechts durch die israelischen Verbündeten betrifft besonders die Bundesrepublik Deutschland, deren Regierungen, Parteien, Gewerkschaften und Medien, die auf ein enges Verhältnis zu Israel eingeschworen sind. Diese billigen Israels Politik der Menschenrechtsverletzungen stillschweigend und befürworten diese teilweise sogar.
Eines der aktuellen Beispiele für die Verbindung der Bundesrepublik Deutschland mit dem Apartheidstaat Israel ist die Beteiligung der Deutschen Bahn am Schnellbahnprojekt zwischen Tel Aviv und Jerusalem, das durch das Gebiet der Westbank führt, wozu das Land der dortigen Bevölkerung enteignet werden müsste, während die Palästinenser der Westbank gleichzeitig von der Nutzung der Bahn ausgeschlossen würden. Ein weiteres Beispiel ist die deutsche Unterstützung der Aktivitäten des Jewish National Fund, einer zentralen zionistischen Institution, die die Apartheid im Staat Israel sichert. Gegenwärtig vertreibt der Jewish National Fund mit seinem Aufforstungs- und Siedlungsprojekt im Negev PalästinenserInnen von ihren angestammten Gebieten, wie das Beispiel des Dorfes von Al Arakib bei Beer Sheva deutlich macht, das vor kurzem zum siebten Mal durch israelische Sicherheitskräfte zerstört worden ist.
Die KonferenzteilnehmerInnen haben Mittel und Möglichkeiten diskutiert, wie unsere Basisbewegungen in Richtung einer gemeinsamen Zukunft von PalästinenserInnen und Israelis auf der Grundlage der Gleichberechtigung wirksam werden können. Die Hindernisse sind hoch, da es mächtige Interessen für die Beibehaltung der Rolle Israels als imperialem Vorposten Europas und der USA sowie deren wirtschaftlichen und strategischen Interessen gibt. In dieser Rolle wird Israel freie Hand gegeben, Menschenrechte und internationales Recht zu brechen und auszuhöhlen.
Das wirkungsvollste Mittel ist die nach dem Vorbild des erfolgreichen Kampfes gegen die Apartheid in Südafrika organisierte Boykott-Kampagne. Die KonferenzteilnehmerInnen erzielten Übereinstimmung über die dringende Notwendigkeit, auch von Deutschland aus die internationale Kampagne für Boykott, Desinvestition und Sanktionen (BDS) gegen Israel zu unterstützen.
Sie schlossen sich damit dem von nahezu allen palästinensischen Zivilorganisationen getragenen Appell an, die diskriminierende und kolonialistische Politik der israelischen Regierung zu boykottieren und Druck auf unsere jeweiligen Regierungen und die Wirtschaft auszuüben, Embargos und Sanktionen gegen Israel zu erlassen. Boykottmaßnahmen und Desinvestment sind auch Gegenstand des von palästinensischen Christen im Dezember 2009 verabschiedeten Kairos-Papiers sowie des Kairoer Appells durch den internationalen Gaza Freedom March von Anfang diesen Jahres.
Bei dieser Kampagne darf keine Zeit verloren werden, denn jeden Tag gehen die ethnische Säuberung in Palästina und der langsame Genozid an der Bevölkerung Gazas durch die menschenrechtswidrige Blockade weiter. Viele sind bereits gestorben und sterben täglich, weil ihnen die Ausreise zu medizinischen Behandlungen verwehrt wird. Die Verseuchung von Boden und Wasser durch die Hinterlassenschaft des Krieges gegen Gaza führt ebenfalls zu Krankheiten und Tod.
Die Kampagne bietet viele Möglichkeiten, sich als Teil eines bereits sehr erfolgreichen weltweiten Netzwerks von Solidaritätsgruppen, Gewerkschaften, antirassistischen Initiativen, globalisierungskritischen Gruppierungen, kirchlichen Gruppen, kritischen jüdischen und palästinensischen Vereinigungen und linken Parteien, überall dort aktiv einzuschalten, wo wir faktisch mit den Machtstrukturen, Institutionen und Politikern verbunden sind, die die Ungleichheit praktizieren und verfestigen. Überall da gilt es diejenigen, die vom israelischen Apartheidregime profitieren, zur Verantwortung zu ziehen. In Deutschland müssen wir uns ganz besonders der militärischen und so genannten Sicherheits-Kooperation mit Israel entgegen stellen.
„Diese gewaltlosen Strafmaßnahmen müssen“, so heißt es im Appell vom 9. Juli 2005 (Palestinian United Call for BDS against Israel), „solange aufrechterhalten bleiben, bis Israel seiner Verpflichtung nachkommt, den PalästinenserInnen das unveräußerliche Recht der Selbstbestimmung zuzugestehen, und zur Gänze den Maßstäben internationalen Rechts entspricht“.
Folgende Punkte müssen verwirklicht werden (Zitat aus dem Appell)
„Das Ende der israelischen Besatzung und der Kolonialisierung allen arabischen Landes wie auch der Abbau der Apartheid-Mauer
Israels Anerkennung der fundamentalen Rechte der arabisch-palästinensischen Bürger Israels zu voller Gleichberechtigung und
Israels Respekt, Schutz und die Unterstützung der Rechte der palästinensischen Flüchtlinge, in ihre Häuser und zu ihrem Eigentum zurückzukehren, wie es in der UN Resolution 194 vorgesehen ist“.
Die internationale BDS-Kampagne richtet sich selbstverständlich nicht gegen JüdInnen und auch nicht gegen israelische BürgerInnen als solche, sondern allein gegen die Unterdrückungspolitik eines Staates und gegen die Firmen und Institutionen, die an der Besatzung beteiligt sind, sie unterstützen oder davon profitieren. Sie wird daher von zahlreichen jüdischen Organisationen wie auch israelischen Persönlichkeiten unterstützt.
Boykott, Desinvestition und Sanktionen sind der Schlüsselweg, bei dem jeder – wie früher gegen das südafrikanische Apartheidregime – mithelfen kann, wirtschaftlichen und moralischen Druck aufzubauen. Die BDS-Kampagne hat vor allem eine große symbolische Wirkung, indem sie der israelischen Bevölkerung den Spiegel vorhält und sie mit der Tatsache konfrontiert, dass immer mehr Menschen auf der Welt die Politik ihres Staates als verbrecherisch ansehen.
Die zahlreichen Versuche von PalästinenserInnen, Israelis und internationalen Gruppen, die völkerrechtswidrige Blockade Gazas zu durchbrechen, stellen genauso wie BDS eine Methode dar, Unrechtsstrukturen und die Isolierung der Unterdrückten zu durchbrechen. Die KonferenzteilnehmerInnen setzen sich dafür ein, dass weitere Freedom Flotillas und massive Aktionen zu Land und zu Wasser Blockade und Besatzung Gazas und der Westbank beenden.
Die Teilnehmer der Stuttgarter-Konferenz setzen sich außerdem ein für:
Die Freilassung der über 10.000 palästinensischen politischen Gefangenen, insbesondere der Frauen und Kinder sowie der ParlamentarierInnen
Die Beendigung der israelischen Siedlungspolitik und die Rückgabe des geraubten Bodens
Die Aufhebung aller Barrieren, Check -Points und Apartheidmauern in Palästina
Den Stopp der Häuserzerstörungen in der Westbank, in Jerusalem, im Negev, in Galiläa und im ganzen Land
Die Aberkennung der Gemeinnützigkeit des Jewish National Fund (JNF) in Deutschland, da es sich um eine Apartheidorganisation des Staates Israel handelt
Die TeilnehmerInnen appellieren an die Gewerkschaften, die Friedensbewegung, die antirassistischen Initiativen und alle Teile der Zivilgesellschaft, sich diese Positionen zu Eigen zu machen.
Es ist höchste Zeit Druck auf Israel auszuüben. Das zionistische System Israels wird nicht von sich aus die Rechte der PalästinenserInnen anerkennen. Jeder verzögerte Tag kostet die Vernichtung menschlicher Existenz. Bei allen Initiativen, die unternommen werden, darf nicht der Eindruck entstehen, als handele es sich um einen Konflikt zwischen zwei gleich starken Kontrahenten. Tatsache ist die absolute Übermacht des israelischen Militärs und Staatsapparats über eine fast wehrlose palästinensische Bevölkerung. Ziel muss es sein, Menschen weltweit schnellstmöglich aufzuklären und für die Rechte der PalästinenserInnen zu mobilisieren.
Stuttgart, 10. Dezember 2010
Organisatoren und folgende TeilnehmerInnen der Palästina- Solidaritätskonferenz in Stuttgart
sowie UnterstützerInnen der Stuttgarter Erklärung...
Zu einer typisch deutschen Diskussion um Palästina
Die Stuttgarter Palästina Solidaritätskonferenz vom 26. bis 28. November 2010 hat in erfolgreicher Weise Wege für die zukünftige Solidaritätsarbeit beleuchtet. Unter dem Titel „Getrennte Vergangenheit – Gemeinsame Zukunft, Hindernisse und Perspektiven für eine gerechte Lösung“ referierten und diskutierten PalästinenserInnen, Israelis, Deutsche und AktivistInnen aus vielen anderen Ländern über die Frage Rassismus und Apartheid, Unterstützung des palästinensischen zivilen Widerstandes durch BDS und die Perspektive der Ein-Staat-Lösung. Die Konferenz wurde von der Mehrheit der TeilnehmerInnen als positiv empfunden, das Abschlussdokument, die Stuttgarter Erklärung, haben eine Woche nach ihrem Erscheinen 475 UnterstützerInnen aus der Bundesrepublik und vielen weiteren Ländern unterzeichnet und die Zahl wächst rasch. Trotzdem ist um die Stuttgarter Erklärung eine Debatte entstanden, die kontraproduktiv für die Bewegung werden kann. Zwar melden sich nur wenige KritikerInnen zu Wort, doch sie führen die Diskussion umso schärfer und mit diffamierenden Argumenten.
Gegen keine der inzwischen recht zahlreichen Ein Staaten-Konferenzen, die in den letzten sieben Jahren in Lausanne, London, Madrid, Haifa und Texas stattgefunden haben, hat es eine so erbitterte Reaktion gegeben. Die Reaktion von Außenstehenden auf die Stuttgarter Konferenz nimmt eine traurige deutsche Ausnahmestellung ein. An der Diskussion um die abschließende Stuttgarter Erklärung zeigt sich auch, wie schwer es ist, in Deutschland den Aspekt des Apartheid-Staats Israel und die Konsequenzen aus seiner möglichen Überwindung ins Zentrum zu stellen.
Für die ReferentInnen, die OrganisatorInnen und die Mehrheit der KonferenzteilnehmerInnen stellt die Apartheid-Gesellschaft des zionistischen Israels den Kern des Problems dar. Daher darf nicht nur die Besatzung von einer internationalen Bürgerrechtsbewegung bekämpft werden, vielmehr müssen die Säulen der Apartheid, die rassistischen Strukturen des Staates Israels im Zentrum von Boykott, Divestment and Sanctions (BDS) stehen. So ist es auch im Aufruf der palästinensischen Zivilgesellshaft zu BDS gegen Israel festgehalten.
Aus dem palästinensischen BDS-Aufruf geht eindeutig hervor, dass die Maßnahmen so lange fortgeführt werden, bis auch die PalästinenserInnen in Israel gleiche Rechte haben und das Rückkehrrecht der Palästinensischen Flüchtlinge an die Orte, von denen sie vertrieben worden sind und nicht nach Jericho und Gaza (wie viele der KritikerInnen meinen) eingelöst ist (Punkt 2 und 3 in der Erklärung der palästinensischen Zivilgesellschaft vom 9. Juli 2005). Dies soll geschehen, selbst wenn sich die israelischen Besatzungstruppen vorher aus der Westbank zurückgezogen haben und die Gaza-Blockade beendet worden ist.
Ludwig Watzal beschränkt die BDS-Bewegung dagegen auf die Besatzung und beweist damit ein mangelhaftes Verständnis der internationalen Kampagne. Würden wir ihm und anderen KritikerInnen folgen, entstände eine deutsche Sondersituation und eine Spaltung der internationalen Bewegung.
„Spaltung und Sektierertum“ nennen die KritikerInnen Viktoria Waltz, Ludwig Watzal, Thomas Immanuel Steinberg und Knut Mellenthin die Forderung einer Ein-Staat-Lösung in der Stuttgarter Konferenz und der Erklärung. Damit unterscheiden sie sich von den Bürgerrechtsbewegungen in Palästina und Israel. Diese Bewegungen sind offen und relativieren die Menschenrechte nicht. Deutliches Beispiel dafür sind die ReferentInnen der Stuttgarter Konferenz, die alle eine führende Rolle im zivilen palästinensischen Widerstand in der Westbank und im Gazastreifen spielen. Der Referent Mazin Qumsiyeh ist am 22. Dezember beim Protest gegen die Apartheid-Mauer und die Besatzung verhaftet worden. Ein weiteres Beispiel ist Uri Davis, der zwar Mitglied des Fatah-Revolutionsrates ist, sich aber nie auf die Zwei-Staaten-Lösung hat festlegen lassen und wie viele andere Aktivisten aus Palästina/Israel selbstverständlich zu den UnterzeichnerInnen der Stuttgarter Erklärung gehört. Wer dagegen den KritikerInnen folgt, zensiert die AktivistInnen in Palästina/Israel und hält an der Spaltung der Bevölkerung in Religionsgruppen fest. Und schlimmer noch, er schließt den zivilen Widerstand innerhalb der Grünen Linie, im Negev, in Galiläa und an vielen anderen Orten von der Unterstützung durch die deutsche Menschenrechtsbewegung aus. Dies ist bei den KritikerInnen der Stuttgarter Erklärung leider schon seit vielen Jahren Praxis.
Sonderbarerweise verschanzen sich die KritikerInnen hinter dem Argument, man könne den PalästinenserInnen nicht von Deutschland aus das Ein- oder Zwei-Staaten-Modell vorschreiben. Dies tun sie jedoch seit Jahrzehnten selbst, indem sie die Ein-Staaten-Lösung gar nicht in Betracht ziehen und die Zwei-Staaten-Lösung als die einzig richtige darstellen. So soll es ihrer Meinung nach offensichtlich weitergehen, obwohl sich die Zwei-Staaten-Lösung seit langer Zeit in der Sackgasse befindet. Da hilft es auch nicht, das tote Pferd mit einer Vorspiegelung falscher Tatsachen zu beleben. Es ist eben nicht so, dass die „internationale Anerkennung eines palästinensischen Staates erstmals in Reichweite rückt“, wie Knut Mellenthin behauptet. Der Aufruf von Abbas, den palästinensischen Staat anzuerkennen, ist ein verzweifelter Versuch, aus der blockierten Situation zu entrinnen, indem er den Ausruf des palästinensischen Staates in Algier im Jahr 1988 wiederholt. Die Reaktion auf Abbas (5 lateinamerikanische Staaten sprachen die Anerkennung aus) beschreibt die traurige Wirklichkeit. Nach Algier im Jahr 1988 waren es noch 167 Staaten, die den Staat Palästina anerkannt haben. Aber selbst, wenn sich Israel nach Algier aus dem Gebiet in den Grenzen von 1967 zurückgezogen hätte, wäre das Problem nicht gelöst gewesen. Was wäre mit dem Rückkehrrecht der Flüchtlinge und was mit den diskriminierten PalästinenserInnen innerhalb Israels passiert? Wären mit dem Apartheid-Staat so zentrale Fragen wie die gerechte Aufteilung der Wasservorräte zu lösen gewesen? Wohl kaum: Israel bezieht etwa die Hälfte seines Wassers aus der Westbank. Das Problem sind nicht Staatsgrenzen, sondern das Selbstbestimmungsrecht aller PalästinenserInnen und die Anerkennung ihrer Menschenrechte (Freiheit und Gleichheit).
Für eine gerechte Lösung ist ein Systemwechsel im Staat Israel selbst (wie der in Apartheid-Südafrika) die Voraussetzung, dies zeigen die Analysen von Uri Davis und anderen. Wie in Apartheid-Südafrika wird die Einstellung der israelisch-jüdischen Bevölkerung überraschend schnell kippen, sobald das Apartheid-System selbst in Frage gestellt wird. Bleiben die Apartheid-Strukturen im Staat Israel erhalten, werden wir weiterhin jüdisch-israelische BürgerInnen erleben, die zu 55 % keine Wohnungen an nicht-jüdische BürgerInnen vermieten wollen (siehe F.A.Z. vom 8.12.2010) und die Parteien wählen, die den so genannten Transfer aller nicht-jüdischen BürgerInnen in den palästinensischen Kanton-Staat der KritikerInnen der Stuttgarter Erklärung planen.
Diese Absicht haben die PolitikerInnen von Kadima bis Beitunha gleichermaßen. Die KritikerInnen müssen sich fragen, ob sie sich selbst vorstellen können, auf Dauer neben solch rassistischen Nachbarn zu wohnen. Den PalästinenserInnen muten sie das offensichtlich zu.
Vielleicht liegt es an diesen offensichtlichen Verhältnissen, dass die Ein-Staat-Lösung doch ein paar BefürworterInnen mehr hat als das „Dutzend“, das der Kritiker Ludwig Watzal in Israel ausfindig macht. Allein zur Konferenz in Haifa im Juni 2010 kamen 250 TeilnehmerInnen. Zahlreiche weitere internationale Ein-Staat-Konferenzen mit jeweils Hunderten von TeilnehmerInnen gingen ihr voraus. An den UnterzeichnerInnen der Stuttgarter Erklärung, kann man erkennen, wie viele palästinensische Gewerkschaften, Vereine und Initiativen hinter der Stuttgarter Erklärung und ihrer Forderung nach einem gemeinsamen demokratischen und säkularen Staat stehen.
Die Polemik und Aggressivität, die Ludwig Watzal den VerfasserInnen der Stuttgarter Erklärung vorwirft, findet sich wohl eher in seinem Beitrag, in dem sich so viele gezielt falsche Behauptungen finden. Dazu gehört auch, dass Watzal in seinem Artikel die Worte der Schirmfrau Felicia Langer auf der Stuttgarter Konferenz verdreht wiedergibt. Felicia Langer bezeichnete die Ein-Staatenlösung“ zwar tatsächlich als „wunderschön“, aber „unrealistisch“, doch sie fügte auch hinzu „die Hoffnung bleibt“. Sie hat sie also nicht völlig dagegen ausgesprochen, wie Watzal seinen LeserInnen das glauben machen will (siehe die entsprechende Videos auf public solidarity und you tube).
Die VerfasserInnen der Stuttgarter Erklärung sind die letzten, die die Solidaritätsbewegung in Deutschland spalten wollen. Die Analyse, die auf der Konferenz vertreten wurde, spiegelt die Auffassung des Stuttgarter Palästinakomitees seit seiner Gründung im Jahr 1982 wider und trotzdem haben die Mitglieder über Jahrzehnte mit allen anderen Initiativen erfolgreich zusammengearbeitet. Dass eine wirkungsvolle Konferenz mit dem Thema Ein-Staat-Lösung in Deutschland mit harten Angriffen beantwortet würde, haben die OrganisatorInnen erwartet. Das gehört zu den Hindernissen, mit denen sie in der Bundesrepublik und den hiesigen verkrusteten Positionen zur Palästinafrage rechnen mussten. Traurig stimmt auch, dass sich die KritikerInnen den Weg zu einem Frieden nur über die Unterstützung durch Regierungen und die UNO vorstellen können, egal wie wenig sich dieser Weg bewährt hat.
Wie in Deutschland üblich, fehlt das Vertrauen in die Kraft einer sozialen und Bürgerrechtsbewegung. In der Hoffnung auf mehr produktive Offenheit in der Diskussion und klarere Orientierung an den Betroffenen im Konflikt wird derzeit in Stuttgart ein Workshop im Frühjahr zum Thema Boycott, Divestment und Sanctions vorbereitet.
Attia und Verena Rajab
Palästinakomitee Stuttgart
24.12.2010
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Online-Flyer Nr. 282 vom 29.12.2010
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