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Krieg und Frieden
Am 28. Januar Entscheidung über den Truppeneinsatz in Afghanistan
Das Wackelmandat
Von Christoph R. Hörstel

Zur diesjährigen ISAF-Mandatsverlängerung bedient sich die Bundesregierung eines bewährten Mittels: Außenminister und Vizekanzler Westerwelle und der evtl. kommende Kanzler Guttenberg (1) sind sich öffentlich uneins (2) über die Abzugsdaten vom Hindukusch. Diese Scheindebatte soll jetzt dafür sorgen, dass auch aus SPD und Grünen die üblichen Jasager wieder dabei sind. Jeder beruft sich dann auf die ihm am meisten zusagende Variante (3).


Quelle: C.R. Hörstel
Zusammenarbeit ist möglich – auch im Kampfgebiet: Autor Hörstel wechselt von einem Jeep des afghanischen Widerstands in einen Panzerwagen der US-Besatzungstruppen

Eines bleibt aber sicher: Auch während des ganzen Jahres 2011 bleibt Deutschland als drittstärkste Kraft mitführend verantwortlich für Morde, Folter und Kriegsausweitung nach Pakistan.

Dabei lassen wir außer Acht:
- die Grundlage des Einsatzes, die offizielle Verschwörungstheorie zu den Vorfällen von 9/11, ist spätestens seit dem Focus Money-Beitrag „Tathergang“ vom Tisch (4).
- Altbundeskanzler Helmut Schmidt hat sich klar gegen den Einsatz und das Argument ‚Bündnistreue’ für die deutsche Teilname ausgesprochen (5).
- Die Opposition innerhalb der Regierung gegen die Eskalationsstrategie von Obama reicht vom verstorbenen Sonderbeauftragten Richard Holbrooke (6) über den Security Council-Mann Generalleutnant Douglas E. Lute bis zum Vizepräsidenten Joe Biden, schreibt Watergate-Aufklärer Bob Woodward in seinem neuesten Buch: „Obamas Kriege“.
- Die deutsche Mitwirkung ist nicht mehr vonnöten, sagt der vom Auswärtigen Amt finanzierte Think Tank „Stiftung Wissenschaft und Politik“ (7) – auch deshalb, weil inzwischen in unserem Verantwortungsgebiet von neun Provinzen im Nordwesten Afghanistans deutlich mehr US-Truppen stehen als deutsche. Die Amerikaner haben auch deutlich mehr Einsätze auf dem Dienstplan als die Deutschen. Und: Holland ist schon abgezogen, Kanada wird bald folgen. Diese beiden Staaten wurden deshalb auch nicht mit Sanktionen belegt oder anderweitig unangenehm behelligt...
- Es ist umfangreich bereits aus der Zeit der Sowjetbesatzung Afghanistans belegt, warum Obamas Strategie, nur noch die Bevölkerungszentren zu schützen und das weite Land dem Gegner zu überlassen, falsch ist: Auf diese Weise sind die letzten Bastionen bald umzingelt, und ihr Fall ist nur eine Frage der Zeit.
- Wegen der hohen Desertionsrate vor allem in der Polizei sind die angestrebten Mannschaftszahlen erfahrungsgemäß illusorisch. Und auch das bisher Erreichte wird ab Mitte 2011 nicht zu halten sein, sobald die Geschwindigkeit der Truppenaufstockung nachlässt. Also konkret die Prognose des Autors: Allein das Beibehalten der jetzigen Gesamtstärke kann den Kriegsverlust am Hindukusch nicht aufhalten.

Zusätzlich gelten die bisherigen Gründe für das Scheitern am Hindukusch unverändert fort:
Unsere Truppen sichern nicht, wie behauptet, den Aufbau des Landes. Die Entwicklungshilfe für Afghanistan macht etwa 1/10 bis 1/14 der Sicherheitsaufwendungen der "Geberländer" aus, im deutschen Verantwortungsbereich immer noch etwa 1/5 bis 1/7. Damit jedoch ist die Entwicklungshilfe eher das Feigenblatt eines Militäreinsatzes. Diese Entwicklungshilfe erfolgt nicht strategisch, zum Beispiel für eine nachhaltige, die nationale afghanische Eigenständigkeit fördernde Politik, sondern eher wahllos, unterkoordiniert und, laut Stiftung Wissenschaft und Politik, an den militärischen Erfordernissen, nicht an den Interessen des Landes ausgerichtet. Mindestens 40% der "Entwicklungshilfe" fließt auf verschiedenen Kanälen an die "Geberländer" zurück (Gehälter, Materialkosten).

Die Besatzermächte fördern in Afghanistan nicht die demokratische Entwicklung. „Man komme mir nicht mit Demokratie", beschwert sich EU-Wahlbeobachter Prof. Scholl-Latour (8) und beschreibt die Unzulänglichkeiten des afghanischen Systems. Alle Wahlen dort wurden bisher gefälscht, nicht nur die Präsidentenwahl von 2009. Präsident Karzai gilt, auch in der Nato, als machtlose Marionette. Seine Ablösung wird offen diskutiert, die Korruption aller Vizepräsidenten und Minister ist ein offenes Geheimnis. CIA und BND bezeichnen den Bruder des Präsidenten Karzai, Wali Karzai, Provinzgouverneur in Kandahar, als Drogenwarlord. Warum wird nicht untersucht, weshalb wir nicht genügend dagegen unternehmen? Weil herauskäme, was in der seriösen Fachliteratur längst bekannt ist: Die Nato lässt ihre Truppen von den Milizen der Drogenwarlords vor den Taliban beschützen – gegen Dollars in Koffern (9). Auch Deutsche tun das, wie „Präsident“ Karzai dem „Spiegel“ indirekt erklärte. Die Öffentlichkeit wird mit Schatten-Debatten über Polizei-Training hinters Licht geführt.

Inzwischen bauen die USA ein System gut bezahlter, lokaler Söldner-Milizen, um die Taliban bekämpfen zu lassen, dazu holen sie auch Kriminelle aus Gefängnissen – eine Chaos-Strategie! (10) Provinzgouverneure werden in Afghanistan nicht gewählt, sondern vom machtlosen Präsidenten ernannt. So fehlt ihnen die dringend nötige Legitimation.

Diese Politik dient erkennbar seit neun Jahren nicht dazu, die Rückkehr der Taliban an die Macht zu verhindern. Unser Militäreinsatz hat vielmehr als stärkstes Instrument vorrangig dazu geführt, dass die Taliban erstarkt sind - und weiterhin erstarken. Auch britisches Spitzenpersonal erkennt inzwischen den von den Taliban seit langem erklärten Zusammenhang zwischen steigenden Truppenzahlen und steigender Unsicherheit an. (11) Die heimliche Unterstützung v. a. aus China und Pakistan für die Taliban tut ein Übriges. Und weil Armee, Polizei und Rechtssystem Afghanistans rettungslos in die Korruption abgleiten, gewinnen die Taliban als Richter, Polizisten und Kämpfer immer mehr Zulauf, wie diverse Veröffentlichungen Prof. Barnett Rubin, Univ. NY, USA, dem ex-Berater Kofi Annans zeigen. Aber auch Bob Woodward erwähnt diese Zusammenhänge. Und: Ohne Vollverschleierung können sich Frauen außerhalb Kabuls kaum bewegen: Die unglaubwürdige Betonung dieser Frage ist eine Gespenster-Debatte und vielen inzwischen verdächtig: Man bemerkt die Absicht und ist verstimmt.

Auch der Appell an unser Gewissen, weil das afghanische Volk uns „brauche“, stimmt nicht. Vielmehr gibt es eine notwendige Differenzierung zwischen Armut und Bedürftigkeit der Afghanen und dem Sinn dieses Militäreinsatzes. Wir sollen mehr helfen - endlich mit einheitlicher Strategie und entlang den afghanischen Grundbedürfnissen - und wir sollten das militärische Element, das so viel Unheil gebracht hat, endlich zurückfahren. Das afghanische Volk braucht nicht unsere Bomben auf Zivilisten, unsere Uranwaffen (fast vollständig verschwiegen, trotz offenen Eingeständnisses auf der US-Luftwaffen-Website "Air Force News" (12), nicht willkürliche Verhaftungen oder Folter (ai-berichte) - sondern echte, faire Hilfe.

Die deutsche Entwicklungshilfe-Vereinigung VENRO fordert (13) klar viel mehr Hilfe und viel weniger Militär - und vor allem keine Vermischung nach dem gescheiterten CIMIC-Modell (= „zivil-militärische Kooperation“). Es ist mir unverständlich, wie unser Außenamt dem Vorsitzenden der afghanischen "Friedensjirgah" (Jirgah = Ratsversammlung der Ältesten), Herrn Mohammad Zaman Mozamil und seinen Begleitern, 2009 die Einreise auf Einladung der deutschen Friedensbewegung (Friedenskooperative, Bonn) verweigern konnte - und die Medien berichten nicht genügend oder gar nicht. Die Friedensjirgah wird von der Nato nicht als Gesprächspartner anerkannt und politisch behindert, obwohl Karzai sie unterstützt. Afghanen könnten miteinander Frieden schließen und halten, wenn die Nato sie nur ließe. Das traurige Fazit: Politisch haben wir Afghanistan schon lange im Stich gelassen. Eine Konferenz mit USA, China, Iran, Russland und Pakistan, dazu Turkmenistan, Uzbekistan und Tadschikistan könnte den Truppenabzug der Nato vorbereiten sowie mehr und echte Entwicklungshilfe einrichten.

Besonders grotesk wirkt auch das Argument: "Wenn wir Terror nicht in Afghanistan bekämpfen, kommt er zu uns." Die USA fördern nachweislich und heimlich Taliban (14) und Al-Qaeda. Vor allem dieses letzter Verhalten hat der Autor in seiner ISAF-Führungskräfte-Ausbildung als „Terrormanagement“ bezeichnet und weiträumig belegt. (15) Dazu nutzt die CIA die Jahrzehnte alten Verbindungen pakistanischer Geheimdienste. Der pakistanische Militärgeheimdienst ISI (= Inter Services Intelligence“) leistet für die Taliban, wie Ahmed Rashid ("Taliban") in seinem neuesten Werk "Descent into Chaos" (16) mehrfach feststellt: Logistik, Nachschub, Training und Informationen, bis hin zu Feuerschutz, über den US-Truppen immer wieder klagen. Über die tiefe Verwicklung und Verstrickung europäischer Geheimdienste in das angebliche "Terror"-Geschehen auch hier bei uns gibt es viel und glaubwürdige Literatur, sogar deutsche. (17)

USA und Nato sind in Afghanistan, abgesehen von strikt kontraproduktiver Politik, in mindestens drei Verbrechenstypen verwickelt: Verwendung von Uranwaffen (18), Mord an Zivilisten mit Bomben, Raketen, Artillerie und leichteren Waffen sowie Begünstigung von und enge Zusammenarbeit mit Drogenwarlords. Dies alles ist vielfach belegt (19) und muss als erwiesen angesehen werden. Hier Bündnisverpflichtungen als Begründung für politisches und militärisches Mittun vorzutragen, hieße der Komplizenschaft das Wort zu reden. Komplizenschaft ist jedoch das Gegenteil von Freundschaft.

Die Verlängerung des ISAF-Mandats für Afghanistan durch den Bundestag trotz eindeutig gegenläufiger Meinungslage der weit überwiegenden Mehrheit Bevölkerung und entgegen jeder Vernunft offenbart längst einen tiefgreifenden Demokratie- oder System-Skandal in Deutschland heute.

Weitere Informationen erhalten Sie hier: http://www.hoerstel.ch/hoerstel/News/Eintrage/2011/1/15_Afghanistan-Mandatsverlangerung__offener_Brief_an_den_Bundestag.html
und:
http://www.hoerstel.ch/hoerstel/News/Eintrage/2011/1/21_Frieden_fur_Afghanistan__Ruft_Euren_Abgeordneten_an!!.html

(1) Höll, Susanne und Brössler, Daniel: SPD-Abgeordnete verunsichert, Süddeutsche Zeitung, 21. Januar 2011, Seite 6
(2) Brössler, Daniel (dbr): Ende 2011 - oder später, Süddeutsche Zeitung, 19. Januar 2011, Seite 6
(3) Schmidt, Helmut: Was uns wirklich angeht - und was nicht, Die Zeit, Nr. 45, 30. August 2008, Seite 3
(4) Janich, Oliver: Tathergang, Focus Money, 8. September 2010, Seiten 72-79
(5) Erler, Gernot: Wir brauchen Klarheit, Deutschlandfunk (Interview), 21. Januar 2011, http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/1369918/
(6) Woodward, Bob: Obama’s Wars, New York 2010, Seite 333
(7) Maaß, Citha: Die deutsche Hilfe wird nicht gebraucht, taz, 17. März 2010, http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=sw&dig=2010%2F03%2F17%2Fa0002&cHash=1642d88fbd
(8) Scholl-Latour, Peter: Russland im Zangengriff, Berlin 2008, Seite 16
(9) Karzai, Hamid: Das ist jenseits meiner Macht, Der Spiegel (Interview), Nr. 23, 25. Mai 2008, Seite 127
(10) Popal, Karim: Das ist eine unverschämte Arroganz, junge welt (Interview), 01. Dezember 2009, Seite 2
(11) Britischer General gibt Afghanistan-Krieg verloren, Spiegel online, 5. Oktober 2008 http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,582266,00.html
(12) 2008 dort gelöscht (Anmerkung CRH)
(13) Venro: Mission impossible am Hindukusch?, 2010 http://www.venro.org/fileadmin/redaktion/dokumente/Dokumente_2010/Home/100120_Webansicht_Vorschau_Venro_AfghanistanDoku_i-gelb.pdf
(14) Roston, Aram: How the US funds the Taliban, The Nation, 30. November 2009 http://www.thenation.com/doc/20091130/roston und:
Scahill, Jeremy: Pentagon seeks contractor to move weapons through Afghanistan/Pakistan, The Nation, 25. Mai 2010 http://www.thenation.com/blog/pentagon-seeks-contractor-move-weapons-through-pakistanafghanistan
(15) Hörstel, Christoph: Brandherd Pakistan – Wie der Terrorkrieg nach Deutschland kommt, Berlin 2009, Seiten 272-294
(16) Erschienen: New York, USA, 2008
(17) Vor allem: Elsässer, Jürgen: Terrorziel Europa, Graz 2009 – aber auch: von Wedel, Michael und Kremb, Jürgen: Die Abrechnung – ein ehemaliger BKA-Kommissar packt aus, München 2009
(18) Quellensammlung in: Hörstel, Christoph: Afghanistan-Pakistan: Nato am Scheideweg, Berlin 2010, Seiten 27-37
und vor allem in: Zeitfragen:
http://www.zeit-fragen.ch/fileadmin/Dateien/Dossier_UranWaffen_ZF_2006.pdf
(19) Karzai, Hamid: Das ist jenseits meiner Macht, Der Spiegel (Interview), Nr. 23, 25. Mai 2008, Seiten 126-128

Online-Flyer Nr. 286  vom 26.01.2011

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