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Aktueller Online-Flyer vom 24. November 2024  

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Arbeit und Soziales
Integrationsverweigerung einer Amtsperson, von Presseleuten verschwafelt
Die Wahrheit als Opfer
Von Markus Omar Braun

Am 19. Mai dieses Jahres fielen Schüsse in einer Filiale des Jobcenters im Frankfurter Gallus-Viertel. Christy Schwundeck, Kundin des Jobcenters, wurde durch diese schwer verletzt und starb noch am gleichen Tage im Krankenhaus. (1) Seit jener Woche ist wenig mehr zu den genauen Umständen des Tathergangs und seines Hintergrunds bekannt geworden, als damals bereits von der Presse berichtete wurde. Am 8. Juni luden die Geschäftsführung des Jobcenters Frankfurt/Main, die Sozialdezernentin der Stadt und ein leitender Beamter der Arbeitsagentur in Frankfurt zu einer Pressekonferenz aus Anlass dieses Vorfalls. Wer von dieser Veranstaltung etwas anderes als verunklarende Propaganda erwartete, wurde natürlich enttäuscht. Am 18. Juni findet deshalb eine Kundgebung vor der Hauptwache statt.
 
Der Brustton der Überzeugung...
 
Claudia Czernohorsky-Grüneberg, ihres Zeichens Ober- und Hauptverantwortliche für die Zustände im Frankfurter Jobcenter, meinte, angesichts des angereisten Pressepublikums, sich in die Pose der Sicherheit werfen zu können, die seriöse Wissenschaftler meist erst dann einnehmen, wenn ihre Behauptungen 300-prozentig bewiesen sind: "Es geht nicht an, dass unsere Mitarbeiter verdächtigt werden, farbige Menschen schlechter zu behandeln als weiße" – so die Frankfurter Neue Presse. (2). "Mitarbeiter [des Jobcenter] wehren sich gegen Vorwürfe des Rassismus" ist dieser Artikel untertitelt, in welchem als einzige solche Mitarbeiterin besagte Geschäftsführerin sprechen durfte. Hätten andere Mitarbeiter vielleicht ein ganz anderes Bild vom Jobcenter und seiner Geschäftsführung zeichnen können? Uns mag die Frage interessieren, auf der Pressekonferenz hatte sie anscheinend nichts verloren, und auch die FNP mochte sie dort und im Artikel nicht stellen. Dafür wurde die Deutsche nigerianischer Herkunft im selben Artikel posthum zur "Afrikanerin" zurückausgebürgert. Zugleich wurde ihr auch der deutsche Nachname weggenommen: "Christy blieb einfach sitzen... . Als der Beamte Christys Ausweis sehen wollte... ." Spannend wäre zu erfahren: ist diese rassistische Redeweise eine Erfindung des Reporters der Neuen Presse oder auf dem Kompost von Frau Czernohorsky-Grüneberg gewachsen?
 
… war doch nur freches Pfeifen im Walde
 
Wir haben aus diesem Artikel erst einmal mitnehmen dürfen, dass – gleichgültig wie es um die Realität und praktische Relevanz von Rassismus im Jobcenter steht – die Neue Presse wohl zuallerletzt die Kompetenz zur Beurteilung besitzt. Hat sie doch im Rennen um die wohl rassistischste Berichterstattung hier die sonst vorbildlich schlimme Bild-Zeitung deutlich nach Punkten geschlagen! (Wer sich fragen sollte: Warum so hart?, dem nur kurz diese Antwort: Schwarze und andere farbige Mitbürger hassen die onkelhafte Vertraulichkeit, mit der manche Weiße sie ansprechen, denn diese zitiert das kolonialistische hierarchische Verhältnis, bestätigt und zementiert es.) Dabei nicht zu vergessen: die Neue Presse gilt als das Hausblatt des anständigen örtlichen Kleinbürgertums. Dieses erfährt nun von besagter Hauspostille, dass 'wir' zum berüchtigten "Sehr geehrte Damen und Herren, liebe N-r!" nichts dazu zu lernen haben, als anständige Frankforter oder sonstige Deutsche. Das wirft natürlich die Frage auf, wie sehr die Aussage der Geschäftsführerin stimmen kann. Wenn nämlich in ihrem Amt ein Ausschnitt der Gesellschaft (und ja tatsächlich vor allem aus dem Kleinbürgertum) arbeitet, welcher seine Unbildung aus Medien wie der FNP schöpft, dann ist nur von einem auszugehen: Dass viele der Mitarbeiter – es sei denn, sie nähmen an einem ausführlichen Antirassismus-Training teil – dunkelhäutigen Mitbürgern gegenüber genau das Verhalten als "Massa" zeigen, auf das die FNP hin schult ("Wir nennen sie 'boy', auch wenn sie neunzig Jahre alt sind", Jane Elliott).Interessanterweise erwähnte Frau Czernohorsky-Grüneberg keine entgegenwirkende Antirassismusschulung, auch keine Untersuchung über rassistische Verhaltensweisen des Personals. Eine regelmäßige Supervision der Mitarbeiter scheint auch nicht zu existieren, keine rassismusspezifische, aber wohl auch keine allgemeine. Woher dann der Brustton der Überzeugung, der in die eingangs erwähnte Formulierung noch durchschlägt?
 
Rassismus lebt, auch im Amt
 
Wahrscheinlich gar nicht dumm, hat Frau Czernohorsky-Grüneberg so gedacht: 'Das kann niemand beweisen, dass unsere Jobcenter-Mitarbeiter Rassisten sind. Wir von der Behörde können auch nicht das Gegenteil beweisen. Also sage ich einfach: "Unverschämtheit, so eine Unterstellung!" '. Dumm für diese Taktik bloß eines: zwei Sorten Menschen können in dieser Angelegenheit das Jobcenter mit gutem Recht und mit Substanz kritisieren. Die ersten sind nicht-bleiche Mitbürger, beispielhaft für diese sei hier Herr Manga Diagne aus Frankfurt erwähnt (3). Zugegeben, Herr Diagne erzählt im Interview mit der Jungen Welt von Polizeibeamten, die sich an ihm wahrscheinlich auf strafbare Art vergangen haben. Aber warum sollte es solche Beamte oder Angestellte nicht im Jobcenter geben? Hat Frau Czernohorsky-Grüneberg einmal eine kontrollierte Umfrage durch unabhängige Wissenschaftler unter den farbigen Kunden gestartet? Wahrscheinlich unnötig und zu teuer, in der Weltstadt Frankfurt? Ach so, das mit der Weltoffenheit bezieht sich nur auf Zugereiste mit entsprechendem Kleingeld!
 
Außer den Kosten hat Frau Czernohorsky-Grüneberg wahrscheinlich noch einen Grund, ihre Mitarbeiterschaft lieber nicht auf mehr oder meistens minder latenten Rassismus untersuchen zu lassen: Da käme ja glatt ein Handlungsbedarf heraus, und das beim wegen Pleite städtisch verordneten Sparzwang! Der Herr Sparzwang blieb übrigens inkognito auf der Pressekonferenz, und auch die anwesenden Journalisten mochten, so kann man nur aus den Berichten schließen, seine Maske nicht lüften. Doch nicht nur die leider zum Teil übelst betroffenen farbigen Mitbürger wissen aus ihrer täglichen Erfahrung um den Lügencharakter der Behauptung von der ach so großen gesellschaftlichen Toleranz. Diese falsche Mär, von Frau Czernohorsky-Grüneberg frisch aufgewärmt, wird auch von der Fachwelt der Sozialpsychologen wissenschaftlich längst hieb- und stichfest widerlegt.Hier rächt sich, dass die gute Frau ihr Studium vor 30 Jahren abgeschlossen hat (5) und seitdem anscheinend weniger gute Bücher als den Publikationsschrott der Arbeitsagentur studiert. So hat sie zum Beispiel, wie die Polizeiführung auch, die Staatsanwaltschaft sowieso, verschlafen, dass man Rassismus regelrecht messen kann, ebenso seine individuelle Relevanz für das Handeln der jeweiligen (Amts-)Person gegenüber Angehörigen von Minderheiten. Nun kann sie anscheinend weder in ihrem Amt noch sonst in der Stadtverwaltung auf einen entsprechend geschulten Sozialpsychologen zurückgreifen, und die ganze Sache ist auch nicht "outgesourcet", sondern schlicht und einfach vergessen oder weggespart worden: dann hat die Geschäftsführung des Jobcenter in Sachen Rassismus eben einfach von Tuten und Blasen keine Ahnung. Glückwunsch, da kann ja nichts mehr anbrennen, im weltoffenen Frankfurt! (6)
 
"Meine Kunden sind schlimmer als wir!"
 
Wie wird man nur den Makel des Versagens los, wenn man keine Argumente hat? Auch Frau Czernohorsky-Grüneberg hat sich leider nicht entblödet, die klassische Lösung – Mache einfach die Gegenseite schlecht! – zu wählen. Eben noch war sie sich sicher, dass man Vorwürfe auch beweisen können soll, und hat geglaubt, die Gegenseite könne es nicht, schon wirft sie dieses Wissen gleich einfach wieder über Bord: "Jobcenter sieht neue Qualität der Aggression bei Kunden", titelt die FAZ, Frankfurter (All)Gemeine Zeitung (7). Sie, lieber Leser, wissen noch: dahinter steckt nie ein kluger Kopf, aber meist ein arroganter Schnösel. Wenn je irgendein deutsches Zeitungsprodukt an die FAZ in Sachen Entsolidarisierung heranreichen mag, ist es die Bild-Zeitung. Die FAZ, eine textlastige "Bild" für Reiche, Akademiker und andere Angeber, sozusagen. "[…] das Jobcenter [hat] eine neue Qualität der Aggression beklagt. Das Verhalten von Kunden werde immer unberechenbarer und zeige sich auch in körperlicher Gewalt, sagte", laut FAZ, eben jene wohlinformierte Geschäftsführungskraft. Offensichtlich war hier ein anderer Reporter, anscheinend der Frankfurter Rundschau, schlauer und hakte gleich nach (8). "Die Zahl der gewalttätigen Übergriffe in den vergangenen Jahren konnte Czernohorsky-Grüneberg nicht nennen." Leider, leider. Aber schnell einmal eine Behauptung in den Raum stellen und versuchen, mithilfe der Presse nicht nur die Verstorbene (von wegen "de mortuis nil nisi bene" …), sondern gleich die ganze Kundschaft zu kriminalisieren: Ein sauberes Stück Sozialarbeit, Frau Czernohorsky-Grüneberg!
 
Genug ist genug
 
Um dem Leser nicht komplett die nächste Mahlzeit zu verderben oder nicht etwa ein bereits verzehrtes Mahl unvermutet wieder hervor zu zaubern, wollen wir uns für diese Woche mit den bereits beschriebenen Schönheiten bescheiden. Es bliebe noch genug Stoff, damit wir uns in der nächsten Woche erneut den Integrationsverweigern vom Frankfurter Amt widmen können, genug Stoff für Nachrichten aus der Propaganda-, aber auch der Sozialschmarotzer-Republik.
 
Wer bis dann statt der fiktionalen Meisterleistungen auf der Pressekonferenz in Frankfurt ein paar Neuigkeiten von der sozialen Realität in deutschen Jobcentern erfahren möchte, kann dies tun, indem er zum Beispiel zu "Unzugehörig", dem hervorragenden Buch, von Roberto De Lapuente greift (9), oder auf die Schnelle das Interview mit Dr. Bernhard Schülke studiert (10). Wer mag, kann am 18. Juni auch demonstrieren gehen (11), denn auch hier gilt: Indignez-vous! Empört Euch! (PK)
 
Die Kundgebung für die im Alter von 39 Jahren getötete Hartz-IV-Bezieherin Christy Schwundeck findet am Samstag 18. Juni statt: 14:00 Uhr Frankfurt Hauptbahnhof,16:00 Uhr Hauptwache. Aufgerufen haben die "Initiative Christy Schwundeck", die sich zum Ziel gesetzt hat, die Aufklärung des Vorfalls voranzutreiben, und das Netzwerk der hessischen Erwerbsloseninitiativen. (PK)
 
 
(1) Die Neue Rheinische Zeitung berichtete: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=16540
(2) Vgl.: http://www.fnp.de/fnp/region/lokales/frankfurt/nachspiel-zum-schuss-im-jobcenter_rmn01.c.8973558.de.html
(3) Herr Diagne in einem Interview mit der Jungen Welt vom 3. Juni d.J.: "Als Senegalese und Frankfurter möchte ich, daß die Sache glaubwürdig geklärt wird. Viele Schwarze haben leidvolle Erfahrung mit rassistischer Polizeigewalt. Ich selber hatte in einem Fall die Polizei gerufen, weil mein Nachbar mich mit Schlägen bedrohte. Die kam, aber statt sich mit meinem weißen Nachbarn zu beschäftigen, verlangte sie, meine Papiere zu sehen. Vor meinen Kindern haben sie mich beleidigt: 'Du stinkst.' Da fragen wir Schwarzen uns: An wen sollen wir uns wenden, wenn wir bedroht werden?" Vgl. dazu: http://www.jungewelt.de/2011/06-03/027.php
(4)Wer deutsche Verhältnisse nicht weglügen, sondern kennenlernen möchte, der schaue einmal in den Wallraff-Film "Schwarz auf Weiss"
http://www.youtube.com/watch?v=9qDFHO5SN7E
(5) Vgl. http://www.jobmobil-frankfurt.de/index.php/aufgaben-und-ziele-2011.html
(6) Für jeden, der von unseren gesellschaftlichen Missständen etwas wissen will, dürfte sich das folgende hervorragende Fachbuch als Fundgrube erweisen:
Lars-Eric Petersen u. Bernd Six (Hrsg.), Stereotype, Vorurteile und soziale Diskriminierung. Theorien, Befunde und Interventionen. Beltz Verlag, Weinheim/Basel, 2008, 34,95 Euro. Die Daten des Buches nach Libri (Großhändler der typischen kleinen Buchhandlung am Eck):
http://www.libri.de/shop/action/productDetails/7081861/stereotype_vorurteile_und_soziale_diskriminierung_3621276459.html
(7) Vgl. http://www.faz.net/artikel/C30214/nach-todesschuessen-jobcenter-sieht-neue-qualitaet-der-aggression-bei-kunden-30435207.html
(8) In der FR finden wir den Absatz: "Zwar habe es in den Einrichtungen der Sozialverwaltung auch zuvor schon Übergriffe gegeben, 'aber die Qualität hat sich zuletzt deutlich verändert'. Früher hätten aggressive Kunden im schlimmsten Fall eine Bürotür eingetreten, mittlerweile würden Mitarbeiter auch am Schreibtisch angegriffen. Die Zahl der gewalttätigen Übergriffe in den vergangenen Jahren konnte Czernohorsky-Grüneberg nicht nennen." Der ganze Artikel:
http://www.fr-online.de/frankfurt/ohne-schleuse-ins-jobcenter/-/1472798/8539880/-/
(9) Roberto J. De Lapuente: Unzugehörig. Skizzen, Polemiken & Grotesken. Renneritz Verlag, 2009, 11 Euro. Viele der "Skizzen" beschreiben den Alltag in deutschen Sozialbehörden auf manchmal unheimlich treffende Art. Eine Pflichtlektüre nicht nur für Betroffene!
Die Rezension des Buches in der Neuen Rheinischen Zeitung:
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=16579
Das Buch auf der Website des Verlages: http://www.renneritz-verlag.de/unzugehoerig.html
Einige Rezensionen:
http://www.renneritz-verlag.de/artikeldetails/kategorie/belletristik/artikel/unzugehoerig.html
(10) In der Jungen Welt: http://www.jungewelt.de/2011/05-24/021.php
(11) Vgl. die Website der Initiative Christy Schwundeck:
http://www.initiative-christy-schwundeck.blogspot.com/
 
 
Der Autor, Jahrgang '67, seit 1999 Muslim (praktizierend), Diplom-Mathematiker, lebt zur Zeit in Frankfurt am Main.
 


Online-Flyer Nr. 306  vom 15.06.2011

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