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Lokales
Fast 700 Tote in der Fachklinik für Psychiatrie und Neurologie Brauweiler
"Menschen wie Vieh gehalten" - Teil 2
Von Schülern des Geschwister-Scholl-Gymnasiums Pulheim

"Menschen wie Vieh gehalten" – Der Skandal um die Schließung der Fachklinik für Psychiatrie und Neurologie des Landeskrankenhauses Brauweiler 1978“. So lautet der Titel einer Arbeit über die Misshandlung von Psychiatrie-Patienten in Gebäuden der ehemaligen Abtei Brauweiler, für die die SchülerInnen des Leistungskurses Geschichte unter der Leitung ihres Tutors am Pulheimer Geschwister-Scholl-Gymnasium am 18. Juli im Bonner Haus der Geschichte durch NRW-Jugendministerin Ute Schäfer ausgezeichnet wurden. Nach der Einleitung im der letzten NRhZ-Ausgabe veröffentlichen wir nun die Kapitel 1 bis 3 über einen weitgehend unbekannten Teil Kölner Geschichte.
 

Das Abteigebäude Brauweiler heute
Quelle: Geschwister-Scholl-Gymnasium
1. Die Abtei Brauweiler – Wechselhafte Geschichte eines Gebäudes
 
Das Gebäude, in dem von 1969 bis 1978 das Landeskrankenhaus Brauweiler, kurz LKH, bestand, hat eine lange Vorgeschichte. Bereits in der Antike gab es dort Gebäude. Die Römer errichteten auf diesem Areal eine befestigte Anlage und bei Ausgrabungen der Jahre 1983 und 1984 fanden Archäologen Überreste eines römischen Herrenhauses, einer so genannten villa rustica, mit zwei Gebäudeflügeln. Auch im Mittelalter gab es dort Siedlungen. Die erste religiöse Einrichtung an dieser Stelle war eine Holz-, beziehungsweise Steinkapelle, die durch einen Ausbau 1024 zu einem Benediktinerkloster ausgebaut wurde. 1802 verlor das Kloster im Rahmen der Säkularisierung seine Funktion als Kloster. Später, 1811, wurde das Kloster zu einer katholischen Pfarrkirche umfunktioniert und die Abteigebäude nach einem napoleonischen Gesetz als Bettlerdepot genutzt und ab 1815 als „Arbeitsanstalt“. 
 
In der Weimarer Republik unterlagen das „Bewahrungshaus“ und die „Zellengebäude“ der Kölner Justizverwaltung und wurden vermietet. In der Zeit des Nationalsozialismus dienten die Gebäude für 12 Monate als Konzentrationslager. Ab 1941 nutzte die Gestapo das Zellengebäude als Gefängnis, in dem 1944 der ehemalige Bürgermeister von Köln und überregional bedeutende Zentrumspolitiker Konrad Adenauer inhaftiert war. Drei Jahre später wurde der Gebäudekomplex zur Unterbringung während des Zweiten Weltkrieges verschleppter Nichtdeutscher, sogenannten. „displaced persons“ verwendet. Hauptsächlich handelte es sich hierbei um Menschen aus Polen und aus westeuropäischen Ländern. In der Nachkriegszeit wurden die Gebäude dann durch den Provinzialverband als Rheinische Landesarbeitsanstalt neu eröffnet, nachdem sie 1949 von den Engländern freigegeben worden waren. 


Das Gelände der Arbeitsanstalt in den 1920er Jahren
Quelle: Geschwister-Scholl-Gymnasium
 
Ab 1954 wurde die Abtei an die kommunale Verwaltung übergeben und der Landschaftsverband Rheinland nutzte die Räumlichkeiten zunächst als „Arbeitsanstalt“ und dann ab 1969 als Landeskrankenhaus. In dem Landeskrankenhaus waren psychisch kranke, drogen- und alkoholabhängige Menschen untergebracht, welche unter menschenunwürdigen Zuständen behandelt wurden. 1980 wurden einige Gebäudeteile, um die unerfreuliche Vergangenheit vergessen zu machen, abgerissen, andere umfangreich renoviert und saniert und als Kulturdienststelle und Archiv genutzt. So wurden, wie uns ein Historiker bei unserem Besuch in Brauweiler erzählte, vor dem Abriss der Gebäude auch keine Fotos von der Inneneinrichtung des Landeskrankenhauses gemacht. Es gibt somit kaum Fotos der Inneneinrichtung.
 
2. Historischer Kontext des Skandals: Die Umbruchzeit der 70er Jahre
 
Die Zeit, in die der Skandal um das Landeskrankenhaus Brauweiler fiel, war eine wechselvolle Zeit. In den 1970er Jahren herrschte weltweit der so genannte Kalte Krieg, bei dem die militärischen Bündnisse NATO und Warschauer Pakt sich mit Atombomben und Massenvernichtungswaffen bedrohten. Gleichzeitig gab es zu der Zeit Gespräche zwischen der UdSSR und der USA, die eine Entspannung zum Ziel hatten. Der Vietnam-Krieg weitete sich aus und das friedliche Zusammenleben der Menschheit wurde durch weltweite Terroraktionen überschattet.
 
In Westdeutschland kam es 1969 zu einem Machtwechsel. Die CDU wurde von der SPD mit Bundeskanzler Willy Brandt abgelöst, der ersten SPD-geführten Regierung in Deutschland. Willy Brandt schloss während seiner Amtszeit die politisch höchst umstrittenen „Ostverträge“ ab, mit denen die nach dem Krieg neu festgelegten Ostgrenzen Deutschlands anerkannt und damit der Verzicht Deutschlands auf die „deutschen Ostgebiete“ völkerrechtlich festgeschrieben wurde. Des Weiteren wurden während Zeit Brands als Bundeskanzler der Vorgang der Scheidung erleichtert, Homosexualität legalisiert, die Rechte der Rentner und Studenten gestärkt und die soziale Situation der Arbeitslosen verbessert.
 
Ein weiteres Problem dieser Zeit war der Terrorismus, der von einer extremistischen, linksradikalen Gruppe, der „Baader-Meinhof-Gruppe“, ausging. Die Mitglieder dieser Gruppe wollten den demokratischen Staat umstürzen, und schreckten auch nicht vor Morden zurück. Die Gewalttätigkeit dieser Gruppe und die hierdurch verursachte Angst, zog eine tiefe Verunsicherung in der Politik und den Ruf nach „mehr Staat“, also erhöhter staatlicher Kontroll- und Eingriffsrechte nach sich. Viele der danach beschlossenen staatlichen Maßnahmen und Gesetzesänderungen führten zu Protesten der Bevölkerung, die um ihre Freiheitsrechte fürchtete.
 
Bevor es zu dem Terrorismus kam, gab es 1968 viele Demonstrationen von Studenten, besonders die gegen den Schah von Persien ist bedeutend. Denn als die Polizei versuchte, die Unruhen in den Griff zu bekommen, tötete sie einen der Demonstranten. Die Demonstrationen richteten sich vor allem gegen den Vietnam-Krieg und die Bonner Notstandsgesetze und wurden nach dem Mord an dem Studenten Benno Ohnesorg zu einer Massenbewegung. Auch an der Universität Köln gab es studentische Proteste. Wichtig für den Skandal um das Landeskrankenhaus Brauweiler ist, dass einige Mitglieder der Sozialistischen Selbsthilfe Köln (SSK) aus dem Milieu der protestierenden Studenten stammten – politisch also eher links einzuordnen sind.
 
Aus einem Teil der Protestbewegung spaltete sich im weiteren Verlauf eine terroristische Gruppe ab, die sich „Rote-Armee-Fraktion“ (RAF) nannte. Sie setzte Kaufhäuser in Brand und auch ab 1970 führte sie weitere terroristische Aktivitäten (u.a. Banküberfälle) durch, obwohl ihre Anführer von der Polizei gefasst wurden. Auch vor Morden schreckten sie nicht zurück und ermordeten führende Persönlichkeiten, wie den Vorstandssprecher der Dresdner Bank. Erst ca. 1990 war der Terrorismus endgültig beendet, jedoch haben sich einige meisten Mitglieder der RAF auch selbst umgebracht oder wurden zu lebenslanger Haft verurteilt.
 
Ein wichtiger politischer Programmpunkt der ursprünglichen 68er-Bewegung war u.a. die Verbesserung der Situation in den Psychiatrien der Bundesrepublik. Die Verhältnisse dort wurden oft als unerträglich empfunden. Es gründeten sich Anfang der siebziger Jahre Organisationen, wie die Deutsche Gesellschaft für soziale Psychiatrie, die sich für die Rechte von psychisch kranken Menschen einsetzte und eine Verbesserung der Lebensverhältnisse forderte. Der politische Druck wurde sogar so groß, dass sich der Deutsche Bundestag mit dem Thema beschäftigte und eine Enquête-Kommission einsetzte. Diese veröffentlichte 1975 ihren „Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland“, die so genannte Psychatrie-Enquête.
 
3. Die Vorgeschichte der Einrichtung LKH Brauweiler
 
Die Geschichte der Institution Landeskrankenhaus Brauweiler stand von Beginn an unter keinem guten Stern. Bereits in den fünfziger Jahren kam es zu ersten Skandalen, so Ende 1953, als Mitglieder des Sozialausschusses des nordrhein-westfälischen Landestages die Landesarbeitsanstalt besichtigten und bei ihrer Besichtigung eine junge Insassin antrafen, die aus purer Verzweiflung Stecknadeln geschluckt hatte und deshalb in eine Einzelzelle verlegt worden war. Dies erregte während dieser Zeit großes Interesse der Zeitungen, vor allem die „Münchener Illustrierte“ und die Zeitschrift „Aufwärts“ berichteten.  
 
Ein weiteres Ärgernis war, dass Heinrich Corsten, der damalige Leiter der Arbeitsanstalt, sein Gehalt aufzubessern versuchte, indem er Anfang der 50er Jahre mehrere Gemüsegärten und einen Hühnerstall anlegte und von deren Ertrag wirtschaftlich profitierte. Schließlich wurde Corsten 1956 durch Rudolf Müller ersetzt, da er wegen Untreue und Urkundenfälschung im Amt und wegen Betruges verurteilt worden war. Rudolf Müller sollte der letzte Anstaltsleiter der Arbeitsanstalt sein. In seiner Amtszeit wurde unter anderem bekannt, dass Insassen von Wachleuten geschlagen wurden. 
 
Im März 1968 wurde Müller durch Dr. Reinhard Mangliers abgelöst. Dieser setzte sich dafür ein, dass aus der Arbeitsanstalt ein Landeskrankenhaus wurde. So kam es dann 1969 zur Umbenennung in Landeskrankenhaus Brauweiler. Mangliers konnte jedoch die Missstände, die auch danach noch herrschten, nicht komplett beseitigen. Dies führte dazu, dass er 1971 sein Amt niederlegte und am 20. August 1971 durch den als liberal geltenden und bekannten Psychologen Dr. Fritz Stockhausen ersetzt wurde. Stockhausen wollte das Landeskrankenhaus laut eigener Aussage „offener und liberaler“ gestalten und in eine „bürgernahe Psychiatrie“ überführen. Mit diesem Ziel begründete er die Einrichtung offener Fenster in seinem Krankenhaus, die die Heilung der Patienten fördern sollten. Dadurch ergaben sich jedoch Fluchtmöglichkeiten. Für viele Fliehende, die von der hohen Anstaltsmauer, die im Volksmund „Eigernordwand“ genannt wurde, sprangen, endeten die Versuche in einigen Fällen sogar tödlich. 
 
3.1 Die Vorgänge im Landeskrankenhaus Brauweiler
 
Anfang der 1970er Jahre begann mit der Einstellung von Dr. Fritz Stockhausen als leitender Aufsicht des rheinischen Landeskrankenhauses die eigentliche Skandalzeit. Die Anordnung, dass die Fenster nachts unverriegelt bleiben, war eine der ersten Maßnahmen des neuen Leiters. Seiner Meinung nach bedeutete diese Anweisung ein Zeichen „beginnender Genesung“ der Insassen und „Normalität“ in der Anstalt in Brauweiler. Jedoch eröffnete sich durch die unverschlossenen Fenster, wie bereits beschrieben, eine Möglichkeit für die Patienten die Klinik in eigener Initiative zu verlassen. Stockhausen betrachtete diese Ereignisse als „Zeichen der Wirksamkeit seiner Maßnahmen. Dass die Ausflüge der Insassen mit schweren Verletzungen oder gar dem Tod endeten, wurde ignoriert.
 
Der damals ermittelnde Kommissar geht von mehr als 180 Fluchtversuchen aus. Weiter ist hervorzuheben, dass die Kontrolleure des Verbandes diese Zustände übersahen oder übersehen wollten. In den umliegenden Ortschaften hingegen waren vielen Menschen die Vorfälle in Brauweiler bekannt. An dieser Stelle stellt sich die Frage, warum diese Bürgerinnen und Bürger damals nicht eingegriffen haben.
 
Neben diesen Flucht-Vorfällen wurde Anfang 1976 bekannt, dass Stockhausen selbst Symptome von Alkoholmissbrauch und starker Stimmungsschwankungen aufwies. Professor Casper Kuhlenkampff, der leitende Gesundheitsdezernent des Landschaftsverbandes, verfasste nach dieser Beobachtung eine schriftliche Mitteilung an den Personaldezernenten. In dieser Nachricht waren die Aussagen enthalten, dass Stockhausen nicht in der Lage sei, das Landeskrankenhaus weiter zu leiten. Kuhlenkampff stellte weiter ein „desolates Bild und völlige Führungslosigkeit“ in der Anstalt fest. Ein Beispiel für das desolate Bild sind die unverschlossenen Fenster. Zwar nahm der Landschaftsverband die Benachrichtigung von Professor Kuhlenkampff zu Kenntnis, aber es wurden keine Veränderungen eingeleitet. Des Weiteren soll Stockhausen sich wiederholt auffällig verhalten haben, so habe er beim Ertönen der örtlichen Feuerwehrsirenen „Baader-Meinhof“ gerufen oder er habe im Keller des Landeskrankenhauses, mit einer Walther-Pistole 7.65 in der Tasche nach einer Höllenmaschine gesucht und „Bombenalarm“ gerufen.
 
Die Situation im Landeskrankenhaus Brauweiler soll sich noch weiter verschlechtert haben, als Dr. Werner Thewalt als stellvertretender Direktor eingestellt wurde. Dieser war in der Zeit davor dadurch aufgefallen, dass „fast alle Patienten [in Thewalts Haus 4] in geradezu unverständlicher Weise extrem medikamentös überdosiert waren. Ein Patient schwebte dadurch vorübergehend in Lebensgefahr. Außerdem war Werner Thewalt unter den Patienten und den Angestellten im Landeskrankenhaus als „der Sonnengott“ bekannt. Er weigerte sich, selbst Türen zu öffnen und wartete bis ein Pfleger die Tür für ihn aufschloss. Darüber hinaus wurde der stellvertretende Direktor kritisiert, weil er „einem Ausländer nicht die Hand“ geben wollte.
 
Zwei Todesfälle erlangten durch eine zu hohe medikamentöse Behandlung besondere Aufmerksamkeit. Zum einen der Tod der noch minderjährigen Marion Masuhr (siehe dazu das folgende Kapitel). Die Patientin war geistig behindert und musste mehrfach im Landeskrankenhaus Brauweiler behandelt werden. In den meisten Fällen wurde Marion Masuhr mit Psychopharmaka still gestellt, aber da die Insassin in eine tiefe Bewusstseinstrübung fiel, wurden die Medikamente abgesetzt. Dies führte zum Tod der Patienten, die laut Totenschein an „zentralem Kreislaufversagen“ verstarb.
 
Der zweite Todesfall in Folge von zu hoher medikamentöser Behandlung war der Tod von Franz Machwirth. Der Patient war von der Kölner Schildergasse nach Brauweiler überführt worden. Dort wurden ihm so viele Betäubungsmittel verabreicht, sodass er am 17. Juli 1977 „an Herzversagen“ starb.
 
Neben der falschen Behandlung durch die leitenden Ärzte, ist die Inkompetenz einiger Pflegerinnen und Pfleger hervorzuheben. Sie wurden zum Teil einfach aus der Arbeitsanstalt in die Psychiatrie übernommen und in der Nachkriegszeit in nur wenigen Stunden fortgebildet, hatten also keine Ausbildung für diesen Beruf absolviert. Daher wiesen die Angestellten nicht ausreichend Fachwissen auf, um Krankenbilder richtig zu deuten.
 
Die Vorgänge werfen natürlich die Frage auf, was mit den Leichnamen der Menschen geschah, die im Landeskrankenhaus gestorben waren. Die Toten der Landesklinik Brauweiler mussten eigentlich in ihre jeweiligen Geburtsdörfer beziehungsweise -Städte überstellt und beerdigt werden. Da jedoch einige der Patienten auch in Brauweiler geboren waren, oder ihr Heimatdorf unbekannt war, wurden die meisten Toten auf dem Friedhof in Brauweiler beerdigt. Die Toten wurden auf einem sogenannten Landfeld bestattet, welches heute jedoch nicht mehr existiert. Nach Aussage des Beerdigungsinstituts wurden sie immer mit dem Segen eines Pfarrers beerdigt und bekamen als Grabstein ein Holzkreuz. Auf diesem standen der Name sowie das Geburts- und Sterbedatum. All diese Gräber wurden von einem Gärtner instand gehalten, welcher nach Angaben des Beerdigungsinstituts von der Landesklinik Brauweiler bezahlt wurde. Es ist zu vermuten, dass die Landesklinik den äußeren Schein wahren wollte, damit die Bevölkerung den Trugschluss zog, dass hinter den Mauern der Landesklinik alles seine Ordnung hatte. (PK)
 
In der nächsten Ausgabe folgen die Kapitel 4. Der Landschaftsverband Rheinland als Betreiber der Psychiatrie und 5. Die Rolle der Sozialistischen Selbsthilfe Köln (SSK) im Skandal um die Schließung des Landeskrankenhauses Brauweiler.
 


Online-Flyer Nr. 313  vom 03.08.2011

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