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Krieg und Frieden
Kriegsbefürworter Ischinger erteilt Marschbefehl für olivgrüne Zivilklausel
Uni Tübingen: Orwell lässt grüßen
Von Dietrich Schulze

Nach Auseinandersetzungen an der Universität Karlsruhe ab Herbst 2008 um eine Zivilklausel hatte die Uni Tübingen im Dezember 2009 überraschend eine solche beschlossen: „Lehre, Forschung und Studium an der Universität sollen friedlichen Zwecken dienen, das Zusammenleben der Völker bereichern und im Bewusstsein der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen erfolgen.ʺ

„Zeigt in der Uni Tübingen, wo es lang geht: Wolfgang Ischinger.“
Quelle: focus und http://de.indymedia.org
 
Überraschend, weil die Uni Tübingen traditionell konservativ geprägt ist und die Forderung der Studierenden ohne größere Mobilisierung akzeptiert wurde. Noch überraschender: im September 2010 genehmigt eben jene schwarz-gelbe Landesregierung die Zivilklausel für die Uni Tübingen, die sie für Karlsruhe als verfassungswidrig bezeichnet hatte. Und nun wird es obermerkwürdig. Kurz danach wird der Chef der NATO-"Sicherheits“-Konferenz, Wolfgang Ischinger, von der Universität zum Honorarprofessor berufen.(1) Das wird erst im Mai 2011 aufgrund der Antrittsvorlesung bekannt. Bereits im April 2010 hatte es gegen einen Ischinger-Auftritt in der Uni heftige Proteste wegen Verstoßes gegen die Zivilklausel gegeben. Erst kürzlich wurde aufgedeckt, dass die Uni Tübingen trotz Zivilklausel an Rüstungsforschungsprogrammen (Medizin gegen Chemie-waffen, Mini-Drohnen) beteiligt ist.
 
Wie sollen diese offensichtlichen Widersprüche zur Zivilklausel verstanden werden? Wolfgang Ischinger erklärt zum Vorwurf seiner Bestellung als Honorarprofessor in einem Interview im Schwäbischen Tagblatt vom 7. Oktober 2011: „Das ist nun wirklich ganz absurd. Ich habe mich in meiner ganzen beruflichen Laufbahn für Abrüstung und Friedenspolitik eingesetzt. Mein Eindruck ist, dass da – ohne Prüfung der Fakten – einfach Feindbilder aufgebaut werden. Für das Pflegen solcher Feindbilder sollte jedenfalls an der Uni Tübingen kein Raum sein.“
 
Die Fakten wurden geprüft. Anlässlich des 10. Jahrestags des Afghanistankriegs kam an die Öffentlichkeit, dass Ischinger als deutscher Botschafter in Washington persönlich die deutsche Kriegsbeteiligung mit der Formel von der „uneingeschränkten Solidarität“ eingefädelt hat (Spiegel 5.9.11). Erst kürzlich hat er sich für den weiteren Ausbau der EU-Kriegsführungs-fähigkeit nach US-Vorbild und für die Einschränkung des Parlamentsvorbehalts für Auslandseinsätze der Bundeswehr ausgesprochen.


Ischinger bei Attac München
Collage: Dietrich Schulze
Quelle: http://de.indymedia.org
 
Auch das ist nach Ischinger mit der Zivilklausel übereinstimmende Friedens-politik und wird von ihm im Interview so begründet: „Es ist doch gerade das Ziel solcher Missionen, der Bevölkerung in Krisengebieten eine friedlichere Zukunft zu ermöglichen. Entspricht das denn nicht dem Gedanken der Zivilklausel? Die Anwendung militärischer Gewalt ist nie unproblematisch und darf immer nur Ultima Ratio sein – aber die Welt, in der wir leben, ist leider kein friedliches Paradies. Es ist eine Welt mit Diktatoren, nuklearer und konventioneller Auf- rüstung, mit schrecklichen Bürgerkriegen, Piraten und Terroristen. Da erscheint die Anwendung militärischer Macht manchmal – leider – unumgänglich, um Frieden wiederherzustellen.“
 
Schon nicht mehr erstaunlich, dass Ischinger auch Rüstungsforschung an der Uni mit der Zivilklausel für vereinbar hält: „Man sollte sich in Erinnerung rufen, dass es beispielsweise das Internet ohne militärische Forschung nicht geben würde. Solche Forschung, wie hier in Tübingen beispielsweise über die Behandlung bestimmter Vergiftungen, kommt meines Wissens außerdem im Prinzip allen zugute – nicht nur der Bundeswehr.“ Genau dasselbe sagt die Universität auch. Auf eine Pressekritik an der wehrmedizinischen Forschung (taz 28.9.11) antwortet die Uni, dass mit dem Projekt „….selbstverständlich keinerlei kriegerische Zielsetzungen verfolgt wurden und werden, weshalb es mit der „Zivilklausel“ in Einklang steht. Dem Projekt liegt eine ausschließlich humanitäre Motivation zugrunde, denn es geht um die Verminderung von Leid von dem aktuell Menschen in vielen Entwicklungsländern betroffen sind. Zudem soll das Projekt dazu dienen, die Wahrscheinlichkeit zukünftiger terroristischer Akte, bei denen Organophosphate freigesetzt werden, zu vermindern bzw. die medizinische Versorgung der potentiell Betroffenen zu verbessern, unabhängig davon ob es sich um Soldaten der Bundeswehr oder Zivilisten handelt.“ Experten der Friedensbewegung erklären den eindeutig militärischen Zweck dieser Forschung mit dem Umbau der Bundeswehr zur Einsatztruppe für “humanitäre Interventionen“, bei dem mit Gegenwehr mittels primitiver Chemiewaffen zu rechnen ist (junge Welt 23.6.11).
 
Der Uni-Leitung in Tübingen geht es darum, die Zivilklausel und den „friedlichen Zweck“ als zivilmilitärische Bundeswehr-kompatible Klausel, als olivgrüne „Friedens“-Klausel durchzusetzen, als eine Kooperationsvereinba- rung Bundeswehr-Hochschule. Zur Realisierung dieser Perversion ist Wolfgang Ischinger, der es gewohnt ist, Krieg als Frieden zu verkaufen, bestens geeignet und deshalb bestellt worden. „Krieg ist Frieden“. Die Uni Tübingen hat - zuge- geben mit etwas Verspätung - eine Abteilung des Orwell’schen Wahrheits-ministeriums errichtet.
 
Damit die Studierenden die neuen Wahrheiten auch gebührend verinnerlichen, wird es in der Zeit vom 18. Oktober bis 31. Januar eine aufwendige Ringvorlesungsreihe geben. Nachdem die gegen die Zivilklausel gerichteten Fakten geschaffen worden sind, soll darüber geplaudert werden, u.a. mit einer Referentin der Bundeswehr-Führungsakademie und gleich vier IfP-Referenten. „Krieg ist Frieden“ müsste über dieser Reihe stehen.
 
Die Zivilklausel-Bewegung hat es einige Zeit gekostet, ehe sie sich diese verantwortungslose Absicht überhaupt vorstellen konnte.
 
Wenig erstaunlich, dass der Autor - unter absichtsvollem Verschweigen der Ischinger-Bestellung im März als Auftaktredner für die Ringvorlesung engagiert - kürzlich ausgeladen wurde. Er hatte es gewagt, die Rücknahme der Ischinger-Honorarprofessur öffentlich zu fordern und die Rüstungsforschungs- programme zu kritisieren. Im Juni hatte er in der Webseite des Bremer Friedensforums unter dem Titel „CIMICC contra Zivilklausel“ Thesen veröffentlicht , die so zusammen gefasst werden können: Neben der bisherigen passiven Linie, die auf Ablehnung der Zivilklausel bzw. auf unverbindliche Ethik-Leitlinien hinausläuft, wird seit Beginn des Jahres eine aktive Linie sichtbar, die auf Durchsetzung einer zivilmilitärischen Kooperationsklausel gerichtet ist und deren politische Wurzel in der NATO-Strategie CIMIC, der zivilmilitärischen Zusammenarbeit liegt. Als Hintergrund muss die Ökonomi-sierung der Hochschulen und die Eliteförderung gesehen werden, verbunden mit einer bewusst gesteuerten chronischen Unterfinanzierung, Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse und Drittmitteleinnahmen als Exzellenz-merkmal.
 
In der Uni Bremen soll die Zivilklausel (Ablehnung Forschungsthemen und -mittel, die Rüstungszwecken dienen können) so abgeändert werden, dass sie mit der Stiftungsprofessur des Bremer Weltraumrüstungsunternehmens OHB-Systems vereinbar wird. Dort hat sich ein breit gefächerter Widerstand gebildet.
 
Fazit: Eine olivgrüne „Friedens“-Klausel, d.h. eine Kooperationsvereinbarung Bundeswehr-Hochschule an der Uni Tübingen und anderswo muss verhindert werden.
 
Alle demokratischen Mittel sollten dafür eingesetzt werden, die Zivilklausel der Uni Tübingen zu schützen, d.h. mitzuhelfen, dass die Ischinger-Honorar-professur beendet wird. Die gesamte Friedensbewegung ist aufgerufen, diese neue Dimension der Militarisierung der Hochschulen zu begreifen und den Widerstand dagegen zu unterstützen. Am 28./29. Oktober wird es in Tübingen einen landesweiten Zivilklausel-Kongress geben. (PK)
 
(1) http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=16734
 
 
Dr. Dietrich Schulze dietrich.schulze@gmx.de
Beiratsmitglied der NaturwissenschaftlerInnen-Initiative für Frieden und Zukunftsfähigkeit www.natwiss.de und der Initiative gegen Militärforschung an Universitäten www.stattweb.de/files/DokuKITcivil.pdf
tel +49721 385403 hy +49160 9911 3131

Lesen Sie hierzu auch den Artikel von Dietrich Antelmann in dieser Ausgabe.


Online-Flyer Nr. 323  vom 12.10.2011

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