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Aktueller Online-Flyer vom 28. März 2024  

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Arbeit und Soziales
Aufregung bei Geringverdienern
Jünger sterben
Von Christoph Dziedo

Nach einer Untersuchung der Deutschen Rentenversicherung sterben Menschen, die wenig verdienen, aufgrund wachsender sozialer Härte zwei Jahre früher als andere. Das interessierte Matthias Burkwald, rentenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion DIE.LINKE im Deutschen Bundestag näher. Doch die Bundesregierung wiegelt ab und hält die Daten für statistisch nicht relevant. Was von diesem Manöver zu halten ist, klärt Statistikprofessor Gerd Bosbach in einem Interview auf. Nun will DIE.LINKE mit einem Antrag die Rente mit 67 wieder kippen, weil sie offenbar auf falschen Zahlen beruht. Die Redaktion.

Christoph Dziedo: Die Bundesregierung sagt, die Zahlen seien weder repräsentativ noch aussagekräftig. Ist das nur eine Masche, der unangenehmen Wahrheit zu entgehen oder gibt es berechtigte Zweifel an der Auslegungsweise der Studie?

Gerd Bosbach: Nach meinen Erfahrungen mit Politikern im gesamten

Untersucht Lügen mit Zahlen: Prof. Dr.
Gerd Bosbach
Foto: Hans-Dieter Hey / R-mediabase
Politikbereich halte ich das für eine Masche der Regierung. Die Zahlen sind ihr unlieb, und dann möchte man sie wegdiskutieren: Und das kleine Stäubchen, was bei der Erhebung dazwischen gekommen ist, plustert man auf als das große Problem. Die Daten sind aus ganz vielen Gründen plausibel. Das Erste ist, es handelt sich um reine Fakten. Das heißt, wer gestorben ist und in welchem Alter, das weiß man. Und die Deutsche Rentenversicherung ist die Quelle, die das noch am besten Mitgeteilte bekommt. Ganz oft redet man über Vermutungen oder Meinungen.

Aber hier sind es wirklich reale Fakten, die da sind. Das Zweite ist: Die Deutsche Rentenversicherung als solche ist ein sehr seriöses Institut. Und bei einer Datenmenge von insgesamt 20.000 können keine Zufälle mehr eine Rolle spielen. Das sind tatsächlich gesicherte Fakten, die auch eine gewisse Logik in sich haben. Und das ist das, was der Regierung weh tut. Nämlich diese Logik möchten sie abschalten, dass frühes Sterben etwas mit dem sozialen Hintergrund zu tun hat. Und vor allen Dingen auch, dass die Lebenserwartung nicht eine seit Jahrhunderten steigene Kurve ist. Diesen Gedanken verbreitet man ja heute. Und den Gedanken möchten sie wegdiskutieren, dass Lebenserwartung auch wieder nach unten gehen kann.

Warum sind wir immer älter, warum sind wir als Menschen immer größer geworden? Weil die Ernähung und die medizinische Versorgung immer besser wurde. Und wenn diese beiden Teile jetzt für einen ärmeren Teil der Bevölkerung nicht mehr gelten, warum soll sich dann der Prozess des längeren Lebens länger entwickeln? Da gibt es noch eine interessante Hintergrundinformation zu „nicht immer älter, nicht immer größer“. Unsere Kinder werden im statistischen Mittel nicht größer als die Erwachsenengeneration. Da sieht man das Ende des Trends auch schon. Und bei der Lebenserwartung erwarte ich das in mehreren Jahrzehnten für alle, und in den Gruppen, die besonders betroffen sind, auch schon jetzt.

Christoph Dziedo: Sie haben gerade gesagt, die Daten kommen von der Deutschen Renteversicherung. Und Sie sind dafür bekannt, dass sie viele Aussagen von Daten auch als Lügen kritisieren und als Autor des Buches 'Lügen mit Zahlen'. In diesem Fall ist es genau das Gegenteil. Sie finden diese Zahlen der Rentenversicherung absolut in Ordnung und glaubhaft. Warum sind sie so glaubhaft?

Gerd Bosbach: Das Erste war auch ein gefühlter Eindruck, als ich gestern den Versuch der Widerlegung durch Regierung und einzelne Politiker gehört habe. Das erinnerte mich sehr stark an einen Seiltänzer, der kurz davor ist abzustürzen. Das wirkte wie ein Geeiere und machte einen sehr unplausiblen Eindruck. Danach habe ich einiges über die Fakten erfahren, die dahinter standen, und die Deutsche Renteversicherung hat die Verstorbenen untersucht. Und das ist nun eine recht eindeutige Quelle. Unsere Regierung redet immer über die Prognosen der Bevölkerung bis zum Jahr 2060, sie reden immer über unsere Lebenserwartung, die keiner kennt. Wie alt Sie, lieber Hörer, Sie lieber Moderator oder ich werden, das weiß keiner.

Von allen die leben, weiß keiner, wie alt sie werden. Das sind alles sehr unsichere Faktoren. Von denen reden sie immer, als wären sie sichere Tatsachen. Genauso von der wirtschaftliche Entwicklung, als wäre das ein sicherer Zusammenhang. Und jetzt bringen sie Zahlen über real Gestorbene in einen unsicheren Zusammenhang. Das ist sehr unglaubwürdig. Und die Deutsche Rentenversicherung hat keinen Grund, zu lügen. Die Leute, die ihre Daten der Deutschen Renteversicherung geben, haben auch keinen Grund zu lügen. Bis auf einen ganz kleinen Punkt: Ein Schwarzarbeiter wird seine Zahlen nicht über die Schwarzarbeit geben. Aber alle anderen werden ihre Fakten der Rentenversicherung geben, denn davon hängt letztlich die Rente ab. Das  heißt: Man hat gesicherte Fakten über gesicherte Zusammenhänge, und dann auch noch vollständig und nicht als Stichprobe. Keine Stichprobe von Tausend Befragten, sondern die vollständigen Daten aller Gestorbenen. Was Seriöseres kann man sich als Statistiker gar nicht wünschen.

Christoph Dziedo: Also, die Moral von der Geschichte ist, immer mit tatsächlich vorhandenen Zahlen zu argumentieren, damit ist man auf der sicheren Seite, und nicht mit der Lebenserwartung, wie es die Bundesregierung gestern getan hat.

Gerd Bosbach: Ein bißchen einschränken muss ich schon, denn wir müssen uns auch über die Zukunft Gedanken machen. Und da die Zukunft bekannterweise ungewiss ist, müssen wir uns auch über Ungewisses Gedanken machen. In diese Richtung müssen wir Prognosen wagen. Wir dürfen sie nur nicht mit der Wirklichkeit verwechseln. Aber wenn wir über die vorhandenen Sachen reden, können wir uns an die Fakten halten, und das stört oft. Da sollte man vorsichtig sein, was die langfristigen Prognosen angeht und die politische Nutzung dieser Langfristprognosen.

Christoph Dziedo: Geringverdiener leben kürzer. Das ist das Ergebnis einer Statistik der Bundesregierung. Nur die Bundesregierung will das Ergebnis nicht wahrhaben. Statistikprofessor Gerd Bosbach von der Fachhochschule Koblenz sagt: 'Doch das klingt durchaus glaubhaft'. Vielen Dank Herr Bosbach für das Gespräch. (PK)

Ein Interview durch:



Online-Flyer Nr. 332  vom 14.12.2011

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