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Arbeit und Soziales
Verfassungsbeschwerde mit allen Mitteln verzögern und behindern
Grund: das "Bildungspaket"
Von Peter Kleinert

Das Landessozialgericht NRW Essen und das Jobcenter Duisburg verzögerten monatelang den Weg einer Eilklage gegen das Bildungspaket zum Bundesverfassungsgericht. Die Klägerin ist ihrerseits bereit, notfalls bis zum Europäischen Gerichtshof zu kämpfen, damit nicht nur ihre Tochter sondern alle Kinder in Deutschland diskriminierungsfreie Chancengerechtig- keit erlangen können. Hartz4-Plattform-Sprecherin Brigitte Vallenthin: „Wer vorgestern glaubte, unsere Meldung über die Verfassungsbeschwerde zum Bildungspaket sei ein Aprilscherz, dem können wir versichern, dass uns das Thema, Chancengerechtigkeit für alle Kinder in Deutschland zu erreichen, viel zu ernst ist, um damit Scherze zu treiben.“
 

Bei Gericht nicht sonderlich
beliebt: Hartz4-Plattform-
Sprecherin Brigitte Vallenthin
NRhZ-Archiv
Seit sie im Juni 2011 den Bildungspaket-Antrag im Jobcenter gestellt hatte, kämpft eine alleinerziehende Mutter mit Unterstützung der Hartz4-Plattform um das Grundrecht auf ein „menschenwürdiges Existenzminimum“ für ihre Tochter sowie um Chancengerechtigkeit für alle Kinder in Deutschland. Auf ihrem Weg durch die Sozialgerichte ging es insbesondere darum, dass sie nicht mit der in den fünf Antragsformularen für das sogenannte Bildungspaket geforderten zahlreichen Freigaben ihrer Daten gegenüber beispiels- weise Behörden, Schulen oder Caterern fürs Mittagessen einverstanden ist. Seit August 2011 stritt sie bei den Gerichten vor allem um den Schutz vor Diskriminierung ihres Kindes. Sie wandte sich gegen die Verfassungswidrigkeit von Gesetz-gebung und Verwaltungspraxis, die gegen das vom Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 9.2.2010 verkündete „unverfügbare Grundrecht auf menschen-würdiges Existenzminimum“ verstoßen – in das die Karlsruher Richter ausdrücklich auch das Recht auf „Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben“ eingeschlossen hatten.
 
Gegen den negativen Beschluss der ersten Instanz beim Sozialgericht legte sie in zweiter Instanz im September 2011 Beschwerde beim Landessozialgericht ein. Seit einem mündlichen Termin im November 2011 beim Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen in Essen - das der Richter platzen ließ, weil er Hartz4-Plattform-Sprecherin Brigitte Vallenthin als Beistand für die Klägerin zurückwies, obwohl das Sozialgerichtsgesetz dies ausdrücklich zulässt - musste die Klägerin zunehmend den Eindruck gewinnen, als ginge es in dem Verfahren weniger darum, ihr zu ihrem eingeklagten Recht und Grundrecht zu verhelfen, als vielmehr darum, vom diskriminierenden Bildungspaket abzulenken, das Verfahren zu verzögern und sie zur Rücknahme der Klage zu bewegen.
 
Das Jobcenter Duisburg wird nicht müde, seit nunmehr bald neun Monaten wieder und wieder von der Klägerin die sogenannte "Mitwirkungspflicht“, sprich die Freigabe ihrer vom Sozialgesetzbuch ebenso wie vom Grundgesetz geschützten Sozialdaten einzufordern. Die Behörde tut dabei so, als könne sie nicht lesen, dass dies bereits im Antrag ausdrücklich abgelehnt wurde. Auch bei ihrer letzten "Einladung“ ins Amt musste die Klägerin wieder einmal zu Protokoll geben, was längst in den Akten der Rechtsabteilung des Jobcenters wie auch in den Sozialgerichtsakten nachzulesen gewesen wäre: „Die (...) angeforderten Dokumente können (...) nicht vorgelegt werden“ und die völlig ahnungslose Sachbearbeiterin zum zigsten Male „auf das anhängige Sozialgerichtsverfahren und den Schriftverkehr" in ihrer eigenen "Verwaltungsakte“ hinweisen. Die Sachbearbeiterin  hätte also sich und der Klägerin die Zeit für diesen Termin ersparen und Sinnvolleres tun können. Denn das Widerspruchsverfahren, das sie glaubte, jetzt noch einmal eröffnen zu können, war - nachdem fünf "Versagungs-, Entziehungs- und Ablehnungs-Bescheide“ vorausgegangen waren - längst von ihrer Behörde abgeschlossen worden.
 
Seit langer Zeit versucht auch das Rechtsamt der Stadt Duisburg im Sozialgerichtsstreit das lästige Thema Bildungspaket loszuwerden. Sieben Monate nach Einreichen der Bildungspaketklage beim Sozialgericht – behauptet es, zuletzt am 2. März, immer noch:„streitig“ sei „alleine die Regelleistungshöhe“. Und als seien die zentralen Klagegründe zum Daten- und Diskriminierungsschutz niemals in den Schriftsätzen aufgetaucht, gab sich der Vertreter der Stadt obendrein verwundert, als die Klägerin schließlich noch ein aktuelles Urteil des Bundessozialgerichts als Beweis zum Verfahren ergänzend vorlegte, das genau ihre Position der Schutzwürdigkeit von Sozialdaten stützt (B 14 AS 65/11 R, vorläufige Medieninformation Nr. 2/12 des BSG am 25.01.2012). Er erklärte reichlich willkürlich: Es „ist hier nicht nachvollziehbar, welche rechtliche Bedeutung der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 25.01.2012 im vorliegenden Verfahren zukommen soll.“
 
Noch merkwürdiger: Das Landessozialgericht in Essen übergeht mal einfach seinen eigenen "Beschluss“ im mündlichen Termin, den der Richter hatte platzen lassen, weil die Klägerin sich nicht mit dessen Aufforderung einverstanden erklärt hatte, ihrem vom Gesetz zugelassenen Beistand die Vollmacht und damit die Anwesenheit in der Verhandlung zu entziehen. In der„Niederschrift in dem Beschwerdeverfahren“ vom 29.11.2011 stand zwar ausdrücklich: „Sodann ergeht folgender Beschluss: 1. Die Erörterung wird vertagt. 2. Der Senat wird über die Zurückweisung der Bevollmächtigten Brigitte Vallenthin durch Beschluss entscheiden. 3. Neuer Termin von Amts wegen.“ Darauf hatte die Klägerin sich verlassen. Doch stattdessen wies der zweite Senat des Landessozialgerichts NRW in Essen - nach dem Motto: was schert uns unser Geschwätz von gestern - kurzerhand ohne weitere Begründung am 22. Dezember die Klage mit unanfechtbarem Beschluss ab, nachdem der Richter zuvor bereits im mündlichen Termin erklärt hatte, den entscheidenden und überwiegenden Teil der Klageinhalte nicht verhandeln zu wollen. Diese für die Klägerin nicht nachvollziehbare, gänzlich an ihrem Klagegegenstand vorbei gehende Ablehnungsbegründung schloss mit dem Verweis auf ein durch "Sprungrevision" zum Bundessozialgericht gelangtes Urteil des Sozialgerichts Oldenburg (S 48 AS 664/11), das - entgegen der richterlichen Beschluss-Ausführung - auch nicht andeutungsweise das Vorbringen der Klägerin zum Inhalt hat (B 14 AS 131/11 R).
 
Damit war bereits nach der zweiten Instanz der Weg fast frei, Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht einzulegen. Um hierfür jedoch die Voraussetzungen zur „Erschöpfung des Rechtsweges“ vollständig erfüllt zu haben, bedurfte es eines weiteren Rechtsmittels, der „Anhörungsrüge“ wegen Nichtgewährung rechtlichen Gehörs gemäß Artikel 103 Grundgesetz. Denn das Bundesverfassungsgericht kann eine Verfassungsbeschwerde erst dann annehmen, wenn vorher alle verfügbaren Rechtsmittel genutzt worden sind. Die Anhörungsrüge musste spätestens binnen Zwei-Wochen-Frist nach dem Beschluss des Landessozialgerichts dort eingehen. Diese Frist hat die Klägerin am 9. Januar auch korrekt eingehalten.
 
Seitdem erreichten sie juristische Merkwürdigkeiten aus dem Landessozialgericht, die von ihr nicht anders denn als Verzögerung und Behinderung empfunden werden konnten. Es ist anzunehmen, dass die Ablehnung der Anhörungsrüge bereits am 9. Januar fest stand und kurzfristig hätte entschieden werden können. Dennoch erhielt die Klägerin einen Ablehnungsbeschluss erst fast drei Monate später, am 30. März.
 
Weitere Merkwürdigkeiten:
•          Zunächst kam am 11. Januar die Eingangsbestätigung mit einem falschen Datum - 10. statt 9. Januar. Wenn dieses Datum tatsächlich korrekt gewesen wäre, hätte die Anhörungsrüge wegen verspäteten Eingangs vom Landessozialgericht abgelehnt werden können. Damit wäre der Weg zum Bundesverfassungsgericht an dieser Stelle abgeschnitten gewesen.
•          Mit erkennbarer Verärgerung gab das Gericht seinen Fehler nach zwei Wochen endlich zu und bestätigte den fristgerechten Eingang.
•          Gleichzeitig ermunterte es die Klägerin in diesem Schreiben am 23. Januar erstmals: „Ggfs. teilen Sie die Rücknahme Ihrer Anhörungsrüge mit“.
•          Diese "Ermunterung" verstärkte das Landessozialgericht schließlich noch einmal mit einem letzten Schreiben am 15. März, dessen Inhalt nur verblüffen kann: „Um Überprüfung Ihres Tuns wird gebeten“.
Zusätzlich wurde noch einmal der gesamte Klageinhalt willkürlich und demonstrativ in den Papierkorb geworfen: „Die Frage nach Leistung zur Bildung und Teilhabe war nicht Gegenstand des Verfahrens.“
Und das Gericht regte an zu prüfen, „ob Sie Ihrem tatsächlichen Begehren (...) durch die Durchführung des dazu gebotenen Hauptsacheverfahrens entsprechen wollen oder ob Sie die hiesige – insoweit nicht zielführende – Anhörungsrüge weiter verfolgen wollen.“
Schließlich wurde noch ein monetäres Lockmittel auf den Tisch gelegt: „Die Rücknahme der Anhörungsrüge verursacht keine gesonderten Kosten“.
Der Richter schloß mit der freundlichen Aufforderung: „Die Vorlage Ihrer Stellungnahme“ binnen zwei Wochen „fördert das Verfahren“. Dabei ließ er allerdings völlig offen, ob es sich dabei um das von der Klägerin begehrte oder das vom Gericht offensichtlich gewünschte Verfahren handelt.
 
Inzwischen hat die Klägerin die aktuell erschienene Studie von Bertelsmann Stiftung und Institut für Schulentwicklungsforschung "Chancenspiegel" dem Landessozialgericht als weiteren begründenden Beweis für ihre Anfechtung des sogenannten Bildungspakets vorgelegt. Diese weist nämlich einen fortdauernden Mangel an Chancengerechtigkeit in Deutschland nach. Beispielsweise offenbart sie den Ausschlussfaktor Armut für Bildungschancen bei gleicher Begabung u.a. für Nordrhein-Westfalen. Zitat: 
•          „Die Chance eines Kindes aus oberen Sozialschichten, das Gymnasium zu besuchen, ist 5,5 mal höher als die eines Kindes aus unteren Sozialschichten.“
 
Und die Studie betont die Grundlage ihrer Definition von Chancengerechtigkeit, die sich die Bundesregierung schleunigst zu eigen machen sollte, wenn sie sich nicht weiterhin jahrelanger internationaler Kritik an der Spaltung der deutschen Gesellschaft aussetzen will.
 
Die Studie der Bertelsmann Stiftung, die die schulischen Probleme übertragbar in den Fokus nimmt, „versteht" außerdem „unter Chancengerechtigkeit die faire Chance zur freien Teilhabe an der Gesellschaft, die auch gewährleistet wird durch eine gerechte Institution Schule, in der Schülerinnen und Schüler aufgrund ihrer sozialen und natürlichen Merkmale keine zusätzlichen Nachteile erfahren, durch eine Förderung der Befähigung aller und durch eine wechselseitige Anerkennung der an Schule beteiligten Personen.“
 
Diese Definition von Chancengerechtigkeit ist der aktuellste der nationalen, europäischen und internationalen Appelle an die Bundesregierung, ihre Maßgaben zu befolgen. Und sie zeigt die dringende, spätestens nach einem Jahr überfällige Notwendigkeit, das Bildungspaket auf den Prüfstand des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe zu stellen.
 
Die Klägerin hat deshalb zur Wahrung der Frist von einem Monat seit dem Landessozialgerichtsbeschluss vom 22. Dezember 2011 am 24. Januar ihre Verfassungsbeschwerde zum Allgemeinen Register des Bundesverfassungsgerichts eingereicht, die dort bis zum Zurückweisungsbeschluss der Anhörungsrüge durch das Landessozialgerichts ruhte. Nachdem dieser am 30. März eingegangen ist, wird sie nun kurzfristig Antrag auf Übertragung in das Verfahrensregister und damit endgültig auf Überprüfung des Bildungspakets durch die Richter des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe stellen. Und sie sollte und dürfte damit aller Wahrscheinlichkeit nach auch Erfolg haben. Die NRhZ wird jedenfalls über den Fall weiter berichten. (PK)


Online-Flyer Nr. 348  vom 04.04.2012

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