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Aktueller Online-Flyer vom 18. Dezember 2024  

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Globales
Hat ein Deutscher kein Recht, Israel zu kritisieren?
Günter der Schreckliche
Von Uri Avnery

Stoppt mich, wenn ich diesen Witz schon einmal erzählt habe: Irgendwo fand in den USA eine Demonstration statt. Die Polizei kam und schlug gnadenlos auf die Demonstranten ein. Schlag mich nicht!“ schrie einer, „Ich bin ein Anti-Kommunist!“ Das ist mir völlig egal, zu welcher Art von Kommunisten du gehörst“, antwortete ein Polizist und hob seinen Schlagstock.
 

Israels Innenminister Eli Yishai, der Grass zur
persona non grata erklärt hat
Quelle: www.vosizneias.com/
ALS ICH das erste Mal diesen Witz erzählte, war es vor einer deutschen Gruppe, die die Knesset besuchte und sich mit in Deutschland Geborenen traf, also auch mit mir. Sie strengten sich besonders an, Israel zu loben, sie lobten alles, was wir getan hatten, verurteilten die geringste Kritik, so harmlos sie auch gewesen sein mochte. Es wurde geradezu peinlich, da einige von uns in der Knesset sehr kritisch gegenüber der Regierungspolitik in den besetzten Gebieten standen.
 
Für mich ist diese extreme Art von Philosemitismus nur eine verborgene Art von Antisemitismus: beide haben im Wesentlichen einen Glauben gemeinsam: Juden – und deshalb auch Israel – sind etwas Besonderes, die nicht mit denselben Standards gemessen werden dürfen wie andere.
 
Was ist ein Antisemit? Jemand der einen Juden hasst, nur weil er Jude ist. Er hasst ihn nicht für das, was er als Mensch ist, sondern für seinen Ursprung. Ein Jude, mag er gut oder böse sein, freundlich oder widerwärtig, reich oder arm – allein dafür, dass er jüdisch ist, muss er gehasst werden. Das stimmt natürlich für jede Art von Vorurteilen, einschließlich Sexismus, Islamophobie, Chauvinismus und was es sonst noch gibt.
 
Die Deutschen pflegen ein bisschen gründlicher zu sein als andere. Der Terminus „Antisemitismus“ wurde von einem Deutschen (ein paar Jahre vor dem Terminus „Zionismus“ und „Feminismus“) erfunden, und Antisemitismus war die offizielle Ideologie der Deutschen während der Nazijahre. Jetzt ist die offizielle deutsche Ideologie Philosemitismus, der ins andere Extrem geht.
 
Ein anderes Naziwort war „Sonderbehandlung“. Es war ein Euphemismus für etwas Entsetzliches: das Töten von Gefangenen. Aber „Sonderbehandlung“ kann auch das Gegenteil bedeuten: indem man Leute und Länder besonders freundlich behandelt, nicht weil sie das und das tun, sondern weil sie – sagen wir mal – jüdisch sind.
 
Das mag ich nicht, selbst wenn ich auf der Empfängerseite stehe. Ich möchte gelobt werden, wenn ich etwas Gutes getan habe. Ich bin aber auch bereit, beschimpft zu werden, wenn ich etwas Schlechtes getan habe. Ich möchte nicht gelobt (oder beschimpft) werden, nur weil ich zufällig als Jude geboren wurde.
 
DAS BRINGT uns natürlich zu Günter Grass.
 
Ich traf ihn nur einmal, als wir beide zu einer Konferenz des Deutschen Penclubs in Berlin eingeladen waren. Während einer Pause trafen wir uns in einem guten Restaurant. Ich sagte ihm ganz ehrlich, dass ich seine Bücher sehr liebe, besonders den Anti-Nazi-Roman „Die Blechtrommel“ und dass ich seine spätere politische Aktivität sehr schätze. Das war alles. Ich traf ihn nicht während einem seiner vielen Besuche in Israel. Bei wenigstens einem befreundete er sich mit einer bekannten Schriftstellerin.
 
Jetzt hat Grass das Undenkbare gemacht: er hat offen den Staat Israel angegriffen – und er, ein Deutscher!!! Die Reaktion kam automatisch: Er wurde sofort als Antisemit gebrandmarkt, nicht als gewöhnlicher, sondern als verkappter Nazi, der leicht als Kumpan von Adolf Eichmann gedient haben könnte! Dies wurde durch die Tatsache erhärtet, dass er mit 17, nahe dem Ende des 2. Weltkrieges noch zur Waffen-SS rekrutiert wurde wie zig Tausende andere und dann – merkwürdig genug – es jahrelang verschwiegen hat. So ist es also.
 
Israelische und deutsche Politiker und Kommentatoren konkurrierten mit einander, den Schriftsteller zu verfluchen, wobei die Deutschen die Israelis leicht übertrumpfen. Obgleich unser Innenminister Eli Yishai hier die Meisterschaft errungen hat, indem er Grass zur persona non grata erklärt und ihm verboten hat, Israel (mindestens) für alle Ewigkeit nicht mehr zu betreten.
 
Yishai ist ein mittelmäßiger Politiker, der niemals eine Zeile geschrieben hat, die es wert war, sich zu merken. Er ist der Führer der orthodoxen Shas-Partei, der nie zu diesem Amt gewählt wurde, sondern als Handlanger des Parteidiktators Rabbi Ovadia Yossef fungiert. Der mächtige Staatskontrolleur hat ihm vor kurzem totale Inkompetenz im Zusammenhang mit dem riesigen Brand auf dem Carmel vorgeworfen, so dass seine Karriere in Gefahr war. Günter Grass kam also genau zur rechten Zeit, um Yishais Haut zu retten.
 
WAS HAT Grass tatsächlich gesagt? In einem 69 Zeilen langen Prosagedicht – tatsächlich Polemik in Gestalt eines Gedichts – mit dem Titel „Was gesagt werden muss“ greift Grass Israels Politik an, die sich mit der (noch nicht vorhandenen iranischen) Atombombe befasst.
 
Der heftige Gegenangriff zielte fast vollständig darauf ab, dass ein Deutscher kein Recht habe, Israel zu kritisieren – unter keinen Umständen. Ignorieren wir dieses Argument und schauen uns das Gedicht selbst an, nicht unbedingt als literarisches Meisterwerk.
 
Grass’ Grundthema ist, dass Israel schon ein „nukleares Potential“ hat, und es deshalb Heuchelei sei, den Iran anzuklagen, dass er vielleicht auch eine Bombe erlangen wolle. Insbesondere klagt er die deutsche Regierung an, Israel mit noch einem U-Boot zu versorgen.
 
Betrachten wir das rational: machen seine Argumente denn Sinn?
 
Grass nimmt an, dass Israel einen präventiven „Erstschlag“ gegen den Iran plant, bei dem das iranische Volk „ausgelöscht“ werden kann. Diese Möglichkeit macht nur Sinn, falls Grass annimmt, dass der israelische „Erstschlag“ ein Angriff mit Atombomben sei. Denn tatsächlich gehört der Terminus „Erstschlag“ allein ins Lexikon des Atomkrieges.
 
Es ist in diesem Kontext, dass er die deutsche Regierung verurteilt, Israel noch ein (das 6.) U-Boot zu geben, das die Fähigkeit hat, Atombomben abzufeuern. Solche Unterseeboote sind dafür bestimmt, einen „Zweitschlag“ durchzuführen, falls die Nation von einem „Erstschlag“ getroffen würde. Es ist eine Waffe der Abschreckung.
 
Er beklagt die Tatsache, dass keiner in Deutschland (und in der westlichen Welt überhaupt) Israels Besitz von nuklearen Waffen zu erwähnen wagt und dass es praktisch verboten ist, in diesem Kontext „jenes andere Land mit Namen zu nennen“.
 
Er behauptet dann, dass die „Atommacht“ Israel den „ohnehin brüchigen Weltfrieden gefährdet“. Um diese Gefahr abzuwenden, schlägt er vor, das „israelische atomare Potential und Irans Atomanlagen“ unter unbehinderte und permanente internationale Kontrolle zu stellen – mit dem Einverständnis beider Regierungen.
 
Am Ende erwähnt er auch die Palästinenser. Nur auf diese Weise könne den Israelis und Palästinensern und allen andern Bewohnern, der „vom Wahn okkupierten Region“, geholfen werden.
 
NUN, ICH fiel nicht vom Stuhl, als ich dies las. Das Gedicht kann und muss kritisiert werden, aber es gibt nichts, das ernste Verurteilung verlangt. Wie ich schon vorher sagte, ich denke nicht, dass sich die Deutschen der Kritik Israels enthalten sollten. Es gibt da nichts, das den Staat Israel de-legitimiert, im Gegenteil: er erklärt seine Solidarität mit Israel. Er erwähnt ausdrücklich den Holocaust als ein ureigenes Verbrechen, das ohne Vergleich ist. Er benennt auch die Iraner als „ein Volk, das von einem Großmaul unterdrückt wird.“ Aber Grass sagte, er vermutet, dass Israel bei einem „Präventivschlag das iranische Volk auslöschen könnte“; das ist weit übertrieben.
 
Ich habe schon mehrfach erwähnt, dass das israelische und amerikanische Geschwätz über einen israelischen Angriff bestenfalls Teil eines von den US geführten psychologischen Krieges sei, um die iranischen Führer zum Aufgeben ihrer (vermuteten) Nuklearambitionen zu bringen. Es ist für Israel total unmöglich, den Iran ohne ausdrückliches, vorheriges amerikanisches Einverständnis anzugreifen, und es ist für Amerika total unmöglich, anzugreifen, oder Israel zu erlauben, den Iran anzugreifen wegen der katastrophalen Konsequenzen: ein Kollaps der Weltwirtschaft und ein langer und teurer Krieg.
 
Nehmen wir um der Argumente willen an, dass die israelische Regierung tatsächlich entscheidet, Irans nukleare Installationen anzugreifen: dies würde nicht das iranische Volk oder einen Teil davon „auslöschen“. Nur Wahnsinnige würden nukleare Bomben für diesen Zweck benützen. Die israelischen Führer sind – was immer man von ihnen denken mag – nicht wahnsinnig.
 
Selbst wenn Israel taktische nukleare Bomben mit begrenzter Kraft und begrenztem Radius hätte oder von den USA erhalten würde, wäre die Reaktion der Welt auf ihre Anwendung katastrophal.
 
Übrigens ist es nicht ihre eigene Wahl, dass die israelischen Regierungen eine Politik nuklearer Nicht-Transparenz haben. Wenn sie könnten, würden unsere Führer über unsere nukleare Macht von den Dächern posaunen. Es sind die USA, die auf Unklarheit bestanden, um nicht gezwungen zu sein, etwas zu tun. Grass’ Behauptung, dass Israel den „Weltfrieden“ gefährde, ist deshalb auch etwas übertrieben.
 
Was Grass’ praktischen Vorschlag betrifft, beide, die israelischen und iranischen Nuklearinstallationen unter internationale Kontrolle zu setzen – das verdient, meiner Meinung nach, ernsthafte Überlegung. Wenn unsere beiden Länder den nuklearen Status Quo einfrieren würden, wäre das gar keine schlechte Idee. Doch am Ende bräuchten wir eine nuklearfreie Region als Teil eines allgemeinen regionalen Friedens, der Israel, Palästina, die arabischen Länder, die Türkei und den Iran einschließt.
 
Was Günter Grass persönlich betrifft, würde ich froh sein, ihn wieder zu treffen, dieses Mal zu einem guten Essen in Tel Aviv. (PK)
 
Deutsche Übersetzung Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert.


Online-Flyer Nr. 350  vom 18.04.2012

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