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Aktueller Online-Flyer vom 13. April 2025  

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Kommentar
Wie wollen wir in Zukunft leben?
Wieder lernen, für unsere Rechte zu kämpfen!
Von Franz Kersjes

Die Lebens- und Arbeitsbedingungen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten für viele Menschen in Deutschland spürbar verschlechtert. Immer weniger Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden auf unbefristeten und sozialversicherungspflichtigen Vollzeitstellen beschäftigt. Die Zahl derjenigen, die nur befristet und im Niedriglohnbereich arbeiten, ist stetig angestiegen. Lebensläufe und Berufskarrieren haben an Kontinuität und Stabilität
verloren. Das individuelle Arbeitsmarktrisiko ist erheblich gestiegen. Armutslöhne im Niedriglohnbereich und Rekordvergütungen für Manager – die Diskrepanz wächst von Jahr zu Jahr. Der Unterschied zwischen Reich und Arm in Deutschland ist noch größer geworden.
 
In den vergangenen Jahrzehnten waren Globalisierung, Expansion und Wirtschaftswachstum um jeden Preis angesagt. Die neoliberale Idee des grenzenlosen Marktes und die alles beherrschende Gier nach Profit hat zu asozialen Verhältnissen geführt. Die Ausbeutung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern wächst ständig und ist unerträglich. Der erpresserische Druck auf die Beschäftigten in den Betrieben, auf ihre Rechte zu verzichten,
ist fast zum Regelfall geworden und hat weitgehend unvorstellbare Ausmaße angenommen. Die Angst der Erwerbstätigen vor dem Verlust des Arbeitsplatzes lähmt bei ihnen oft jede Form von Widerspruch oder gar Widerstand.
 
Regierungen und Politiker schützen und fördern den Reichtum der Vermögensbesitzer. Insbesondere durch die Steuerpolitik. Abhängig Beschäftigte und Arbeitslose sollen durch Verzichte zur Erhaltung und Steigerung der privaten Vermögen beitragen. Die Schulden des Staates sollen durch geringere Einkommen und Kürzung von Sozialleistungen bezahlt werden.
 
Bedrohliche Stille im Land
 
Bei dieser Entwicklung frage ich mich immer wieder: Wo sind unser Protest, unser Widerstand, unsere Aktionen und Kampagnen gegen die ungleiche Verteilung von Vermögen und gegen die wachsenden sozialen Ungerechtigkeiten? Wo ist unsere tägliche Empörung? Wie kommt es, dass die Menschen nicht rebellieren gegen eine Werbung, die sie manipuliert, gegen Unternehmer, die sie ausbeuten, gegen die Arbeitslosigkeit, unter der sie leiden oder die ihnen droht, gegen die Medien, die die Realitäten verfälschen? Warum führt soviel privates Leid nicht öfter zu kollektiven Protesten? Vor allem doch auch deshalb, weil wir zur Passivität erzogen und dadurch auf allen Ebenen unablässig entwaffnet werden. Vom Kleinkind biszum Rentner sorgen tief verinnerlichte Anpassungsmuster und die Kapitulation angesichts des Status quo für den Fortbestand des Systems.
 
„Es ist hochproblematisch, wenn eine erhebliche Anzahl der Menschen die Kernnormen, die eine Gesellschaft zusammenhalten - Gerechtigkeit, Fairness, Solidarität – inzwischen für nicht mehr realisierbar hält“, meint Wilhelm Heitmeyer, Konfliktforscher an der Universität Bielefeld. Er hat eine fortschreitende Demokratie-Entleerung festgestellt. „Die Substanz der Demokratie wird ausgezehrt. Ein oberflächlicher Indikator dafür ist die geringe Wahlbeteiligung. Dahinter liegt ein Verlust an Vertrauen in die demokratischen Institutionen und ist Ausdruck des Gefühls, von der Politik nicht wahrgenommen zu werden. Das ist ein schleichender Prozess, über den kaum geredet wird“.
 
Mit dem herrschenden Kapitalismus sind erhebliche Defizite an sozialen Bindungen in unserer Gesellschaft entstanden. Jeder Einzelne ist von Mauern umgeben, Mauern aus Vorurteilen und Unwissenheit. Die dominante Ideologie des Konsums beherrscht unsere Gesellschaft. Und da dem Menschen beigebracht wurde, dass die Welt zu konsumieren - und nicht etwa zu verändern - ist, werden die großen Bilder und Spektakel, die er angeboten bekommt, wie Produkte ausgewählt, verpackt und zugeordnet. Es ist erschreckend, wie gekonnt die Herrschenden unsere Träume mit zahllosen Helden bevölkern, die als trojanische Pferde der neuen Herrschaft in unsere Hirne eindringen. Als Herr der Symbole präsentiert sich das Kapital heute in der verführerischen Aufmachung, die sich Demagogen schon immer zugelegt haben. Mit dem Angebot endlosen Freizeitvergnügens, ständiger Ablenkungen und optischer Verlockungen pflanzen die Hypnotiseure ihre eigenen Gedanken in unsere Köpfe ein. Sie suchen uns nicht mit Gewalt zu unterwerfen, sondern mit beschwörendem Zauber, nicht mit Befehlen, sondern Mittels unserer freiwilligen Zustimmung. Sie drohen nicht mit Strafen, sondern setzen stattdessen auf unsere Vergnügungssucht.
 
Was tun?
 
Was sind die Ursachen für die eingetretene menschenverachtende Entwicklung? Wie können wir sie bekämpfen? Wie wollen wir in Zukunft leben und arbeiten? Zunächst einmal müssen wir uns verabschieden von unseren eingefahrenen Routinen und unser übliches Verhalten in Frage stellen. Vor allem müssen wir kritischer miteinander reden, in der Familie, im Betrieb, in der Gewerkschaft und bei vielen anderen Gelegenheiten. Diesen Prozess müssen vor allem die Gewerkschaften anstoßen, Gelegenheiten organisieren, um Diskussionen zu ermöglichen und Alternativen zur bestehenden gesellschaftlichen Situation zu entwickeln. Selbstverständlich ohne Tagesordnung und inhaltliche Vorgaben. Wir müssen wieder lernen, für unsere Rechte zu kämpfen: für Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und Menschenwürde. Die Gewerkschaften müssen wieder zum Motor gesellschaftlicher Veränderungen werden.
 
Die Ökonomisierung aller Lebensbereiche bis hin zur Familie wird wesentlich von den so genannten Eliten in unserer Gesellschaft durch die Unterstützung eines autoritären Kapitalismus vorangetrieben. Konzerne bestimmen unsere Bedürfnisse. Und unsere Bedürfnisse entscheiden darüber, wie wir leben. Wenn wir das ändern wollen, müssen wir uns gegen unsere Gewohnheiten und gegen Fremdbestimmung zur Wehr setzen. Wir müssen nachdrücklich Fragen stellen und miteinander offen und ehrlich reden, unsere Beteiligung an ökonomischen und sozialen Entscheidungen einfordern.
 
Es gibt Wege aus der Abhängigkeit von fremdbestimmten Gewohnheiten. Wir müssen vor allem immer wieder überlegen, wie wir der Ökonomisierung des Sozialen entgegentreten können. Da helfen keine Parteiprogramme oder Absichtserklärungen von Politikern.
 
Wir müssen die Herrschaft von Menschen über Menschen überwinden. Vor allem die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen sich öffnen für einen Prozess der Aufklärung und Selbstbestimmung bis hin zum aktiven Widerstand. Es kommt darauf an, zwischen Schein und Wirklichkeit zu unterscheiden.
 
Was ist uns wichtig? Was wollen wir gemeinsam erreichen? Wenn wir uns einig sind, haben wir unendlich viel Macht. Wenn wir so weitermachen wie bisher, werden unsere Gedanken weiterhin unsere Feinde sein. (PK)
Franz Kersjes ist Herausgeber der Welt der Arbeit im Internet und war von 1980 bis 2001 Landesvorsitzender der IG Druck und Papier und der IG Medien in NRW. – Mehr von ihm finden Sie unter www.weltderarbeit.de
 


Online-Flyer Nr. 359  vom 20.06.2012

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