NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung - Logo
SUCHE
Suchergebnis anzeigen!
RESSORTS
SERVICE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Aktueller Online-Flyer vom 28. März 2024  

zurück  
Druckversion

Arbeit und Soziales
Für ein umfassendes Streikrecht - auch für politische Streiks
Wiesbadener Appell
Von Veit Wilhelmy

Die Bundesrepublik Deutschland habe "weltweit das rückständigste und restriktivste  Streikrecht", heißt es im "Wiesbadener Appell" von Erwerbslosenverbänden, der von einem breiten Personenbündnis aus Politik, Kultur, Wissenschaft und Gewerkschaften unterstützt wird. "Diktaturen  und totalitäre Staatsformen sind bei dieser Betrachtung nicht einbezogen." Wenn Sie den hier folgenden Text, den bereits über 5200 Menschen unterzeichnet haben, und die 79 ErstunterzeichnerInnen kennen lernen wollen, können Sie das unter http://www.politischer-streik.de/. – Die Redaktion
 

Einer der Erstunterzeichner
- Oskar Lafontaine
Alle Fotos: NRhZ-Archiv
Die Bundesrepublik Deutschland hat weltweit das rückständigste und restriktivste Streikrecht. Das Streikrecht in Deutschland ist lediglich Richterrecht. Im Grundgesetz (GG) findet sich außer der Koalitionsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 3 kein konkreter Hinweis. Daraus ist keinesfalls abzuleiten, dass dieses Recht nicht vorhanden ist oder irgendeiner Einschränkung unterliegt. In sieben Bundesländern ist das Streikrecht in den Landesverfassungen verankert.
 
In den allermeisten Staaten ist das Recht auf Streik durch die Verfassungen und/oder durch Gesetze garantiert und geregelt. In einigen Ländern haben Gewerkschaften dieses Recht durch Tarifverträge zusätzlich abgesichert und zum Teil noch über den Verfassungs- und/oder Gesetzesstatus hinaus verbessert.
 

Prof. Dr. Christoph Butterwegge,
Sozialwissenschaftler, Köln
Im Jahr 2010 war in der Bundesrepublik Deutschland lediglich nur in einem einzigen Tarifvertrag eine Regelung enthalten, die das Streikrecht ausgeweitet hat. In allen weiteren registrierten 73.958 Tarifverträgen finden sich keine Regelungen zum Streikrecht.
 
Neben der Schweiz und Japan ist Deutschland bei Arbeitskämpfen, die auf den Abschluss von tariflichen Regelungen abzielen, der streikärmste Staat. Auch bei sonstigen Streikformen und deren Häufigkeit gehört Deutschland zu den Schlusslichtern.
 
Von den 27 Staaten der Europäischen Union ist der politische Streik nur in England, Österreich und Deutschland illegalisiert. Ein Verbot ist indes nirgendwo festgeschrieben. Auch mit den Illegalisierungen von Beamtenstreiks, wilden Streiks, Blockaden, Boykotts, dem Streikverbot durch die christlichen Kirchen, der Einengung von Streikmöglichkeiten nur auf tarifvertraglich regelbare Ziele und den Einschränkungen bei Sympathiestreiks, sind Defizite in unserer politischen und wirtschaftlichen Demokratie verankert.
 

Daniela Dahn, Schriftstellerin, Berlin
Diese Illegalisierungen, Einengungen, Einschränkungen und Verbote stehen im krassen Widerspruch zu dem Art. 23 der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen, den Übereinkommen 87 und 98 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), dem Artikel 6 Abs. 4 der Europäischen (Menschenrechts- und) Sozialcharta.
 
Insbesondere das Verbot aller Streiks, die nicht auf den Abschluss von Tarifverträgen gerichtet sind, bildet eine schwere Verletzung dieser Bestimmungen. Diese Verbote bedrohen unsere Demokratie, da sie als schwere Menschenrechtsverletzung zu qualifizieren sind.
 
Die Europäische Sozialcharta (ESC) beispielsweise, wurde 1965 für die Bundesrepublik Deutschland verbindlich und stellt einen völkerrechtlichen Vertrag dar, der unter anderem die Gewährung von Arbeitskampffreiheit thematisiert. Nach Art. 6 Ziff. 4 ESC ist es „das Recht der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts im Falle von Interessenkonflikten“. Die ESC ist eine von Deutschland eingegangene Verpflichtung, an die die Gerichte ebenso gebunden sind wie der Gesetzgeber, der die in der ESC eingegangenen Verpflichtungen in innerstaatliches Recht umzusetzen hat.
 

Hannes Wader, Liedermacher
Die Arbeitgeberverbände, einzelne Arbeitgeber und wesentliche Teile der Politik versuchen mit unterschiedlichen Maßnahmen die wenigen Streikrechte immer weiter einzuschränken und zurück zu drängen. Große Teile der Massenmedien berichten meist tendenziell gegen Streikmaßnahmen.
 
Die Gewerkschaften in der Bundes-republik Deutschland haben seit den 50er Jahren zu geringe Anstrengungen unternommen, das Streikrecht oder weitere Kampfformen auszuweiten oder zu verbessern. Meistens wurden die wenigen bestehenden Rechte eher verteidigt.
 
Die Organisationsdichte und somit die Durchsetzungskraft der Gewerkschaften ist von 1950 bis 2000 in den Ländern Finnland (+ 47%), Dänemark (+29,7%), Schweden (+13,9%), Italien (+ 8,8%), Belgien (+ 7,0%), Spanien (+4,0%) und Norwegen (+3,3%) gestiegen. Der politische Streik beispielsweise, ist dort ausdrücklich erlaubt oder wird zumindest geduldet bzw. toleriert.

Mag Wompel, Journalistin und Industriesoziologin, Bochum
 
Im gleichen Zeitraum ist u. a. durch den weitgreifenden und freiwilligen Selbstverzicht von Gewerkschaftsvorständen auf das Führen von politisch motivierten Arbeitskämpfen in Deutschland (-11,4%), England (-14,5%) und Österreich (-31,7%) die Organisationsdichte erheblich zurückgegangen.
 
Durch basisgestützte Selbstorganisation innerhalb und mit den Gewerkschaften können die (noch) bremsenden Strukturen überwunden werden. Die Untergliederungen müssen Satzungsanträge an Gewerkschaftskongresse stellen und diese durchsetzen mit dem Ziel ein umfassendes Streikrecht inklusive politischem Streikrecht festzuschreiben. Den ehrenamtlichen Untergliederungen der Industriegewerkschaft Bauen Agrar Umwelt ist dies 2009 auf dem Gewerkschaftstag gelungen. Mit großer Mehrheit haben die Delegierten einen Satzungsantrag zu einem umfassenden Streikrecht inklusive dem politischen Streikrecht beschlossen.
 
(Gewerkschafts-) politische Bildungsveranstaltungen wie z.B. Workshops, Seminare, Vortrags-, Podiums- und Diskussionsveranstaltungen für Funktionäre, Mitglieder und interessierte Bürger auf allen Ebenen der Gewerkschaften zum Thema sind notwendig, und tragen auch zur Politisierung bei.
 
Eine gesellschaftspolitische Debatte ist zu entfachen durch selbstbewusste Medienarbeit. Hierfür spielen die Gewerkschaften mit ihren zahlreichen Untergliederungen eine zentrale Rolle. Aber auch fortschrittliche Parteien, Verbände, Vereine, Stiftungen und Einzelpersonen werden dabei unterstützend tätig werden können.
 
Die Gewerkschaften müssen selbstbewusste Forderungen an die Politik stellen, um ein umfassendes Streikrecht gesetzlich und/oder verfassungsrechtlich gemäß dem Art. 23 der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen, den Übereinkommen 87 und 98 der Internationalen Arbeitsorganisation und dem Artikel 6 Abs. 4 der Europäischen Sozialcharta zu verankern.
 
Auch werden zukünftig Forderungen bei allen Tarifrunden nach Festschreibung, Sicherung und schrittweisen Verbesserungen von umfassenden Streikrechten in allen Tarifverträgen mittelfristig zum Durchbruch führen. Dabei kann die etappenweise Durchsetzung von Fortschritten durch wiederkehrende kontrollierte Regelungsüberschreitungen gegenüber der (noch) herrschenden Rechtsprechung sehr hilfreich sein.
 
Die Tarifpolitik allein kann eine verfehlte und neoliberale Politik nicht ausgleichen. Dadurch haben es die Gewerkschaften immer schwerer, den politisch verursachten Verschlechterungen, die auf die Arbeitnehmer, die Erwerbslosen und weitere große Teile der Bevölkerung Auswirkung haben, zu entgegnen.
 
Die Schärfung und die Ausweitung von umfassenden (Arbeits-) Kampfmitteln der (organisierten) Arbeitnehmer führt Stück für Stück zu größeren Erfolgen der Gewerkschaften vor allem auch im politischen Raum. Die Mitgliedergewinnung und die Haltearbeit der Gewerkschaften könnte nachhaltig verbessert werden.
 
(Streik-) Recht ist immer Ausdruck von wirtschaftlicher und politischer Macht. Streikrechte sind elementare und soziale Menschenrechte, die erkämpft werden müssen. (PK)
 
Lesen Sie hierzu auch den NRhZ-Artikel "Zeit für politischen Streik" von Franz Kersjes:
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=13113
 
 
Veit Wilhelmy ist Schornsteinfegermeister und Gewerkschaftssekretär in Wiesbaden


Online-Flyer Nr. 362  vom 11.07.2012

Druckversion     



Startseite           nach oben

KÖLNER KLAGEMAUER


Für Frieden und Völkerverständigung
FOTOGALERIE