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Literatur
Ein gesellschaftspolitischer Roman von Wolfgang Bittner
Rechtsextremismus, Korruption etc.
Von Marc Weidemann

In Wolfgang Bittners neuem Gesellschaftsroman "Hellers allmähliche Heimkehr“ kommt ein Journalist nach fünfundzwanzig Jahren zurück in eine Kleinstadt in Norddeutschland, in der er aufgewachsen ist, und übernimmt die Stelle des Chefredakteurs der Lokalzeitung. Die Stadt heißt Salfelden – offensichtlich ein Fantasieort, ebenso wie es das Salfeldener Tagblatt in Wirklichkeit nicht gibt. Aber es könnte diese Stadt und diese Zeitung geben, und zwar überall in Deutschland.
 
Martin Heller, ein gestandener Mann Ende Vierzig, ist geschieden, seine beiden erwachsenen Kinder ignorieren ihn, er verlor seinen Posten als Chefredakteur einer großen rheinischen Tageszeitung und er war eine Zeitlang arbeitslos. Er ist sehr weit abgestiegen. Nun hat er die neue Stelle durch Vermittlung seines alten Schulfreundes René Thalheim erhalten, der am Ort zu den Honoratioren gehört und mit dem Zeitungsverleger Heribert Worps befreundet ist. Es scheint wieder aufwärts zu gehen. Heller gewöhnt sich ein, alte Freundschaften leben wieder auf, er schließt neue Freundschaften und will bleiben, ganz von vorn anfangen. Trotz der sich abzeichnenden Widerstände sagt er: „Ich habe keine Lust, wohlabgewogene Bewerbungen zu schreiben oder herumzuscharwenzeln, um mich dann irgendwo zu prostituieren und weiter an diesem Rattenrennen teilzunehmen.“
 
Aber wie nicht anders zu erwarten ist, kommt es zwischen Worps, einem erzkonservativen Patriarchen, und seinem neuen Chefredakteur schon bald immer häufiger zu Kontroversen. Das liegt zum einen daran, dass Worps in den kleinstädtischen Filz eingebunden ist, zum anderen an der Berichterstattung über eine rechtsextreme Kameradschaft, die als "Standarte Salfelden" zunehmend Bürger terrorisiert und Anschläge verübt.
 
Unter anderem sind ein griechischer Gastwirt betroffen und die Psychologin Agnes Sommer, der die Wände mit Nazi-Parolen beschmiert und die Fensterscheiben eingeschlagen werden. Heller verliebt sich in sie, und diese sich entwickelnde Beziehung hilft ihm, als er immer mehr angefeindet wird, ebenso wie die Freundschaft zu René Thalheim und mehreren ehemaligen Schulkameraden.
 

Wolfgang Bittner
Foto: privat
Heller fragt nach den Ursachen des Rechtsextremismus. „Ich verstehe die Beweggründe dieser Leute nicht“, sagt er in einem Gespräch mit seiner Freundin Agnes. „Das sind doch recht einfältige Ansichten, die da vertreten werden. Was begeistert sie an der Nazi-Ideologie?“ Dass in der folgenden Unterhaltung auf Theorien der Psychoanalytiker C. G. Jung und Erich Fromm zurückgegriffen wird, wirkt keineswegs aufgesetzt, vielmehr informativ und erhellend.
 
Besonders spannend ist eine Szene, in der Heller einen Bauernhof beobachtet, in dem die Neonazis Wehrsportübungen abhalten. „Sie fühlten sich in ihrer Gemeinschaft aufgehoben“, stellt er fest, „ihre Ideologie gab ihnen den inneren Halt. Die geistige Armut derjenigen, dachte er, die einen Götzen, und sei es in Form einer Ideologie oder eines Vertreters einer Ideologie verehren, und sich dadurch immer weiter von sich selbst entfernen.“ Auch Analyse: „Ihre ‚Vernunft‘ war nichts anderes als die Summe ihrer Voreingenommenheiten und Kurzsichtigkeiten. Das war ihr Schutzmantel, der sie aus ihrer Vereinzelung und Verlorenheit befreite, den sie nun mit Zähnen und Klauen verteidigen wollten.“
 
Die Neonazis werden nicht nur gefürchtet, sondern von gar nicht Wenigen akzeptiert und sogar unterstützt, vor allem von einem Oberstudienrat des Gymnasiums, der eine "Jungenschaft Zugvogel“ betreut, und einem wohlhabenden Bauunternehmer, der ganz selbstverständlich im Bauausschuss der Stadt sitzt und dort seine egoistischen Interessen vertritt. „So ist die Provinz“, sagt die Frau eines Gastwirts, „langweilig, aber voller Überraschungen.“
 
Das spiegelt eindrucksvoll die Stimmung in der Kleinstadt wieder. Man hat mit sich zu tun, die meisten Bürger sind politisch uninteressiert, nicht wenige sind arbeitslos. Aber eine junge Journalistin sagt: „Hinter den Jägerzäunen und Thujenhecken spielt sich mehr ab, als man glauben mag.“
 
In der Folgezeit stellt sich immer mehr eine Kumpanei von Polizei und Verfassungsschutz mit den Neonazis heraus, und allmählich beginnt die gutbürgerliche Fassade, hinter der sich die Beteiligten verstecken, zu bröckeln. In einem seiner Kommentare, die ihm naturgemäß viel Ärger einbringen, stellt Heller schließlich die Frage, was noch geschehen müsse, damit ernsthaft gegen die Neonazis ermittelt wird. Doch erst als es wenig später zu einem Brandanschlag kommt, hat die Idylle, an die einige Bürger immer noch glauben, ein abruptes Ende, wie auch die Kumpanei einzelner sich als staatstragend empfindender Sympathisanten. Es wird aufgeräumt und jemand sagt: „Wir hätten nie gedacht, dass so etwas möglich ist, noch dazu unter den Augen unserer Verfassungsschützer.“
 
Hier finden wir die Parallele zur sogenannten "Zwickauer Zelle" oder dem "NSU" (Nationalsozialistischer Untergrund) und seinen Unterstützern. Schlagartig wird deutlich, warum Polizei und Verfassungsschützer im rechtsextremen Umfeld derart zögerlich und vertuschend ermitteln, obwohl neben anderen Kapitalverbrechen zehn Morde begangen wurden.
 
Aber es geht in diesem Roman nicht nur um Rechtsextremismus und Kleinstadtfilz oder um die Rolle der Medien, sondern ebenso um die Bewältigung einer schwierigen Lebenssituation. Wenn man so will, hat Wolfgang Bittner ein modernes (politisches) Märchen geschrieben. Wie auch in seinen anderen Romanen, trägt er Fakten zusammen, er analysiert, entfaltet einen gesellschaftlichen Hintergrund, lässt sein Personal agieren und er veranschaulicht die politischen, psychologischen und sozialen Zusammenhänge. Das alles schnörkellos in verständlicher und gerade deshalb kunstvoller Sprache und weder bierernst noch belehrend. Die Geschichte des Journalisten Martin Heller fesselt, sie macht traurig, wütend, neugierig – und sie macht Mut. Passend dazu das Motto von Nietzsche aus dem Rigveda: „Es giebt so viele Morgenröthen, die noch nicht geleuchtet haben.“ (PK)
 
Wolfgang Bittner, "Hellers allmähliche Heimkehr", VAT Verlag André Thiele, Mainz 2012, 241 Seiten, gebunden, 19,90 Euro.
 
Wolfgang Bittner, geb. 1941 in Gleiwitz, lebt als Schriftsteller in Göttingen. Der promovierte Jurist ist freier Mitarbeiter bei Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk und Fernsehen. Bis 1974 ging er verschiedenen Berufstätigkeiten nach, u.a. als Fürsorgeangestellter, Verwaltungsbeamter und Rechtsanwalt. Ausgedehnte Reisen führten ihn nach Vorderasien, Mexiko, Kanada und Neuseeland, Gastprofessuren 2004/05 und 2006 nach Polen. Er erhielt mehrere Preise und Auszeichnungen (2010 den Kölner Karls-Preis der NRhZ), ist Mitglied im PEN und hat über 60 Bücher für Erwachsene, Jugendliche und Kinder veröffentlicht, unter anderem 16 Romane, den Erzählband "Das andere Leben" und das Sachbuch "Beruf: Schriftsteller". Im vergangenen Jahr erschien bei VAT sein Roman "Schattenriss oder Die Kur in Bad Schönenborn". – Weitere Informationen unter www.wolfgangbittner.de.


Online-Flyer Nr. 362  vom 11.07.2012

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