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Arbeit und Soziales
Antwort auf die Kritik am „Kritischen Aktionsbündnis 20 Jahre Tafeln"
"Polemik von Frau Vallenthin"
Von Stefan Selke und Luise Molling
Am 18. Juli haben wir in der NRhZ-Ausgabe 363 einen Artikel mit den Überschriften "Arbeitslose nicht als Begleitmusik für 20 Jahre Tafeln-Jubelfeiern missbrauchen!" – "Hartz4-Plattform stellt kritische Fragen" veröffentlicht. Autorin dieser Kritik am „Kritischen Aktionsbündnis 20 Jahre Tafeln“ ist Brigitte Vallenthin, Sprecherin der Hartz4-Plattform, der anschließend für das „Kritische Aktionsbündnis" Stefan Selke und Luise Molling geantwortet haben. Wir veröffentlichen diese Antwort hier, so weit sie Brigitte Vallenthin selbst anspricht, und verlinken am Ende auf die komplette Fassung. – Die Redaktion
Online-Flyer Nr. 364 vom 28.07.2012
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Arbeit und Soziales
Antwort auf die Kritik am „Kritischen Aktionsbündnis 20 Jahre Tafeln"
"Polemik von Frau Vallenthin"
Von Stefan Selke und Luise Molling
Am 18. Juli haben wir in der NRhZ-Ausgabe 363 einen Artikel mit den Überschriften "Arbeitslose nicht als Begleitmusik für 20 Jahre Tafeln-Jubelfeiern missbrauchen!" – "Hartz4-Plattform stellt kritische Fragen" veröffentlicht. Autorin dieser Kritik am „Kritischen Aktionsbündnis 20 Jahre Tafeln“ ist Brigitte Vallenthin, Sprecherin der Hartz4-Plattform, der anschließend für das „Kritische Aktionsbündnis" Stefan Selke und Luise Molling geantwortet haben. Wir veröffentlichen diese Antwort hier, so weit sie Brigitte Vallenthin selbst anspricht, und verlinken am Ende auf die komplette Fassung. – Die Redaktion
Auf Einladung des Aktionsbündnisses sowie auf persönliche Einladung von Stefan Selke kam Brigitte Vallenthin (Sprecherin der Hartz IV-Plattform) am 29. Juni 2012 zum ersten Treffen des Aktionsbündnisses nach Berlin. Nach der Veranstaltung wandte sich Frau Vallenthin direkt (d.h. ohne das Gespräch zu suchen) mit zwei Pressemeldungen kritisch gegen das Aktionsbündnis. Die Kommentare von Frau Vallenthin über das „Kritische Aktionsbündnis 20 Jahre Tafeln“ sind übergreifend sachlich falsch. Sie sind zudem polemisch, ideologisierend und basieren auf handwerklich schlecht recherchierten Informationen. Insgesamt sind beide Darstellungen eine äußerst bedenklich und für den gesellschaftlichen Diskurs destruktive Vermischung aus selektiver und emotionalisierter Wahrnehmung sowie suggestiv wirkender Montage von schlecht verdauten Informationshäppchen. Diese zusammenfassende Kritik an der Polemik von Frau Vallenthin wird im Folgenden differenziert erläutert.
a) Ideologisierte Feindbilder statt konstruktive Dialoge
Die Mehrheit der TeilnehmerInnen setzte sich keinesfalls aus dem von Frau Vallenthin sichtlich verhassten Kreis der Kirchen und Wohlfahrtsverbände zusammen. Schlichtweg kein einziger Teilnehmer repräsentierte offiziell einen Verband. Anwesend waren vielmehr (neben zahlreichen Aktivisten aus der Erwerbslosen- und Hartz-IV-kritischen Szene) ausgewiesene kritische Einzelpersonen z.B. von Caritas und Diakonie, die sich in den letzten Jahren als Autoren kritischer Positionspapiere oder Auftraggeber kritischer Begleitstudien hervorgetan haben. Es ist gerade diesen Personen zu verdanken, dass innerhalb der Verbände (die auch Träger von Tafeln sind) die Sprachlosigkeit ein Ende hat und Denkblockaden aufgehoben wurden. Nur damit kann eine Basis dafür geschaffen werden, gemeinsam der unproduktiven Ambivalenz zwischen Barmherzigkeit (Almosen) und Sozialstaat (Bürgerrechten) zu entkommen.
Die Verwechslung des Einzelengagements kritischer DenkerInnen in den genannten Organisationen mit der (sicher träger reagierenden und ambivalenten) institutionellen Verbandsebene zeigt die Ungenauigkeit in der Wahrnehmung, Recherche und Darstellung von Frau Vallenthin. Auf dieser Basis ist eine konstruktive Zusammenarbeit nicht möglich – und von Frau Vallenthin sichtlich auch gar nicht angestrebt.
b) Die unzureichend verstandene Strategie des Aktionsbündnisses
Frau Vallenthin unterscheidet nicht ausreichend zwischen Form und Inhalt. Sie lässt nicht erkennen, die Strategie des Aktionsbündnisses – wie oben geschildert – ausreichend durchdacht bzw. überhaupt zur Kenntnis genommen zu haben. Um grundlegende politische Änderungen herbeizuführen, die Almosensysteme wirklich überflüssig machen, reicht es nicht aus, verbal auf Tafeln einzudreschen. Wer daher – wie Stefan Selke – zu einer „Tafelkritik als Gesellschaftskritik“ aufruft, ist nicht gleich ein Verräter, der ein „Retorten-Bündnis“ (so Vallenthin) gründet, sondern zeigt, dass er lernfähig war. Es geht darum, die Ursache des Problems zu adressieren – und zwar dort, wo es entsteht. Die Strategie des Aktionsbündnisses ist daher, den symbolischen Stellenwert der Tafeln und ihre 20jährige Existenz zum produktiven Anlass positiv formulierter politischer Forderungen zu nehmen, anstatt sich in Negativrhetorik zu erschöpfen – oder gar zu ergötzen. Die Kritik von Frau Vallenthin steht daher auf dem Kopf: Nicht das Aktionsbündnis verkürzt die Tafelkritik. Es ist stattdessen so, dass Frau Vallenthin mit ihrer insulären Forderung nach der Übergabe von Tafeln in die Hände der Arbeitslosen den viel weitreichenderen Forderungen des Aktionsbündnisses einfach nicht folgen kann oder will. Sie erkennt nicht, wie sie mit ihrer Forderung der irreversiblen Etablierung und Systembildung – gegen die der Tafelkritiker Stefan Selke seit Jahren argumentiert – geradezu Vorschub leistet.
c) Die verkürzt gedachte Idee der Total-Privatisierung der Tafeln
Frau Vallenthin hat beim Bündnistreffen ihre bereits seit 2010 formulierte Forderung vorgetragen, die Tafeln zu Arbeitsplätzen für Bedürftige umzuwandeln. Im Sinne des Selbsthilfegedankens möchte sie also Tafeln in die Hände von Armutsbetroffenen legen – und nicht etwa abschaffen! Dieser Vorschlag stieß allerdings bei keinem der Anwesenden auf Zuspruch. Vielmehr fand eine Zielformulierung Konsens, bei der es darum geht, die Ursachen von Armut zu bekämpfen und die Nahrungsmittelversorgung „zweiter Klasse“ grundsätzlich zu beenden und nicht etwa nur zu verlagern. Schließlich ist es fragwürdig, dass für von Armut Betroffene andere Qualitätsstandards gelten sollen als für die Mehrheitsgesellschaft. Erwerbslose, Rentner und deren Kinder sollen nicht die Resteverwerter der Wohlstandsgesellschaft sein.
Eine „Verabsolutierung“ des Tafelsystems kann man also eher Frau Vallenthin mit ihrer Idee der privaten Selbsthilfetafel vorwerfen. Denn inhaltlich verbirgt sich hinter diesem Vorschlag ein bemerkenswerter Denkfehler: Einerseits kritisiert Frau Vallenthin immer wieder die Privatisierungstendenzen innerhalb der bundesdeutschen Sozialpolitik. Andererseits basiert ihre fixe Idee der „Privatisierung der Tafeln in Arbeitslosen-Hand“ geradezu auf einer Totalprivatisierung. Was könnte denn einer neoliberalen Politik Besseres passieren, als Arbeitslose, die sich in ihr eigenes Ghetto zurückziehen und auf deren Versorgung der Staat dann getrost komplett verzichten kann? Vor genau dieser Bildung von Parallelwelten und Hartz-IV-Parallelökonomien warnen immer wieder prominente Tafelkritiker – darunter auch Stefan Selke in mehreren Publikationen (u.a. in der Studie der Caritas NRW).
Während die erste Polemik sich noch aus einer Art beleidigtem Selbstbild erklären ließe – die Mehrheit der TeilnehmerInnen am Bündnistreffen lehnte den Vorschlag der Privatisierung der Tafeln sehr direkt ab – basiert ihre Fortsetzungsklage „Hartz-IV Betroffene als Tafel-Begleitmusik?“ auf einer für eine Journalistin nicht mehr akzeptablen schlechten Recherche der Sachlage.
d) Zur Glaubwürdigkeit eines Tafelkritikers
Frau Vallenthin trennt in ihrer Polemik verschiedene institutionelle Ebenen nicht sauber. Ihr ist nicht klar, wie das Aktionsbündnis und das mehrmals zitierte Forschungsprojekt „Tafel-Monitor“ sich aufeinander beziehen. Das von ihr in der Pressemeldung verwendete Zitat stammt aus einer Kurzbeschreibung des in Esslingen angesiedelten zweiten Teilprojekts, sie tut aber schlichtweg so, als ginge es hier um das Gesamtprojekt.
Worauf sich die Aussage begründet, dass das Forschungsprojekt sich „ausdrücklich“ auf die Interessen der Tafelanbieter bezieht, ist unergründlich. Frau Vallenthin kennt weder den Projektantrag (das Projekt wird vom Wissenschaftsministerium BW gefördert, nicht von Tafelanbietern!), noch kann sie die Funktion des Projektbeirats richtig einschätzen. Allein die Fixierung auf eine vermeintlich falsche personelle Besetzung zeigt den verkürzten Reflex auf lieb gewonnene Feindbilder, während gleichzeitig an anderer Stelle mühsame Dialogarbeit geleistet wird bzw. werden muss.
Vor allem aber unterschlägt sie der von ihr auf alarmistische Weise informierten Öffentlichkeit, dass sich die Hälfte des Projektes eben durchaus ausschließlich mit der von ihr eingeforderten „Nutzerperspektive“ beschäftigt. Genau dieser Projektteil wird von Stefan Selke verantwortet, dessen Glaubwürdigkeit als Tafelkritiker Frau Vallenthin immer wieder direkt oder indirekt anzweifelt. Im Rahmen mehrerer Projekte wurden von Stefan Selke in den letzten Jahren bundesweit ca. 120 Interviews mit „Tafelkunden“ geführt – mit dem ausdrücklichen Ziel, die Betroffenenperspektive im gesamtgesellschaftlichen Diskurs sichtbarer zu machen.
Gerade die Behauptungen über die mangelnde Glaubwürdigkeit von Stefan Selke grenzen in ihrer Absurdität an Realitätsverklärung. Stefan Selke wird auf Wikipedia als „zentraler Kritiker der Tafelbewegung“ beschrieben. Er ist Autor und Herausgeber von vier Büchern, die sich (im Laufe der Zeit) immer kritischer mit Tafel beschäftigen und er hält jährlich ca. 40 öffentliche Vorträge zur Kritik der Tafeln. Ihm zu unterstellen, keine „glaubwürdige Grundlage für Tafel-Kritik“ zu haben, ist fast schon böswillig. Richtig ist, dass Stefan Selke im Verlauf vieler Begegnungen nach einem Weg des Dialogs gesucht hat und aus dieser Motivation heraus den Anstoß zur Gründung des Aktionsbündnisses gab.
e) Die böse Figur der „Mutter aller Tafeln“
Frau Vallenthin kritisiert, dass das Aktionsbündnis „die Frontfrau für den prosperierenden Aufbau der Armuts-Industrie Tafeln Sabine Werth als Protagonistin für das sogenannte kritische Bündnis ausgeguckt“ hat. Dabei sollte man sich aber daran erinnern, was der Anlass zur Gründung des Aktionsbündnisses war – die bald 20jährige Existenz der Tafeln in Deutschland. Und von diesen hat nun einmal Sabine Werth die erste gegründet. Diese zentrale symbolische Figur komplett aus einem Dialog auszuschließen, hieße, die gleichen Fehler zu machen, wie es der „Bundesverband Deutsche Tafel e.V.“ seit Jahren tut: Dieser hat die Strategie, Kritiker einfach auszuladen und deren Kritik in homöopathischer Dosis als Selbstkritik zu übernehmen. Frau Vallenthin sind die Diffusionsprozesse, die hierbei in den letzten Jahren zwischen Tafelsystem und Beobachtern des Tafelsystems stattgefunden haben, wahrscheinlich nicht ausreichend transparent. In ihrer ausgeprägten durch-ideologisierten Feinbild-Rhetorik kann sie keine feinen Unterschiede mehr machen, sondern nur mit Unterstellungen und Pauschalisierungen operieren. Dies betrifft insbesondere Frau Werth.
Tatsächlich ist es so, dass die Gründerin der ersten Tafel Deutschlands die von ihr angestoßene Entwicklung selbst zunehmend kritisch beurteilt. Sie ist angesichts der immer dreisteren Instrumentalisierung der Tafelarbeit durch die Politik empört und war so bereit, sich an dem Bündnis zu beteiligen – wobei über die Beteiligungsformen noch keine irgendwie “abschließenden” Beschlüsse vorlagen bzw. liegen. Gerade als Journalistin sollte Frau Vallenthin die aufmerksamkeitsökonomische Bedeutung von Sabine Werth klar sein: Es kann einem Aktionsbündnis (dass[!] für ein Ziel der nachhaltigen Armutsbekämpfung eintritt) nur nutzen, wenn die „Mutter des Tafelsystems“ selbst auf gesellschaftliche Fehlentwicklung hinweist und die Politik an ihre Verantwortung erinnert.
Fazit: Mehr als schade!
Wenn Aktivistinnen wie Frau Vallenthin die Gelegenheit nicht nutzen, in eine gemeinsam eröffnete Reflexionsarena einzutreten, nur weil die eigene Idee nicht gleich von allen goutiert wird, dann ist dies mehr als schade. Dass Frau Vallenthin auf eine ausführliche persönliche Mail von Stefan Selke nicht geantwortet hat und stattdessen das Format einer öffentlichen Polemik nutzt, zeigt, dass es ihr im Wesentlichen darum geht, auf sich selbst aufmerksam zu machen, anstatt konstruktiv am gesellschaftlichen Wandel mitzuwirken und politisch etwas für den von ihr vertretenen Personenkreis zu bewirken.
Stefan Selke & Luise Molling
(PK)Online-Flyer Nr. 364 vom 28.07.2012
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