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Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

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Fotogalerien
Die Wiedergeburt eines 75jährigen Fotografen
Alvermann, der naive Wilde
Von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann

Noch bis zum 30. Dezember 2012 zeigt das Düsseldorfer Stadtmuseum eine Ausstellung aus dem Fundus einer Schenkung des in Düsseldorf geborenen Fotografen Dirk Alvermann. Innerhalb kurzer Folge veröffentlicht der Steidl-Verlag drei Buchtitel von dem Fotografen, der als Autodidakt und wilder junger Mann seine Stadt durchstreifte. Berufsziel: Fotoreporter – durch die Praxis geschult. 1957 schließt Alvermann sich – ziemlich naiv, wie er später meint –  der algerischen Befreiungsbewegung an. Heute werden seine Fotos und Bücher als eigenwillige Kunstwerke gehandelt. Die Ausstellung in Düsseldorf wird noch bis zum Ende des Jahres durch Vorträge und Führungen begleitet.


Düsseldorf (1956-65)


Düsseldorf (1956-65) – Großkundgebung von Vertriebenen im Rheinstadion


Düsseldorf (1956-65)


Düsseldorf (1956-65)


Algerien (1950er Jahre)


Algerien (Buch-Layout)


Algerien (Buch-Layout)


Algerien (Buch-Layout)


Algerien (1950er Jahre)


Streiflichter 1956-65 – Sheffield (1965) – Stahlschmiede


Streiflichter 1956-65 – Peniscola


Streiflichter 1956-65 – Peniscola – Kasernierte Bereitschaftspolizei Guarda Civil und Capuchones vereint zur Semana Santa

Die Schule hat er "geschmissen“. Mit einer von den Eltern geschenkten Kamera zieht er durch die Stadt und macht "seine“ Bilder. Zunächst im Quartier. Der Düsseldorfer Sammler, Gewerkschafter und Herausgeber zahlreicher (Foto-)Bücher und Bildbände, Udo Achten, kennt ihn und die Szene der Weggefährten von Semmer bis Süverkrüp aus nächster Nähe: „Es sind bewegte Fotos aus dem Leben der Kinder, deren Freuden, Raufereien und Leiden. Hier stehen nicht die Gebäude oder Straßen, sondern das pralle Leben im Mittelpunkt fotografischer Betrachtung. Dass man sich in der Nach-Kriegs-Zeit befindet, ist leicht an den Trümmern im Hintergrund zu erkennen, aber auch daran, dass nicht alle gleichermaßen am Wirtschaftswunder teilhaben. Was ist Düsseldorf ohne Karneval, Kirmes, Radschläger und Martinsumzüge? Das Arbeiterviertel Oberbilk, gleich hinter dem Bahnhof, wo auch Alvermanns Elternhaus steht, ist ebenso in den Bildern festgehalten und kontrastiert Kö und Altstadt... Die von Dirk Alvermann ausgewählten Fotos zeigen eine große Sensibilität für die Widersprüche dieser Zeit, aber auch sehr persönliche Impressionen aus der Szene der Unzufriedenen, der vielen Weggefährten wie Süverkrüp, Semmer und die Jazzfreunde, mit denen gefeiert und für bessere Verhältnisse gestritten wurde. Man kann sich leicht vorstellen, dass die sozialkritischen Fotos in den 60er Jahren meist nur von linksorientierten Zeitungen wie Die Tat, Deutsche Volkszeitung und Die Andere Zeitung gedruckt wurden.“ Zunächst.

Der knapp zwanzigjährige Autodidakt ist beseelt von den technischen Möglichkeiten seiner kleinen Wunderkiste, das Leben, seine Leidenschaften, den Überlebenskampf – vor der eigenen Haustür und im Weltgeschehen – höchstselbst darin einzufangen. Die Gestaltung, die Entscheidung für Nähe oder Ferne, vor allem aber der Moment, in dem der Ausdruck aus einer Palette, einem filmischen Spektrum, durch den Fotografen mit dem Druck auf den Auslöser festgelegt wird. Begriffe wie Randunschärfe oder Filmkörnung überläßt er Profis und Amateuren einer anderen Liga. Göttlich. Beinahe. Apropos Film: mehr am Rande ist recherchierbar, dass der junge Alvermann in Algerien auch mit der Filmkamera unterwegs war. Der für den WDR avisierte Film „Algerische Partisanen“ (1962) von einer seiner Algerienreisen wurde kurz vor der Ausstrahlung aus dem Programm genommen, schreibt Thomas Wiegand in Fotokritik.

Alvermann gestaltet eigenhändig – so auch seine Bücher, deren Layout Jahrzehnte später prämiert wird. Er macht (Extrem-)Ausschnitte aber keine Zugeständnisse. Bei Algerien bestand er auf dem Taschenbuch-Format – bei der von Rowohlt aus politischen Gründen zurückgestellten, dann beim Ost-Berliner Verlag Rütten & Löning 1960 zum Preis von 4,90 DM erschienenen Originalausgabe – um eine breite Öffentlichkeit zu erreichen. Immerhin ziert die rororo-Taschenbuchausgabe von Frantz Fanon "Die Verdammten diese Erde" ein Alvermann-Foto aus Algerien. Dieses Buch „beeinflusste verschiedene Vorstellungen der 68er-Bewegung vom 'revolutionären Subjekt!'“, heißt es in einem Artikel von Sabine Kebir 2008 (Bundeszentrale für politische Bildung). Dabei handele es sich um eine falsche Universalisierung seiner Thesen, derer sich die RAF bedient habe. Nebenbei: auch der französische Soziologe und Fotokritiker Pierre Bourdieu hat ein Algerienbuch – mit eigenen Fotos – verfasst.


Buchtitel mit Algerien-Foto von Dirk Alvermann

Dirk Alvermanns, dem "Algerien-Buch" vorangestellte mehrseitige Zitat-Sammlung vertieft die Brisanz, die der sein Leben riskierende zwanzigjährige Autor dem Publikum vermitteln will. Ein Beispiel: "45 Tote, 74 Verschleppte, 27 Dörfer, 1000 Hütten und 80 Unterstände für die Bevölkerung, 1000 Tonnen Nährmittel und 5000 Liter Öl vernichtet und ungenießbar gemacht, 500 Stück Vieh konfisziert.“ (Kommuniqué des französischen Oberkommandos aus dem Gebiet von El Milia, November 1958)

Das Faksimile der Erstausgabe ist im Steidl-Programm "Protest Box" erschienen, innerhalb dessen der Magnum-Fotograf Martin Parr vergriffene Fotobuch-Klassiker herausgibt. Die vorliegende deutsche Ausgabe (mit geänderten Cover-Fotos) strotzt mit vollformatigen Fotos im Anschnitt und schwarzen Gestaltungsflächen vor Druckerschwärze – mit einem gehörigen Schuß Steidl Paper Passion Parfume (sic!).

Die Streiflichter des 1937 in Düsseldorf Geborenen beleuchten pralle Szenen in europäischen Nachkriegs-Block-Welten beginnend mit Warschau "hinter dem Eisernen Vorhang", mittendrin in den Massenkundgebungen der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei im Oktober 1956. 1962 ist er in Tirana dabei, als die "albanische Regierung des Altstalinisten Enver Hoxha" ihr "hermetisch nach außen abgeriegeltes Herrschaftsgebiet" Touristen zu öffnen gedenkt. Der zur werbenden Berichterstattung eingeladenen Presse seien zur Begrüßung aber sämtliche Filmausrüstungen abgenommen worden. Weiter geht der Streifzug zu den Mafiabossen in Neapel, ein andermal zu einem verwunschenen Ort an der spanischen Küste, der heute unter Tourismus-Burgen versunken ist – Fischer und ihre Frauen beobachtet Alvermann bei ihrer gemeinsamen Arbeit. Er blickt in die Augen eines Gefangenen im Inselgefängnis hinter massiver, beschlagener Holztür ebenso wie in Augenpaare einer mißtrauischen Guardia Civil der Franco-Aera zur Semana Santa. Im britischen Sheffield steht 1965 (wieder) eine Filmproduktion über den legendären Arbeiterclub "Dial House Social Club" im Zentrum seiner Expedition. Nach 1979 meint Alvermann, dass es genug sei mit der Entblößung der Menschen vor der Kamera und dass er dazu nichts mehr beitragen möchte. Der Fotograf und Filmer wendet sich der Textproduktion zu.


Dirk Alvermann: Klein Paris – Düsseldorf 1956-65, Steidl Verlag 2011, 112 Seiten, 18,2 x 24,4 cm, Tritone-Druck, 28 Euro


Dirk Alvermann: Algerien, Steidl-Verlag 2012, Softcover, Tritone-Druck, 224 Seiten, 18x10,8cm, 18 Euro


Dirk Alvermann: Streiflichter 1956-65, Steidl Verlag 2012, 128 Seiten, 18,2 x 24,4 cm, Tritone-Druck, 28 Euro


Die Ausstellung

Dirk Alvermann, Fotoreportagen 1956 bis 1965
Stadtmuseum Landeshauptstadt Düsseldorf
Berger Allee 2
40213 Düsseldorf
Di, Do-So 11-17, Mi 11-21 Uhr

Der Eintritt in die Sonderausstellung kostet 4 € / ermäßigt 2 €.
Für Kinder und Jugendliche bis 18 Jahren ist der Eintritt frei.

Führungen: an Sonntagen von 11:30 - 12:30 Uhr (kostenlos)


Vorträge

Donnerstag   13.09.2012 , 18:00 Uhr
In der Erinnerung. Düsseldorfer Nachkriegsleben in den Romanen Dieter Fortes
Lesungen von Olaf Cless, Ingrid Süverkrüp, Dieter Süverkrüp, Moderation: Dr. Christoph Danelzik-Brüggemann

Dienstag   25.09.2012, 18:00 Uhr
Dirk Alvermann - Das Auge der Zeitgeschichte
Ref.: Dr. Christoph Danelzik-Brüggemann

Dienstag   16.10.2012, 15:00 Uhr
Frauenbilder in der Fotografie Dirk Alvermanns
Rundgang mit Dr. Christoph Danelzik-Brüggemann, Treffpunkt: Im Foyer

Mittwoch   24.10.2012, 18:00 Uhr
Dirk Alvermann
Lesung von Bildtexten u.a. mit Uwe Bähr, Hannelore Friedrich, Karin Heidemanns, Hanne Klock, Fred Kuhne, Dr. Christel Meyer, Heike Niederhausen und Marion Portz-Kube, Moderation: Peter Böhm

Donnerstag   25.10.2012, 16:00 Uhr
Menschen - Geschichten aus den 1950er und 1960er Jahren
Lesung der 'Geschichtsschreiber' aus Zeitzeugenerinnerungen

Donnerstag   25.10.2012, 18:00 Uhr
Das 'Alltägliche' ins Bild gesetzt
Vortrag von Udo Achten, Moderation: Dr. Christoph Danelzik-Brüggemann

Dienstag   4. Dezember 2012, 18:00 Uhr
Dirk Alvermann wurde über seine zwischen 1960 und 1979 erschienenen Fotobücher wiederentdeckt. Schon das Erstlingswerk „Algerien“ war ein großer Wurf, der Alvermann einen Rang unter den weltweit wichtigsten Fotobuchautoren sichert. Warum das so ist, soll im Rahmen des Vortrags begründet werden.
Vortrag von Thomas Wiegand, Kassel, Moderation: Dr. Christoph Danelzik-Brüggemann, Leiter der Sammlungen 19. Jahrhundert / Fotografischen Sammlung

Online-Flyer Nr. 369  vom 29.08.2012

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