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Lokales
Arbeiter Ugur K. kann beim LAG weiter um seine Wiedereinstellung streiten
Pro Nattermann-Urteil geht in die 2. Instanz
Von Elmar Wigand

Der fristlos gekündigte türkische Transportarbeiter Ugur K. wollte kein Geld in Form einer Abfindung, er wollte Gerechtigkeit. Auch wenn sein Arbeitgeber, die Kölner Firma Nattermann (Sanofi-Aventis) am 28. November vor der 3. Kammer der Landesarbeitsgerichts Köln erneut deutlich machte, dass man Ugur K. auf keinen Fall wieder bei der Arbeit sehen wollte, “um ein Zeichen in die Firma zu setzen” (Zitat Personalchef Walther Rixen), ließ sich der Familienvater auf keinen Vergleich ein. Am 16. April hatte er vergeblich gegen einen Fall von „Verdachtskündigung“ im Arbeitsgericht Köln geklagt. Nun kann er beim LAG seine Wiedereinstellung erstreiten.

Es geht Ugur K. bei diesem Prozess um nicht weniger als die Wiederherstellung seiner Ehre, die durch schwere und nicht bewiesene Anschuldigungen in den Schmutz gezogen worden war. Nattermann hatte ihn beschuldigt, schwere Sabotage an Medikamenten für Säuglinge begangen zu haben. Obwohl eindeutige Beweise ausblieben und der Arbeiter strafrechtlich als unschuldig zu gelten hat, wiederholte Nattermann erneut seine Verdächtigungen. Auf nicht mehr stützten Nattermann und der Verband Chemie Rheinland diesen Versuch der Verdachtskündigung.

Die Umkehr der Beweislast

Die Möglichkeit, mit Verdächtigungen Tatsachen zu schaffen, ist ein Kuriosum im deutschen Rechtssystem: Am Arbeitsplatz wird der Beschäftigte in die Position gedrängt, seine Unschuld beweisen, um einer mitunter existenziellen Strafe wie der Kündigung zu entgehen. Das bedeutet faktisch die Umkehr zentraler Rechtgrundsätze wie der Unschuldvermutung und der Beweispflicht.
Wir freuen uns mit Ugur K. und seinen Angehörigen für diesen Sieg, der alles andere als sicher war. Wir gratulieren auch zu der Standhaftigkeit des Arbeiters, keine Abfindung mitzunehmen, also Gerechtigkeit in Geld zu verwandeln, sondern ein Urteil zu erzwingen. Denn dieses könnte in Zukunft auch anderen ArbeiterInnen weiter helfen, die von Verdachtskündigungen betroffen sind.
Eine fachkundige und beherzte Prozessführung des Arbeitnehmeranwalts Klaus Klingenberg trug zum Erfolg ebenso bei, wie das Glück, mit dem Fall am Landesarbeitsgericht Köln in der 3. Kammer gelandet zu sein und daher mit Jochen Kreitner an einen offensichtlich fleißigen und erkennbar interessierten Vorsitzenden Richter geraten zu sein. Diese Konstellation ist leider nicht immer gegeben.

Das Urteil

Das Sitzungsergebnis des LAG Köln vom 28. 11. 2012, veröffentlicht auf der Website des LAG Köln am 29. 11. 2012 unter dem Aktenzeichen 3 Sa 561/12:
1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 16.04.2012 – [...] – abgeändert: Es wird festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht durch die Kündigungen der Beklagten vom 04.02.2011 sein Ende gefunden hat. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Rechtsstreits als Transportmitarbeiter weiter zu beschäftigen.
2. Der Auflösungsantrag der Beklagten wird zurückgewiesen.
3. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Vergebliche Klage beim Arbeitsgericht

Vor dem Arbeitsgericht Köln war es nicht um Bagatellen, wie privat eingelöste Pfandbons, oder den Eigenverzehr von Maultaschen oder Käsebrötchen gegangen. Denkt man den Plot zu Ende, der hier von Nattermann aus dem Pharmakonzern Sanofi-Aventis und dem Unternehmerverband "Chemie Rheinland“ präsentiert wurde, hätte es sich um fahrlässige Tötung von Säuglingen durch Sabotage an Medikamenten handeln können. Doch gab es auch da schon wenig Anlass, der vorgestellten Geschichte zu folgen und sie für mehr zu halten als eine Konstruktion.

Belegschaft festgehalten und stundenlang verhört

Um einen fortwährend niedrigen Ausstoß der Produktionsanlagen in den Griff zu bekommen, wurde die gesamte Belegschaft der Kölner Medikamenten-Fabrik Nattermann zunächst wochenlang bespitzelt. Dann, in der Nachtschicht des 25. Januar 2011, stoppte plötzlich die Konfektionierungsanlage 03, die Belegschaft wurde stundenlang festgehalten und von der Sanofi-Aventis-Abteilung „Security Germany“ verhört, „Beweise” gesichert, die Kriminalpolizei gerufen. Ugur K., als Arbeiter türkischer Herkunft 16 Jahre im Betrieb, wurde schließlich abenteuerlichen Verdächtigungen ausgesetzt, strafrechtlich verfolgt und fristlos gekündigt.
Vor dem Arbeitsgericht wurde er beschuldigt, ein Medikament für Säuglinge ab 3 Kilogramm namens Doliprane Suspension während der Nachtschicht planmäßig und massenhaft mit einem weiteren Nattermann-Produkt, Bronchicum Elexir S, verschmutzt zu haben, indem er das Mittel mit einer Pipette auf Verschlusskappen gespritzt habe.
Im Prozess sagten aus: die Betriebsleiterin, Frau Willeke-Buck, eine studierte Apothekerin aus Essen, Frau Christiane G., eine Linienführerin, die eigentlich zum fraglichen Zeitpunkt eine ganz andere Maschine zu überwachen gehabt hätte, sowie einige Arbeiterinnen, die während ihrer Vernehmung stets ängstlich zu ihrem Personalchef Rixen hinüber blickten und auf zustimmendes Kopfnicken oder Stichworte warteten – was das Gericht aber nicht zu stören schien.
Obwohl sich die Zeuginnen in massive Widersprüche verwickelten, was Beteiligte, Zeitpunkte und Zusammenhänge angeht, obwohl Christiane G. sogar zu Protokoll gab, nicht ausschließen zu können, dass jemand anderes als Ugur K. den fraglichen Sabotageakt begangen haben könnte, kam das die 2. Kammer des Arbeitsgerichts unter Vorsitz von Dr. Christian Ehrich zur Entscheidung, die Klage abzuweisen (Aktenzeichen Ca 1198/11).
Verdachtskündigung: Arbeitsunrecht als richterliche Routine

Das Problematische am deutschen Richterrecht, welches über Jahrzehnte durch eine arbeitgeberfreundliche Rechtssprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) geprägt wurde, ist: der Verdacht reicht. Die Unschuldsvermutung, eine Grundlage bürgerlichen Rechts, wird somit auf dem Werksgelände außer Kraft gesetzt. Mit dem Emmely-Urteil vom Juni 2010 ist das BAG den Angestellten nur insoweit entgegen gekommen, dass eine Bagatelle zur Kündigung nicht mehr zwangsläufig ausreicht.
Linienführerin Christiane G. offenbarte in ihrer Zeugenaussage die eigentliche Problematik unter der Oberfläche: ArbeiterInnen griffen wiederholt in den Produktionsprozess ein, um Maschinen zum Stoppen zu bringen. Mal wurde Papier zum Druck der Beipackzettel so angeschnitten, dass die Rolle riss, mal zerbrachen Flaschen und verschmutzten die Produktion. Solch einen Kampf Arbeiter gegen Maschine gibt es seit der Erfindung der Fließbandarbeit, auch wenn kaum offen darüber gesprochen wird. Auch am fraglichen Abend lief die Anlage laut Betriebsleiterin Willeke-Buck nur bei 40% Auslastung. Klar wurde auch, dass die Belegschaft vor dem inszenierten Show-down systematisch durch die konzern-interne Security beobachtet wurde.
Kündigungsstrategie mit möglichen Nebewirkungen

Auf der juristischen Ebene ging die Strategie der Unternehmensleitung zunächst auf. Doch sie hatte einen Haken. Arbeiter wie Ugur K. und dessen Frau, die ebenfalls bei Nattermann arbeitet, werden durch solche Vorwürfe in ihrer Ehre verletzt. Sie geben sich nicht mit Abfindungen zufrieden, sondern wollen Gerechtigkeit. Der Vorwurf, fahrlässig oder gar mutwillig das Leben von Säuglingen zu gefährden, musste eine junge Familie, die damals gerade Nachwuchs erwartete, bis ins Mark treffen.
Der Anwalt von Ugur K., Klaus Klingenberg, zeigte sich nach dem Verlauf der Zeugenaussagen erstaunt bis verwundert über das Urteil und kündigte an, dass sein Mandant in Berufung gehen wolle, was nun von der 3. Kammer des Landesarbeitsgerichts zugelassen wurde. (PK)
Elmar Wigand untersucht mit Werner Rügemer das Feld "Union Busting in Deutschland - die Bekämpfung von Beschäftigten, Betriebsräten und Gewerkschaften als professionelle Dienstleistung". Sie sammeln und dokumentieren einschlägige Fälle und Berichte auf der Seite http://arbeitsunrecht.de
 
 


Online-Flyer Nr. 382  vom 30.11.2012

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