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Globales
Interview mit der palästinensischen Knesset-Abgeordneten Haneen Zoabi
„Israel wird immer mehr Land konfiszieren“
Von Rolf-Henning Hintze

Haneen Zoabi ist seit 2009 Mitglied des israelischen Parlaments (Knesset) für die arabische Partei National Democratic Assembly (NDA). Sie studierte Kommunikationswissenschaft an der Hebräischen Universität Jerusalem. Die Selbstdefinition Israels als „jüdischer Staat“ lehnt sie ab und fordert, das Land müsse ein Staat für alle seine Bürger ohne Diskriminierung der Palästinenser sein. International bekannt wurde sie im Jahr 2010 durch ihre Teilnahme an dem Schiffskonvoi mit Hilfsgütern für Gaza. Sie befand sich auf dem türkischen Schiff „Mavi Marmara“, das in internationalen Gewässern von israelischen Militärkommandos geentert wurde. Neun Aktivisten wurden bei dem Überfall getötet. Rolf-Henning Hintze traf Haneen Zoabi Ende April bei einem Besuch in Israel.
 

Haneen Zoabi
Rolf-Henning Hintze: Hat die neue israelische Regierung Netanyahu-Lapid für die palästinensische Bevölkerung Israels irgendetwas Neues gebracht?
 
Haneen Zoabi: Zuerst einmal muss ich sagen, dass diese Regierung mich nicht vertritt. Die neue Regierung beinhaltet noch mehr Risiken und ist noch gefährlicher als die frühere. Es ist eine rechtsgerichtete Regierung, auch wenn Finanzminister Lapid seine Partei zu Unrecht als eine der Mitte bezeichnet. Diese Regierung hat kein Interesse an der Beendigung der Besatzung, sie erkennt nicht die palästinensischen Rechte an. Sie sieht überhaupt keine Notwendigkeit, darüber mit den Palästinensern auch nur zu diskutieren. Während des Wahlkampfs hat keine der etablierten Parteien den Friedensprozess oder die Zukunft des Westjordanlandes zum Thema gemacht. Sie kümmern sich nicht darum, für sie ist das eine normale Situation. Israel fühlt sich stark genug, einfach so weiter zu machen und die Probleme der Palästinenser zu vernachlässigen. Man war ausschließlich mit internen Problemen beschäftigt, die nichts mit den Palästinensern zu tun haben. Damit verlegen sie ihr Denken in ein Ghetto, sie isolieren sich von ihrer Umgebung, ihrer Region, sie sind hauptsächlich an guten Beziehungen mit dem Westen interessiert. Das geht zu Lasten von Gerechtigkeit und Frieden in der Nachbarschaft. Sie interessieren sich nur für die Mittelklasse, man muß allerdings zwischen der jüdischen und der palästinensischen Mittelklasse unterscheiden, die wirtschaftlich ganz verschieden sind.
 
Können Sie das genauer beschreiben?
 
Das monatliche Durchschnittseinkommen eines israelischen Arbeitnehmers beträgt etwa 8.000 Schekel (etwa 1.600 Euro), das eines palästinensischen Israeli 5.000 Schekel (etwa 1.000 Euro). Man muß aber berücksichtigen, dass mehr als 40 Prozent der palästinensischen Israelis keine Arbeit haben und sogar 78 Prozent der palästinensischen Frauen, das ist zwei- bis dreimal so viel wie bei jüdischen Frauen und Männern. Wenn die Regierung sagt, sie kümmert sich um den Mittelstand, heißt das, dass sie sich um die Ärmeren nicht kümmert. Sie sagen, nur wenn man in der Armee gedient hat, verdient man Dienstleistungen (arabische Israelis werden grundsätzlich nicht in die Armee aufgenommen, d. Autor). Das läuft auf bedingte Bürgerrechte hinaus, die von der Loyalität zum Staat, der sich selbst als jüdischen Staat bezeichnet, abhängig sind. Diese Regierung ist riskanter als frühere, weil sie als liberal und moderat gilt. Die Regierung wird ihre rassistische Politik leichter fortsetzen, aber ein Drittel der Knesset-Abgeordneten sind Siedler, auch zwei der Minister. Wir müssen uns zudem auf höhere Steuern gefasst machen.
 
Meinen Sie, dass auch die jüdischen Israelis nicht von der Politik profitieren werden?
 
Finanzminister Lapid ist jetzt sehr populär, weil er die Religiösen und die Palästinenser angegriffen hat, nicht wegen des Inhalts seiner Politik. Er hat den Armen vorgeworfen, selbst für ihre Armut verantwortlich zu sein. Kürzlich sagte er, es sei die Verantwortung der Eltern, ihre Kinder zu ernähren, und griff die Arbeitslosen an. Als Finanzminister sollte er wissen, dass Strukturen immer mächtiger sind als der einzelne Bürger, es ist sehr oberflächlich zu sagen, die Bürger selbst seien verantwortlich.
 
Zipi Livni ist jetzt als Justizministerin für Friedensgespräche mit der Palästinensischen Autonomiebehörde zuständig. Wird sie etwas erreichen können?
 
Für die Palästinenser wird sie nichts erreichen können. Für Israel wird sie der Welt die Illusion vermitteln, dass Israel um Frieden bemüht sei - das ist ihre Rolle. Aber ich denke, sie weiß, dass Netanyahu und die Rechten einflussreicher sind als sie, mit sechs Abgeordneten hat ihre Partei kein großes Gewicht. Gegen die rigide Ideologie Netanyahus und der Siedler wird sie kaum etwas ausrichten können, aber sie verteidigt Israels Image durch das Aufrechterhalten dieser Illusion.
 
Und der Bau illegaler Siedlungen geht weiter?
 
Natürlich, die Lage wird sich nicht ändern, die Siedlungen werden weiter ausgebaut, Olivenbäume weiter entwurzelt und mehr Land konfisziert. All das wird zunehmen, alle Teile der Regierung sind damit einverstanden. Sie halten die Siedlungen für sekundär, ihre Priorität gilt der wirtschaftlichen Lage. Und noch gefährlicher ist, dass Israel seine Bemühungen fortsetzt, die Beziehungen zu Europa zu intensivieren, gleichzeitig aber die Besatzung und Verletzung der Menschenrechte verstärkt.
 
Im israelischen Parlament gibt es drei arabische Parteien, die aber insgesamt nur sieben der 120 Sitze haben. Was können sie erreichen?
 
Wir sehen unsere Rolle nicht wie Abgeordnete in Deutschland. Israel versteht sich nach der jetzigen Definition als ein jüdischer Staat, deshalb werden wir nie Teil der Regierung sein. Unsere Opposition ist eine ideologische, unsere Wirksamkeit misst sich in erster Linie daran, dass wir den Rassismus des Systems enthüllen. Es geht uns darum, der israelischen Öffentlichkeit klar zu machen, dass der Staat nach seiner Definition nicht demokratische, sondern nur rassistische Politik machen kann. Zweitens geht es uns darum, das Bewusstsein der palästinensischen Israelis – 1,2 Millionen Menschen – zu schärfen, ihre Identität als Palästinenser zu bewahren. Das zionistische Projekt will uns zähmen, zu Individualisten machen. In ihren Augen können wir keine richtigen Israelis sein, weil wir keine Juden sind. Um ein wahrer Israeli zu sein, muss man Jude sein. Schon die Bezeichnung „arabischer Israeli“ finden wir erniedrigend und rassistisch, sie wollen uns von unserer Geschichte, von unserem Volk, trennen. Sie behandeln uns als Individuen, ohne uns volle Bürgerrechte zu geben, deshalb arbeiten wir daran, unsere Identität als Minderheit zu bewahren. Unsere dritte Aufgabe ist, eine alternative Perspektive zu entwickeln, eine Demokratie für beide Seiten, einen Staat für alle, in dem alle Bürger die gleichen Rechte haben.
 
Sie sagten, Israel sei kein demokratischer Staat. Das widerspricht der Ansicht der großen Mehrheit der Deutschen. Können Sie einige Beispiele nennen?
 
Die meisten Deutschen kennen die Situation hier nicht, sie bekommen Informationen von den Israelis, und die sagen nichts Schlechtes über ihren Staat. Aber man muss selbst analysieren. Nehmen Sie das Rechtswesen, die Gesetze: Es gibt 34 Gesetze, die palästinensische Bürger diskriminieren, das ist auf der Webseite von Adalah (1) im Einzelnen nachzulesen. Durch diese Gesetze verlor ich mein Land, Israel hat 86 Prozent des palästinensischen Landes konfisziert. Wenn Sie von Landraub und den Siedlungen im Westjordanland hören, beachten Sie bitte, dass Israel die gleiche Politik der Landkontrolle auch innerhalb der „Grünen Linie“ praktiziert, das hat also nicht allein mit Besatzung zu tun. Es hat zu tun mit einem Staat, der sich als jüdischer Staat versteht und das Land judaisieren und es ausschließlich für seine jüdischen Bürger verfügbar machen will. Was ist der Sinn eines jüdischen Staates? Er muss von Juden für die Juden betrieben werden und muss Juden als Mehrheit bewahren. Das hat nichts mit Religion zu tun, ich halte die religiöse Festlegung für irreführend, es ist rein säkular, es geht um einen zionistischen Staat. Viele Juden meinen sogar, dass dieser Staat dem Judentum widerspricht. Israel vertritt nicht die Juden sondern eine bestimmtes ideologisches Programm.
 
Können Sie das konkretisieren?
 
Ich darf in 70 Prozent des israelischen Staatsgebietes nicht leben, das ist wie Apartheid in Südafrika. Vor etwa einem Jahr wurde ein Gesetz mit dem Namen „Committee Acceptance Law“ beschlossen. Es besagt, dass spezielle Ausschüsse zustimmen müssen, wenn Bürger in einem Ort von bis zu 400 Häusern leben wollen. Sie können Bewerber mit der Begründung ablehnen, sie störten die „soziale Harmonie“. Wenn sich also Palästinenser bewerben, die eine andere Sprache sprechen, eine andere Geschichte haben, andere Feiertage und andere Zeremonien, dann können all diese 570 Akzeptanzkomitees sagen, nein, wir können dich nicht aufnehmen, wir wollen die soziale Harmonie in unserem Ort bewahren. Auf all dem Land, das Israel konfisziert hat, wurde keine einzige palästinensische Ortschaft errichtet. Es wurde Infrastruktur gebaut, öffentliche Einrichtungen und 1.000 Ortschaften und Städte, alle jüdisch. Und dann haben sie Gesetze gemacht, die diesen Raub unseres Landes legalisieren.
 
Unter den 34 Gesetzen gibt es auch eines, das es mir verwehrt, meine Geschichte zu studieren, was während der Nakba (die Vertreibung der Palästinenser bei der israelischen Staatsgründung, d. A.), mit uns gemacht wurde. Wir können nicht palästinensische Literatur und palästinensische Lyrik studieren, das alles wird uns verwehrt. Die 34 Gesetze zielen darauf ab, die unterdrückerische Politik uns gegenüber die legalisieren, die Verteilung der Ressourcen, von Wasser und Land zugunsten der Juden, das ist ein System von Apartheid. Und nicht zuletzt die Gesetze über die Staatsbürgerschaft. Beispielsweise kann ich nicht einen Palästinenser heiraten und in Nazareth wohnen bleiben, ich müsste das Land verlassen. Aber wenn ich einen Juden aus Deutschland heiraten würde, dürfte ich in Nazareth bleiben. Ziel dieser Gesetze ist, möglichst viele Palästinenser loszuwerden, es ist ein zionistisches Projekt: Möglichst viel Land mit einem Minimum an Palästinensern.
 
Was sagen Sie zum Spendenaufruf der SPD für einen Wald in der Negev-Wüste?
 
Das ist eine sehr hässliche Handlungsweise und sehr schädlich für die Palästinenser. Der Aufruf hat eine klare Botschaft: Wir als SPD unterstützen die Politik Israels in der Negev. Ihr könnt mit der Vertreibung der Beduinen aus der Negev fortfahren, wir sind eure Partner, auch wenn ihr eure eigenen Bürger unterdrückt. Stellen Sie sich vor, die deutsche Regierung würde 40.000 Juden aus einem deutschen Gebiet vertreiben, weil sie dort nur Christen haben wollte – was meinen Sie wohl, wie Israel reagieren würde?
 
Wie sehen Sie die Rolle des Jüdischen Nationalfonds (JNF), mit dem die SPD bei dem geplanten Wald in der Negev zusammenarbeiten will?
 
Der JNF ist praktisch ein Instrument, mit dem Israel auf geschickte Weise seine rassistische Politik durchführt. Der JNF besitzt 13 Prozent des Landes in Israel, 90 Prozent davon sind uns Palästinensern genommen worden. Laut Satzung darf der JNF kein Land an Palästinenser verkaufen. Er ist wie ein Staat im Staate, Israel kann z.B. gegenüber Deutschland sagen, es handelt sich um eine private Organisation, aber sie ist nicht privat, sie handelt mit voller Zustimmung Israels. Sie agiert wie eine kolonialistische Körperschaft mit dem Ziel, die hier geborene Bevölkerung zum Nutzen der Immigranten zu vertreiben. (PK)                                      
 
(1) Zentrum für Minderheitenrechte in Israel: www.adalah.org (English)
 
Rolf-Henning Hintze, geboren 1942 in Berlin, ist seit über 40 Jahren als Journalist tätig, früher als Redakteur der Frankfurter Rundschau, des Norddeutschen Rundfunks und der Deutschen Welle dann als freier Journalist (mit Schwerpunkt Afrika- und Entwicklungspolitik); mehrjährige Erfahrungen als Betriebsrats- bzw. Personalsratsmitglied bei der Frankfurter Rundschau und beim NDR; Landesbeauftragter des Deutschen Entwicklungsdienstes in Sambia, 1984/85 stellvertretender Bundesvorsitzender der Deutschen Journalisten-Union in der IG Druck und Papier.


Online-Flyer Nr. 408  vom 29.05.2013

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