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Literatur
Zu Wolfgang Bittners Roman "Hellers allmähliche Heimkehr“
Entführung in die Wirklichkeit
Von Holdger Platta

Gibt es das eigentlich noch: den politisch-kritischen Gegenwartsroman? Die große Erzählung, die das Individuum auch im Verhältnis zu den Verhältnissen in der Bundesrepublik zu schildern versucht? Oder anders gefragt: den engagierten Autor, die engagierte Autorin, präsentiert von einem der etablierten Verlage, die jahrezehntelang Publikationsort waren auch solcher Literatur? Fast möchte man sagen: ein sicherer Hort…
 
Ich habe einmal die Lesebeilagen an diesem Wochenende in der „Zeit“ und „FAZ“ durchgesehen, auch die Listen mit den Neuerscheinungen bei S. Fischer, Rowohlt und Suhrkamp. Fündig geworden bin ich nicht (es war schon letztes Jahr nicht anders). Kästner, Döblin und Fallada, Feuchtwanger, Brecht und Heinrich Mann, sie würden sich heute die Hacken ablaufen bei Rowohlt und Co.; Koeppen, Böll, der junge Enzensberger, sie wären als ‚newcomer’ heutzutage mit höchster Wahrscheinlichkeit chancenlos.
 
Richtig, richtig, die bundesdeutschen Literaturverlage importieren reihenweise Autoren, die auch Zeitkritiker sind, das ja, sie bieten auch reihenweise DDR-Aufarbeitungen in den Bereichen der Belletristik an, sonst aber nichts. Nichts gegen das eine, nichts gegen das andere, beides muß sein, aber diese große, diese riesige Lücke, sie auch? – Daß unser Staatsunwesen Bundesrepublik in der Belletristik nicht existiert: müsste es, trotz aller Abgebrühtheit, nicht immer noch verwundern? Und man erzähle uns nicht, es gäbe sie nicht, diese Literatur, es gäbe sie nicht, diese ErzählerInnen unserer bundesdeutschen Wirklichkeiten zwischen Sozialstaatsvernichtung und Neofaschismen! Was da auffällt, ist nicht, daß bundesdeutschen AutorInnen nichts mehr einfällt, wenn es um Zeitkritik geht. Was da auffällt, ist Literaturbetrieb. Selbstverständlich, kein Lektorat eines Großverlages teilt das so unverblümt den betreffenden AutorInnen mit. Nein, man versteckt das hinter netten Nichtigkeiten – das Angebot passe leider nicht ins Programm, man sei leider schon für einige Jahre ausgebucht. Was unfreiwillig sehr viel Wahrheit ausplaudert, dieses Paar der Ablehnungsfloskeln. Es „passt“ halt nicht, diese Gesellschaftskritik, die sicheren Plätze für Veröffentlichung haben halt andere „gebucht“. Na eben! Na prima!
 

Wolfgang Bittner
NRhZ-Archiv
Zu empfehlen ist hier das Buch eines zeitgenössischen Autors, der sich seit Jahrzehnten an die große Verabredung der Großverlage nicht hält, ein „unpassender“ Romanschriftsteller (und Lyriker!), der über nichts weniger schreibt als über permanente Anpassungs-geschichten in bundes-deutscher Provinz. Aber Vorsicht: man denke nicht, es ginge in Frankfurt, Berlin oder München diesbetreffend weniger provinziell zu! Ich spreche von Wolfgang Bittners Roman „Hellers allmähliche Heimkehr“, vor einem Jahr erschienen im kleinen – eben: so ist es! – Mainzer Verlag VAT. Apropos: liebevoll ediert, mit wunderschönem Umschlag, als gebundene Ausgabe, mit Lesebändchen sogar. Und davon handelt der Text:
 
Ein Journalist kehrt nach vielen Jahren in sein norddeutsches Heimatstädtchen zurück. Er wird zum redaktionellen Leiter der Tageszeitung am Ort. Er trifft alte Freunde und findet neue, er verliebt sich und wird alsbald mit der braven Verwandtschaftlichkeit der Kleinstadteliten vertraut. Der Herausgeber der Zeitung, gewisse Bauherren, der Polizeichef, eine rechtsextremistische Kameradschaft – sie alle erweisen sich nach und nach aufs innigste verbandelt und machen Heller das Leben schwer. Wo nicht ans Licht kommen darf, ist’s schwer, ein Aufklärer zu sein. Heller bemerkt das sehr rasch, und das nette Städtchen zeigt dem Neuling drastisch schnell, was eine Harke ist. Drohbriefe und Alkoholkontrollen, Nazischmierereien und Brandanschläge, eingeworfene Fensterscheiben und ein merkwürdiger Bauernhof: der Göttinger Schriftsteller zieht einen unwiderstehlich in das Geschehen dieses artigen Städtchens hinein, in eine Geschichte, die alle Merkmale eines Krimis besitzt, in einen Krimi, der voll bundesrepublikanischer Wirklichkeiten ist. Die Privatisierung vormals kommunaler Betriebe, Bauplanungen am Fluss, die hohe Profite versprechen, eine Polizei, die alle nazistischen Vorkommnisse wegverharmlosen will: das ist Gegenwartsgeschichte von unten erzählt, das ist – man denke an die NSU – von geradezu prophetischer Qualität, das ist im besten Sinne spannend, im besten Sinne aufklärerisch, im besten Sinne engagiert.
 
Und immer wieder auch voller Poesie. Bittner bleibt der eigenen Heimatregion, in der er einmal aufwuchs, diesem Norddeutschland nahe an der Küste, atmosphärisch nichts schuldig:
           
„’Es wird bald Winter’, dachte er und hob den Blick, als er die Rufe ziehender
Vögel hörte. In großer Höhe zog ein Keil Kraniche, die sich auf dem Weg nach
Süden befanden, einen weiten Kreis. Da erfasste ihn eine unbändige Freude. Er
breitete die Arme aus und rief ihnen zu: ‚Fliegt nur, ihr Venusvögel! Ihr braucht nicht zu warten, ich bleibe!“
 
Er bleibt, dieser Martin Heller, auch deshalb, weil er es schafft, den Kleinstadtherren das Handwerk zu legen, dank seiner journalistischen Arbeit und mithilfe zahlreicher Freunde, unter denen auch manche neue Freunde sind. Utopie? – Mag sein. Aber „Utopie“, die ganz realitätsnah erzählt wird, „Utopie“, die aufs plausibelste zwei Prämissen schildert, die zur Realisierung von „Utopie“ erforderlich sind: den Einzelnen, der sich nicht bestechen läßt, und die anderen, die ihm beistehen. Ernst Bloch hat das, am Ende seines „Prinzip Hoffnung“, „Heimat“ genannt: jenen Ort, wo man geboren wurde, jenen Ort, an den der Martin Heller dieser Geschichte am Ende zurückgekehrt ist. Bittner erzählt das vollkommen unpathetisch, gleichwohl höchst eindringlich. Und so ist sein Roman nicht zuletzt das: ein Buch, das uns in die Wirklichkeit entführt, ein Buch für lange Winterabende, wenn draußen der Frost klirrt und nicht nur diese Kälte uns zu schaffen macht. (PK) 
 
Wolfgang Bittner: Hellers allmähliche Heimkehr. Roman. VAT Mainz 2012, Hardcover mit Lesebändchen, 245 Seiten, 19,90 Euro


Online-Flyer Nr. 441  vom 15.01.2014

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