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Das „Wissen der Menschheit“ zwischen Naivität und Fälschung
Wie Wikipedia die Wahrheitsfrage ausblendet
Von Werner Rügemer
95 Prozent aller Abiturienten und Studenten nutzen Wikipedia, bei Journalisten dürften es mindestens fünf Prozent mehr sein. „Normalbürger“ freuen sich über das schnell konsultierbare, kostenlose Lexikon. So wurde Wikipedia zu einem wichtigen Akteur dessen, was heute Öffentlichkeit heißt: Die Tatsache, nach den Weltmarktführern Facebook und Google schon an 7. Stelle der am häufigsten genutzten Internetportale zu stehen, gilt als Beweis von Wichtigkeit.
Online-Flyer Nr. 452 vom 02.04.2014
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Das „Wissen der Menschheit“ zwischen Naivität und Fälschung
Wie Wikipedia die Wahrheitsfrage ausblendet
Von Werner Rügemer
„Die größte Enzyklopädie der Menschheit“, „das größte kollaborative Projekt der Menschheit“: so lobt sich Wikipedia selbst. Der Erfolg scheint dem recht zu geben: Erst 2001 gegründet, umfasst Wikipedia gegenwärtig 27 Millionen Artikel in 285 Sprachen. Neben der Zentrale in San Francisco bestehen heute 39 nationale Sektionen; die zweitgrößte Sektion mit dem deutschen wikipedia, 2004 gegründet, umfasst gegenwärtig 1,7 Millionen Artikel, wächst um 500 Artikel pro Tag und wird pro Monat 490 Millionen mal angeklickt.
Die bekannten Nachschlagewerke wie der Brockhaus und die Enzyclopedia Britannica, aber auch das Microsoft-Lexikon (auf CD) werden nicht mehr aufgelegt: ausrangiert durch Wikipedia.
Die traditionellen Universitäten haben Wissenschaft weitgehend durch staatliche und noch mehr private Interessen pervertiert, einer teilweise käuflichen, teilweise belanglosen Elite ausgeliefert. Wikipedia versteht sich dagegen als Agentur des „freien Wissens“: Jeder könne sein Wissen einbringen und Artikel schreiben. Basisorientierte Schwarmintelligenz ist ein schöner Gegen-Traum. So arbeiten zehntausende Studenten, Wissenschaftler und andere freiwillig, freudig und kostenlos mit. Der Untergang von Brockhaus & Konsorten braucht nicht bedauert zu werden.
Spielball der Public Relations-Industrie
Doch die naive Basisdemokratie ist ein Spielball der PR-Industrie. „Public Relations und Manipulation sind in Wikipedia allgegenwärtig“, heißt es in einer gut recherchierten Studie. (1) Unter unscheinbaren Pseudonymen ließ Daimler den Einsatz von Zwangsarbeitern während des Faschismus ebenso löschen wie die Abordnung eines Leihmanagers ins Bundesverkehrsministerium, als der Vertrag über die LkW-Maut (Toll Collect) behandelt wurde. So verschiedene Akteure wie BMW, Ebay, Dell, der CIA, der Vatikan manipulierten Einträge. Von einer IP-Adresse im RWE-Konzern wurden Angaben zu Störfällen im AKW Biblis entschärft. CDU und SPD verschönten ihre Einträge, das FDP-Plappermaul Christian Lindner ließ über eine IP-Adresse im Düsseldorfer Landtag seinen Eintrag 40 mal ändern.
Wikipedia eröffnet für PR-Agenturen ein dauerhaftes Geschäftsfeld. So gründete der CDU-Politiker Wolfgang Stock die Plattform „wiki-watch“, die kritisch die Transparenz in Wikipedia überprüfen will. Gleichzeitig betrieb er die PR-Firma Convincet, die die Video-Auftritte der Kanzlerin Angela Merkel betreut. Unter dem Autorennamen wsto änderte er Einträge über den Pharmakonzern Sanofi-Aventis.
Die Schwarmintelligenz wird zudem autoritär geführt. Der Verein Wikimedia betreibt das deutsche Wikipedia. Der Vorstand besteht aus einer Person: Pavel Richter. Er wird mit 90.000 Euro Jahresgehalt und erfolgsabhängigen Boni bezahlt. 76,9 Prozent der Autoren des deutschen Wiki haben seit ihrer Anmeldung höchstens 9 mal etwas in einen Artikel eingefügt. Dagegen hat Wikimedia-Mitbegründer Achim Raschka bisher 78.000 Bearbeitungen vorgenommen. Damit hat er auch gut verdient: Das Ministerium für Verbraucherschutz förderte das Wiki-Projekt „Nachwachsende Rohstoffe“ (318 Einträge) mit 234.000 Euro. Der pseudonyme Autor 7Pinguine, der von einer IP-Adresse des Leibinger-Konzerns arbeitet, hat es seit 2007 auf 15.000 Bearbeitungen geschafft, mit Manipulationen zugunsten von Nestlé und der FDP. Auf Nachfragen wegen der Manipulationen gibt Wikimedia keine Antwort.
Das Vorherrschende ist „neutral“
Die vorgegebene Haltung der Autoren ist ebenfalls autoritär. Die Einträge stellen in der Regel erstmal die offizielle Version von Staaten, Unternehmen, Parteien, Organisationen, Finanzprodukten, Medikamenten usw. dar. Dann folgt an hinterer Stelle der gesonderte Abschnitt „Kritik“. Die beschränkt sich meist auf das, was in großen Medien veröffentlicht wurde. Eine Bewertung der Kritik findet in der Regel nicht statt, sie steht als pseudodemokratische Pflichtübung neben der offiziellen Version. Die Wikipedia-Eintragung „Kritik an Wikipedia“, vorformuliert durch die Zentrale in den USA, zitiert zahlreiche Kritiken, argumentiert aber nicht dagegen.
Das wesentliche Kriterium für das Verfassen von Wiki-Texten ist „Neutralität“ (Neutral Point of View, NPOV). Bisher einzige Ausschlusskriterien sind Scientology und nach Aussage des Wikipedia-Gründers Jimmy Wales der „gute Geschmack“. Der Welt-Vorstand in den USA konnte sich nicht durchringen, Pornografie als Ausschlußkriterium hinzu zu fügen. Als Alternative schlägt der Informatikprofessor Clemens Cap vor: Statt NPOV soll gelten EPOV = Every Point of View. So soll erstmal jede irgendwie erstellte Textfassung gelten; durch einen Zustimmungsfilter soll dann die beliebteste Fassung herausgefiltert werden. Beliebigkeit ist eine Variante der Neutralität.
Man muß nur etwas genauer hinsehen, um zu entdecken: Das, was als „neutral“ gilt, ist die offizielle Selbstdarstellung eines Konzerns, eine Organisation, eines Staates, eines Mediums, eines Wissenschaftlers. Insbesondere Aussagen von Behörden gelten als grundsätzlich neutral. Allerdings werden linke Organisationen von vornherein kritisch dargestellt. Bücher und andere Veröffentlichungen aus Verlagen, die als „links“ beurteilt werden, gelten als nicht neutral. Bücher und andere Veröffentlichungen aus Wirtschafts- und konservativen Verlagen gelten dagegen als neutral.
Die Autoren arbeiten unter Pseudonym. Aber: Jedes Wissen, zumal wenn es im Horizont der Wahrheit entwickelt wird, bedeutet ein persönliches Risiko. Die kollektive Anonymität in Wikipedia bildet die Feigheit und Heimlichtuerei ab, die im gegenwärtigen Kapitalismus herrschen: Die Privateigentümer verstecken sich mit gleichgerichteter Schwarmintelligenz in der okkulten Parallelwelt der Finanzoasen, in Millionen von Briefkastenfirmen mit anonymen Fantasienamen.
Wem gehört Wikipedia?
Und dann stellen wir mal die einfache Frage: Wem gehört Wikipedia? Die „freie Enzyklopädie“ liegt in den Händen des Privatkapitals. Beim deutschen Trägerverein mit immerhin 47 hauptamtlich Beschäftigten hört sich das noch harmlos an: Er wird durch Spenden finanziert. Das Präsidiumsmitglied Robin Tech promoviert am Institut für Internet und Gesellschaft an der Berliner Humboldt-Universität: Google finanziert das Institut mit 4,5 Millionen Euro jährlich. Wikimedia muß einen Teil der Spenden an das Zentralkomitee abliefern, an die Wikipedia Foundation in den USA. Dort liegen die Rechte an allen Wiki-Artikeln weltweit. Selbst wenn durch ein deutsches Gericht Artikel gesperrt werden sollen, hat dies keine Wirkung.
Wikipedia Foundation Inc. beschäftigt 142 Angestellte und hat gegenwärtig knapp 50 Millionen US-$ Einnahmen jährlich. Die Hauptfinanziers (major benefactors) des weltweiten „freien Wissens“ sind Unternehmens-Stiftungen: Stanton-Stiftung (Frank Stanton, TV-Unternehmer, der das erste TV-Duell der US-Präsidentschaftskandidaten organisierte), Sloan-Stiftung (Alfred Sloan, Ex-Chef von General Motors, der gut mit Hitler konnte), Arcadia-Stiftung (Erbin des Tetrapak-Konzerns), die Stiftung der Google-Gründer Sergey Brin und Anne Wojciki, Graig-Stiftung (Internet-Unternehmer), Knight-Stiftung (Zeitungskonzern) und das Scheichtum Katar. In der nächsten Spender-Kategorie „Patrons“ – Spenden bis 50.000 US-$ - finden sich u.a. Apple, Goldman Sachs, Google, Microsoft. Unter den kleineren Spendern sind American Express, Boeing, Chevron, Deutsche Bank, Bill und Melinda Gates, General Electric, IBM, Tikvah, Yahoo und weitere 200 namentlich genannte und 192 anonyme Unternehmer bzw. deren Stiftungen.
Die notwendige Enzyklopädie
„Wiki“ bedeutet „schnell“. Wikipedia organisiert und repräsentiert das heute vorherrschende Quickie-Wissen. Schnell, aktualistisch, am Zipfel von Macht und Geld. Das heute vorherrschende Wissen besteht aus Desinformation, so „richtig“ es in zahllosen Einzelheiten auch sein mag. In der herrschenden Kultur des „Westens“ ist auf der Vorderseite der Wahrheitsbegriff abgeschafft. Auf der Rückseite aber steht die kapitalistische, fundamentalistische Selbsterklärung als einzige Wahrheit, verkleidet als „Neutralität“.
Man kann Wikipedia wie den Brockhaus nutzen als erste Orientierung: Geburtsjahr einer Person, Gründungsjahr eines Staates, Bedeutung von Abkürzungen, chemische Formel, Literaturangaben und ähnliches. Das Problem ist aber, dass sich in der Wirklichkeit, insbesondere in Klassengesellschaften wie dem gegenwärtigen Kapitalismus, unvereinbare Wissens-Interessen und Wissensproduktionen gegenüberstehen. Wikipedia verdrängt diese Tatsache. Es will „neutral“ bleiben und ist doch unter der Hand und auch offen tendenziös. Wikipedia will ohne die Wahrheits- und die damit verbundene Machtfrage auskommen.
Für die Selbsterkenntnis der Menschheit und für die Erkenntnis der Bedingungen des besten Überlebenswegs ist ein strukturiertes Gesamtwissen nötig. Es entsteht ebenso streitig wie kooperativ, aber nicht anonym.
Eine heutige Enzyklopädie auf der Höhe der Zeit bleibt noch eine Aufgabe. Aber nicht als Aufgabe des führenden, destruktiven, lügenden Kapitals. Und nicht als Aufgabe der mit den Mächtigen komplizenhaft verbundenen Staaten. Die heutige Enzyklopädie ist die Aufgabe von Menschen, die die Freiheit lieben, die für alle möglich ist und die in eine bessere Zukunft verweist. Das war übrigens schon immer so, zum Beispiel bei der Enzyklopädie der Aufklärung von Denis Diderot & Genossen. (PK)
(1) Marvin Oppong: "Verdeckte PR in Wikipedia. Das Weltwissen im Visier von Unternehmen", Otto Brenner-Stiftung, Frankfurt/Main 2014.
Von Werner Rügemer haben wir in den vorangegangenen drei NRhZ-Ausgaben den Dreiteiler „In betenden Händen ist die Waffe vor Missbrauch sicher - Unheiligsprechung von Kardinal Meisner" veröffentlicht. Den darin erwähnten erwähnten Briefwechsel des Autors mit dem ehemaligen Kölner Kardinal und weiteres zum Kölner Erzbistum finden Sie auch in der NRhZ-Ausgabe 431 vom 6.11.2013 unter http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=19629
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