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Inland
Gemeinsame westliche Ziele: Schwächung Irans und Sturz Bashar al Assads
Berliner Prioritäten
Von Hans Georg

Die deutsche Kanzlerin erhebt schwere Vorwürfe gegen die Türkei. Man müsse "von einem Nato-Land erwarten dürfen", dass es "seine Prioritäten richtig setze" und dem Kampf gegen den IS endlich Vorrang einräume, sagte Angela Merkel am Mittwoch vergangener Woche mit Blick auf die katastrophale Lage in der nordsyrischen Grenzstadt Kobane. Ankara verweigert den syrisch-kurdischen Kämpfern, die die Stadt gegen den Ansturm der Terrortruppe "Islamischer Staat" ("IS") zu verteidigen suchen, jegliche Unterstützung; Beobachter mutmaßen, eine Eroberung Kobanes durch den IS komme der türkischen Regierung aus geostrategischen Motiven womöglich sogar recht.

Karikatur: Kostas Koufogiorgos
Karikatur: Kostas Koufogiorgos
www.koufogiorgos.de

 
Merkels Vorwürfe gegen Ankara sind erstaunlich - nicht nur, weil der Bundesnachrichtendienst (BND) die Türkei seit langem systematisch ausspioniert und Berlin daher Kenntnis von der türkischen Unterstützung für den IS gehabt haben muss, ohne Einwände zu erheben. Auch gegen Maßnahmen, die von den USA und Saudi-Arabien im Libanon und in Syrien aus strategischen Gründen ergriffen wurden, ist Berlin nicht eingeschritten, obwohl sie ebenfalls dem IS oder salafistischen Milizen, die ihn heute unterstützen, zugute kamen. Experten warnen, das Erstarken des IS sei kurzfristig nicht mehr zu stoppen; im türkischen Grenzgebiet zu Syrien könne sich bald sogar eine Entwicklung vollziehen wie einst im pakistanischen Grenzgebiet zu Afghanistan.
 
Keine Hilfe für Kobane
 
Die Bundeskanzlerin erhebt schwere Vorwürfe gegen die Türkei. Dass die türkische Regierung den syrisch-kurdischen Kämpfern in der nordsyrischen Stadt Kobane keinerlei Hilfe leiste, sei falsch, äußerte Merkel am letzten Mittwoch bei einer Sitzung des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag. Die Kanzlerin wird mit der Aussage zitiert, "eigentlich müsse man von einem Nato-Land erwarten dürfen, dass es seine Prioritäten richtig setze und dass der Kampf gegen den IS-Terror Priorität für Ankara habe".[1] In der Tat hält sich die Türkei, die nie Bedenken hatte, Militärschläge gegen die PKK auch jenseits ihrer Grenzen zu führen, aus dem aktuellen Kampf um das unmittelbar jenseits der Grenze gelegene Kobane vollständig heraus. Präsident Recep Tayyip Erdoğan erklärt: "So, wie die Türkei gegen die Terrororganisation Isis (IS) ist, so ist sie auch gegen die Terrororganisation PKK."[2] Die syrisch-kurdische PYD, die Kobane verteidigt, steht der PKK nahe. Tatsächlich stehen hinter der Weigerung Ankaras, dem Druck des Westens nachzugeben und zur Verteidigung von Kobane gegen die Terrortruppe "Islamischer Staat" ("IS") beizutragen, vor allem geostrategische Pläne, Teile Nordsyriens unter türkische Kontrolle zu bekommen (german-foreign-policy.com berichtete [3]).
 
Genaue Kenntnisse
 
Merkels Vorwürfe gegenüber der Türkei sind erstaunlich - denn die Bundesregierung muss selbst schon lange bestens über Ankaras Unterstützung für salafistische Milizen und mutmaßlich auch für den IS in Syrien informiert gewesen sein. Das ergibt sich nicht nur daraus, dass die deutschen Inlandsgeheimdienste (Bundesamt und Landesämter für Verfassungsschutz) bereits 2013 davon Kenntnis hatten, dass deutsche Salafisten, die sich dem IS anschlossen - inzwischen handelt es um mindestens 400 Personen -, ihre Einreise nach Syrien gewöhnlich über die Türkei vollzogen. Wieso es nicht möglich war, sie zu stoppen, ist unklar; Beobachter fragen mittlerweile, ob es vielleicht opportun schien, hierzulande missliebige Salafisten in den Kampf gegen die hierzulande ebenfalls missliebige Assad-Regierung ziehen zu lassen - jedenfalls, bis der IS sich gegen westliche Interessen wandte und daher selbst zum Kriegsgegner erklärt wurde. Abgesehen davon ist es nicht wirklich nachvollziehbar, dass der Bundesnachrichtendienst (BND) bei seiner vor kurzem bekannt gewordenen umfassenden Spionage in der Türkei nichts von der systematischen Anwerbung von IS-Kämpfern in dem Land, von der Einfuhr vom IS geförderten Erdöls oder von der Behandlung von IS-Milizionären in türkischen Krankenhäusern erfahren haben soll.[4] Hätten die deutschen Prioritäten damals dort gelegen, wo Merkel die türkischen Prioritäten heute wünscht - nämlich beim Kampf gegen den IS -, dann hätte die erstarkende Terrortruppe eventuell gestoppt werden können.
 
"Sehr hohes Risiko"
 
Ohnehin basiert der Erfolg des IS auf einer langfristigen Förderung salafistischer Organisationen in Nah- und Mittelost, die vom Westen aus geostrategischen Motiven gebilligt wurde und auch unter den Augen deutscher Stellen geschah. Hintergrund war der Versuch, Iran zu schwächen - und zwar dadurch, dass man in allen Staaten des Nahen und Mittleren Ostens, in denen Teheran Verbündete hatte, diese attackierte oder durch dritte Kräfte attackieren ließ, um Iran zu isolieren. Bei dessen Verbündeten handelte es sich beispielsweise um die Hizbullah im Libanon, die keineswegs nur politisch unter Druck gesetzt wurde; darüber hinaus finanzierten etwa die USA mit Hilfe Saudi-Arabiens salafistische Gruppen im Libanon, die als die schärfsten Feinde der schiitischen Hizbullah gelten. Ein Regierungsmitarbeiter in Beirut räumte gegenüber dem US-Journalisten Seymour Hersh schon im Jahr 2007 ein, man erlaube sogar Al Qaida nahestehenden Organisationen, "hier eine Präsenz zu unterhalten".[5] Ein ehemaliger US-Geheimdienstler beklagte sich im Gespräch mit Hersh: "Wir finanzieren eine Menge üble Typen, und das mit möglicherweise ernsten unbeabsichtigten Konsequenzen. Das ist ein Unternehmen mit sehr hohem Risiko." Ab spätestens 2012 unterstützten nordlibanesische Salafisten - ihrerseits über die Jahre durch westlich-saudische Hilfen gestärkt - auch Aufständische im syrischen Bürgerkrieg; bis zu 900 von ihnen sollen sich dabei dem IS angeschlossen haben. Dass Berlin über die Förderung der libanesischen Salafisten durch seinen Partner USA und seinen mittelöstlichen Verbündeten Saudi-Arabien nicht im Bilde gewesen sein soll, muss als umso unwahrscheinlicher gelten, weil seit 2006 die Bundeswehr im Libanon operiert - wohl kaum ohne geheimdienstliche Begleitung. Öffentlich berichtet wurde über die Vorgänge jedenfalls bereits im März 2007. Die gemeinsamen westlichen Prioritäten lagen damals allerdings in der Schwächung Irans.
 
Der Bandar-Plan
 
Kaum vorstellbar ist auch, dass Berlin nichts von dem "Bandar-Plan" mitbekommen haben soll, mit dem insbesondere die USA in Kooperation mit Saudi-Arabien Bashar al Assads Sturz beschleunigen wollten. Der Plan, benannt nach dem saudischen Geheimdienstchef (2012 bis 2014) Prinz Bandar bin Sultan, umfasste dem Tel Aviver "Institute for National Security Studies" zufolge drei Elemente: Saudi-Arabien sollte in Syrien neue aufständische Milizen gründen, außerdem bereits bestehende, mit Al Qaida kooperierende Gruppen mit Agenten und Kämpfern infiltrieren, um sie zu steuern - dabei kommen der Sache nach vor allem die Al Nusra-Front und der IS in Frage; drittens sollten jihadistische Vereinigungen, die sich nicht infiltrieren ließen, mit anderen Mitteln gesteuert werden. Das "Institute for National Security Studies" kommt zu dem Schluss, dass bei der Umsetzung des "Bandar-Plans" auch der IS Geld, Training und religiöse Unterstützung aus Saudi-Arabien erhielt - wenngleich womöglich offiziell nicht vom saudischen Staat, sondern von "Privatfinanziers".[6] Der Bandar-Plan wurde gestoppt, als der IS aus dem Ruder zu laufen und sich gegen westliche Interessen zu wenden begann. Hätten Berlins Prioritäten nicht darin bestanden, mit Saudi-Arabien eng zu kooperieren - bis hin zu massiver Aufrüstung - und den Bandar-Plan zu tolerieren, dann wären Merkels aktuelle Vorwürfe gegen die Türkei womöglich etwas glaubwürdiger.
 
Eine Illusion
 
Fachleute warnen unterdessen, der IS, der längst mehrere Grenzübergänge zur Türkei kontrolliert, könne sich auch auf türkischem Territorium festsetzen - ganz wie einst salafistische Milizionäre aus Afghanistan in Pakistan. Es sei "eine Illusion zu glauben, der Terror des 'Islamischen Staats' mache an der Grenze zur Türkei halt", warnt der Nah- und Mittelost-Experte Rainer Hermann: "Pakistan hatte das auch geglaubt, als es in Afghanistan die Taliban unterstützte." Die Terroristen könnten etwa "unter den syrischen Flüchtlingen Krieger rekrutieren" und "den konfessionellen Konflikt ... in die Türkei tragen" - nach dem Vorbild der afghanischen Mujahedin.[7] Die Folge wäre eine weitere Entgrenzung des aktuellen Krieges, der seine Ursache in der Zerstörung ganzer Staaten im Nahen und Mittleren Osten durch den Westen hat.[8]
 
Weitere Informationen zum Krieg gegen den IS finden Sie hier: Vom Westen befreit, Von Kurdistan nach Alawitestan, Das Ende einer Epoche (I), Waffen für die Peschmerga, Das Ende einer Epoche (II), Öl ins Feuer, Der zwanzigjährige Krieg und Ein verzweifelter Abwehrkampf. (PK)
 
[1] Merkel wirft der Türkei Untätigkeit vor. www.faz.net 08.10.2014.
[2] Erdogan erwartet Sieg des IS in Kobane. www.faz.net 07.10.2014.
[3] S. dazu Ein verzweifelter Abwehrkampf.
[4] S. dazu Öl ins Feuer.
[5] Seymour M. Hersh: The Redirection. The New Yorker 05.03.2007.
[6] Udi Dekel, Orit Perlov: The Saudi Arabia and Kuwait "Outposts Project": Al-Qaeda and Its Affiliates. The Institute for National Security Studies, INSS Insight No. 517, 16.02.2014.
[7] Rainer Hermann: Gefährliches Spiel. Frankfurter Allgemeine Zeitung 08.10.2014.
[8] S. dazu Vom Westen befreit.
 
 
Diesen Artikel haben wir mit Dank von gfp übernommen. http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58968
 
 


Online-Flyer Nr. 480  vom 15.10.2014

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