In den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelten in Europa und Amerika Choreographen, Videokünstler, Regisseure, Kameraleute und Komponisten - oft in Kooperation - eine neue Kunstform, den „Video Dance“ (Video-Tanz). Losgelöst von der Theaterbühne, der Straße oder anderen konkreten Schauplätzen entwickelt der Tanz eine ganz neue Dynamik. Nicht die Live-Performance sondern das Zusammenspiel von bewegten Bildern und bewegten Körpern macht den besonderen Reiz aus. Die Choreographien werden für das Medium Video bzw. Film entwickelt. Die technischen Möglichkeiten der Kamera und des Film- bzw. Videoschnitts werden herausgefordert. Oftmals wird die Musik erst im Nachhinein zum fertigen Videoschnitt komponiert. Ein Video-Tanz kann nur auf einem Bildschirm oder als Projektion auf einer Leinwand betrachtet werden.
Für diese Kunstform war natürlich zunächst das Fernsehen die ideale Präsentationsplattform. Und so entwickelten sich europaweit spezielle Festivals, die Fernsehmacher und Video-Tanz-Künstler zusammenbrachten. Auf diese Weise entdeckten auch Rea Karen und ich, eingefleischte Dokumentarfilmer, dieses Kunstgenre und waren sofort hellauf begeistert. 1988 war in Köln das „unabhängige Fernsehfenster KANAL 4“ gegründet worden, das Peter Kleinert und eine Gruppe von NRW-Dokumentarfilmern bei der Landesregierung im Zusammenhang mit der Zulassung der Privatsender RTL und Sat1 durchgesetzt hatten. Die Kollegen hatten sich auf das kurze Zeit vorher geänderte Landesrundfunkgesetz berufen, laut dem Privatsender nur dann eine Lizenz in NRW erhalten sollten, wenn sie „die Kultur des Landes angemessen darstellen“ würden. Da dies aufgrund aller Erfahrungen in den CDU-regierten Ländern nicht der Fall war, drohten die Dokumentarfilmer der SPD-Regierung Rau mit einer Klage beim Landesverfassungsgericht und setzten so die Genehmigung eines wöchentlichen unzensierten TV-Programms durch.
Eine „Video-Tanz-Reihe“ passte da genau ins Konzept. Auf den internationalen Festivals trafen wir Künstler aus Finnland, Portugal, Frankreich, Italien, Slowenien, Tschechien und Kroatien. Später kamen noch Produzenten und Künstler aus anderen Ländern hinzu. Wir alle hatten gute Ideen aber herzlich wenig Geld. Und so entwickelten wir den „European Video Dance“ als europäisches Fernseh-Austauschprojekt. Wir verständigten uns auf Form und Länge, produzierten unsere Videos entsprechend und tauschten dann ohne Geld unsere fertigen Programme einfach untereinander aus. In einigen Fällen kam es zu länderübergreifender Zusammenarbeit bis hin zu Co-Produktionen. Auf diese Weise potenzierten alle Beteiligten ihre finanziellen Kräfte um das Achtfache. Es entstanden wunderbare Video-Tänze mit ganz unterschiedlichen Geschichten und Formen. Viele von ihnen erzielten hohe internationale Auszeichnungen.
KANAL 4 hat diese Kunstform bis Mitte der 90er Jahre begleitet und mit vier Sendereihen gewürdigt. In ihren nächsten Ausgaben wird die NRhZ noch einmal an den „European Video Dance“ erinnern und jeweils ein Video in Ausschnitten vorstellen.
Folge 1: Metanoia
Gut und Böse, Himmel und Hölle, Erlösung und Verdammnis, waren die zentralen Themen für den christlichen Maler Hieronymus Bosch (1450 bis 1516). Cave cave deus videt (Hüte dich, hüte dich, Gott sieht) schrieb er auf sein Tischgemälde „Die Sieben Todsünden“ und rief damit zur Metanoia (Läuterung und Umkehr) auf. Rund fünfhundert Jahre später stellt sich der brasilianisch-portugiesische Choreograph und Tänzer, Mario Calixto, der im Geiste der katholischen Kirche erzogen wurde, ähnlichen Lebensfragen. Er entwirft zusammen mit den deutschen Filmemachern Rea Karen und Gernot Steinweg eine getanzte Hommage an den surrealistisch anmutenden Maler des ausgehenden Mittelalters.
Der Harlekin bekommt eine göttliche Botschaft und überbringt sie dem im Fegefeuer schmorenden Teufel. Dieser tut Buße und verwandelt sich in den schönen und schöpferischen Luzifer. Als solcher baut er eine Kirche, zieht Menschen hinein und führt sie zum christlichen Abendmahl. Doch all seine Versuche, sich zu läutern und Gott zu nähern, werden durch Gier, Wollust, Völlerei, Neid, Trägheit und Hochmut zum Scheitern gebracht. Voller Zorn reißt er den Menschen die Masken vom Gesicht - doch nur um zu merken, dass er immer selber darunter steckt. Verzweifelt kehrt er in die Hölle zurück. Die versöhnende Geste des Harlekins schließt ihn und seine Hölle in den „Garten Eden“ (Triptychon „Garten der Lüste“) mit ein. (PK)
Dieser Videotanz wurde an Schauplätzen in den NRW-Landkreisen Lippe und Herford gedreht und in Finnland geschnitten. Video, Farbe, 20 Minuten
Choreographie und Tanz: Mario Calixto, als Teufel, Harlekin und Luzifer