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Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

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Literatur
„Krisenkiller. Chancen einer klugen Wirtschaftspolitik“ von Andreas Oppacher
Europa am Scheideweg
Dr. Winfried Backes

„Griechenland ist auf einem guten Weg.“ „Nur Strukturreformen helfen den Krisenstaaten wieder auf die Beine.“ „Deutschland ist die Konjunkturlokomotive Europas.“ „Die staatliche Rente ist nicht mehr sicher!“ „Die Globalisierung erzwingt niedrigere Löhne und längere Arbeitszeiten.“ „Der Staat muss sich in der heutigen Zeit beschränken!“

Aussagen wie diese müssen den Wirt- schaftswissenschaftler Andreas Oppacher dazu bewogen haben, dieses Buch zu schreiben. Ziel ist es, mit all den Mythen der Ökonomie aufzuräumen, die in Politik und Medien über viele Jahre hinweg derart sorgsam gehegt und gepflegt wurden, dass sie heute wie Binsenweisheiten daherkommen. Der Autor lädt dazu ein, die bestehenden Verhältnisse gründlich zu hinterfragen und präsentiert hierfür eine große Bandbreite an Themen.
 
Bei der Lektüre des ersten Teils, der sich mit der Krise in Europa befasst, dürfte die meisten Leser ein flaues Gefühl der Fassungslosigkeit beschleichen. Demnach wurde in den letzten Jahren nahezu alles falsch gemacht, was sich überhaupt nur falsch machen ließ. Das beginnt laut Autor bereits bei den allseits bekannten Verschuldungsgrenzen des Maastrichter Vertrags, die den Euro zusammenhalten sollen. Diese seien nicht nur unter abenteuerlichen Bedingungen entstanden und wissenschaftlich unfundiert, sondern sie seien auch „vollkommen wirkungslos“ (S. 20). Vielmehr komme es auf eine ausgewogene Lohnpolitik an, denn nur so könne der Außenhandel im Gleichgewicht gehalten werden.
 
Genau diesem entscheidenden Punkt wurde seit der Euro-Einführung viel zu wenig Beachtung geschenkt, so der Autor. Vor allem das zwei Jahrzehnte währende Lohndumping in Deutschland, das immer neue Rekorde im Warenexport mit sich brachte, zwang andere Euroländer mehr und mehr in die Knie. Die Konsequenz waren riesige Importüberschüsse und damit gewaltige Außenhandelsschulden. Andreas Oppacher sieht genau darin die eigentliche Ursache der Krise im Euroraum. Die Problematik der Staatsverschuldung hält er dagegen für überschätzt, sei sie doch vor allem die Folge der Krise.  
 
Wenn Staaten in kürzester Zeit schwindelerregende Milliardenbeträge in ihre maroden Banken pumpten, um sie vor dem selbst verschuldeten Kollaps zu bewahren, dann sei eine schnell steigende öffentliche Verschuldung nichts anderes als die einzig denkbare Konsequenz. Ein gutes Beispiel dafür liefere Spanien, das vor der Krise noch eines der am wenigsten verschuldeten Industrieländer der Welt gewesen sei. Dann wunderte man sich auch noch kollektiv darüber, dass in kaputtgesparten Volkswirtschaften mit sinkenden Löhnen, Renten und Sozialausgaben die Staatseinnahmen einbrachen und die Schulden am Ende erst recht wuchsen.
 
Ist das wirklich so schwer zu verstehen? Das ist die Frage, die man sich als aufmerksamer Leser immer wieder stellt. Für manche ist es das anscheinend, denn der von oben verordnete Sparzwang wird den Bürgern Europas bis heute als alternativlos verkauft. Nicht einmal das Eingeständnis des IWF, den wirtschaftlichen Einbruch vor allem in Griechenland um ein Vielfaches unterschätzt zu haben, änderte daran etwas. Scheinbar soll der einmal eingeschlagene Weg unter keinen Umständen wieder verlassen werden und das vollkommen erfolgsunabhängig.
 
Andreas Oppacher fordert ein schnelles Ende der Austeritätspolitik und einen staatlichen Investitionsschub für Südeuropa. Nur so sei die grundlos zerstörte Konjunktur dort wiederzubeleben und die horrende Arbeitslosigkeit und Armut zu bekämpfen. Ein Irrweg sei dagegen die Strategie der Europäischen Zentralbank, massenhaft Wertpapiere und Staatsanleihen aufzukaufen, sowie Billigkredite an den Finanzsektor zu vergeben. Diese Maßnahmen führten weder zu nennenswerten Investitionen, noch schützten sie vor einem Abgleiten in die Deflation. Sie nützten einmal mehr allein den Banken und erhöhten nur die Haftungsrisiken aller Steuerzahler. Stattdessen spricht sich der Autor für das aus, was in den europäischen Institutionen und auf Seiten der Bundesregierung bislang als undenkbar gilt. Gemeint sind günstige Direktkredite der EZB an die krisengeplagten Staaten. So ließe sich „ein effektives Investitionsprogramm sinnvoll finanzieren“ (S. 53).
 
Das alles nütze jedoch langfristig nichts, wenn nicht auch die Lohnpolitik in Deutschland auf den Kopf gestellt werde. Das bedeutet hohe Lohnabschlüsse in den nächsten 10 bis 15 Jahren, wie es sie seit dem Wirtschaftswunder nicht mehr gegeben hat. Bei einem „Weiter so“ ist für den Autor nicht nur ein Ende des Euro unvermeidlich, sondern er befürchtet sogar, dass der gesamte Einigungsprozess der vergangenen Jahrzehnte und der europäische Gedanke als Ganzes in ernsthafte Gefahr geraten. Auf Deutschland bezogen sei bei einem Ende des Euro aufgrund der hohen Exportabhängigkeit mit extremen wirtschaftlichen und sozialen Folgen zu rechnen, ganz zu Schweigen von einem Rückfall in die Kleinstaaterei.
 
Alternativ zu Lohnsteigerungen von etwa 5% jährlich (bei einer Teuerungsrate von 2%) biete sich eine einzigartige Gelegenheit für eine umfassende Arbeitszeitverkürzung in Deutschland. Andreas Oppacher empfiehlt deshalb die schrittweise Einführung einer 30-Stundenwoche innerhalb von etwa 10 Jahren und erkennt darin die einzig realistische Möglichkeit, um jemals wieder zur Vollbeschäftigung zurückkehren zu können. Der Autor verweist auf den historisch einmaligen Verteilungsspielraum, der sogar auch noch moderat steigende Monatsgehälter erlaube. Dazu heißt es im Text auf Seite 76: „Wenn das Thema erst wieder in 20 Jahren auf die politische Agenda kommt, wird eine Arbeitszeitverkürzung viel schwieriger zu realisieren sein, weil dann nur noch der Produktivitätszuwachs verteilt werden kann. Gerade für die großen Aufgaben der Zukunft, vor allem in Bezug auf den demographischen Wandel und den ökologischen Umbau unserer Volkswirtschaft wäre ein Abbau der Arbeitslosigkeit enorm wichtig.“
 
Da auch diese Rezension einmal enden soll, ist es leider unmöglich, auch noch all die anderen interessanten Themen des Buches eingehend zu behandeln. Nach den bisherigen Schilderungen befinden wir uns nämlich erst auf Seite 80. Es folgt ein ausführlicher Deutschland-Teil mit Empfehlungen, wie sich der Arbeitsmarkt von Grund auf modernisieren lässt und zwar vor allem im Sinne der viel zu lange missachteten Interessen der Arbeitnehmer.
 
Sehr lesenswert sind auch die Ausführungen zum demographischen Wandel. Die Botschaft lautet: Die Alterung der Gesellschaft lässt sich gut bewältigen, solange nur die wirtschaftliche Entwicklung künftig gut verläuft. Der Autor weist nach, dass unter dieser Voraussetzung sogar deutlich bessere Renten als heute möglich sein werden und darüber hinaus eine gute Gesundheitsversorgung und eine bedarfsgerechte Pflege der vielen Senioren. Dieser Punkt sei von weitaus größerer Bedeutung als die Frage, wie sich das Verhältnis der Beitragszahler zu den Leistungsempfängern in den kommenden Jahrzehnten nun genau verschieben wird. Sollte Europa jedoch in einer langjährigen wirtschaftlichen Stagnation versinken, werde der demographische Wandel tatsächlich zu einem gravierenden sozialen Problem.
 
Der dritte Teil des Buches befasst sich mit großen und schwierigen internationalen Herausforderungen. Es ist wahrscheinlich sogar der spannendste und lehrreichste Abschnitt überhaupt, kann aber an dieser Stelle leider nicht mehr weiter besprochen werden. Stattdessen möchte ich noch kurz auf den letzten Teil eingehen, der den vielversprechenden Titel „Ökonomie verstehen in 60 Minuten“ trägt, da ich in den bisher erschienenen Rezensionen noch nichts darüber gelesen habe.
 
Es handelt sich um einen sehr praxisnahen Crash-Kurs in Makroökonomie auf weniger als 20 Seiten. Darin ist alles enthalten, was man für einen prompten Einstieg in die Welt der Volkswirtschaftslehre braucht. Anhand von Fallbeispielen kann sich der Leser selbst ein Bild darüber machen, unter welchen Bedingungen Unternehmer bereit sind, echte Investitionen vorzunehmen, oder welche Auswirkungen Niedriglöhne und Lohnkürzungen auf die gesamte Volkswirtschaft haben. Auch die Webfehler in der neoliberalen Weltanschauung erklären sich relativ rasch von selbst.
 
Die sehr spezielle VWL-Anleitung dürfte in dieser Form einzigartig sein, wobei aber auch die drei Hauptteile dem gleichen Konzept folgen. Dem Autor ist mit diesem Buch die hohe Kunst gelungen, die vielen komplexen Sachverhalte in eine griffige und überraschend leicht nachvollziehbare Form zu bringen. Es ist einfach, ihm durch all die eigentlich schwierigen Inhalte zu folgen, und trotz der vielen behandelten Themen geht dennoch jedes einzelne Kapitel in die Tiefe. So beendet der Autor zum Beispiel seine Ausführungen zur Energiewende nicht, ohne noch auf die etwaigen Chancen und die Realisierbarkeit der Kernfusion einzugehen.
 
Das Buch wird von Anfang bis Ende sämtlichen wissenschaftlichen Anforderungen gerecht und ist reichlich mit Belegen ausgestattet. Viele gut erläuterte Abbildungen helfen, das Verständnis zu vertiefen und sorgen für Abwechslung. Dieses absolut empfehlenswerte Buch eignet sich mit Sicherheit bestens für die politische und gewerkschaftliche Arbeit. Es wendet sich aber vor allem an alle „normalen Leser“ und kritischen Geister, die mehr verstehen möchten und sich neue Lösungen und Konzepte für Wirtschaft und Gesellschaft wünschen. Erkenntnisgewinn garantiert!
 
P.S.: Wer oder was ist nun der „Krisenkiller“? Der Untertitel sagt es: Eine mutige, gut durchdachte und damit kluge Wirtschaftspolitik. (PK)
 
Andreas Oppacher: „Krisenkiller: Chancen einer klugen Wirtschaftspolitik“, 272 Seiten, agenda Verlag Münster, Oktober 2014, ISBN: 978-3-89688-520-3, Preis: 19,90 Euro
 
Dr. Winfried Backes ist Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler und hat viele Jahre als Hochschuldozent gearbeitet. Seit er sich im Ruhestand befindet, hat er die Zeit, sich wieder ausgiebig mit der Volkswirtschaftslehre zu beschäftigen. Deshalb hat er uns diese Rezension geschrieben.
 


Online-Flyer Nr. 502  vom 18.03.2015

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