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Literatur
Ein justizkritisches Buch von Norbert Blüm
„Wider die Willkür an deutschen Gerichten“
Von Wolfgang Bittner

Das Buch „Einspruch! Wider die Willkür an deutschen Gerichten“ des ehemaligen CDU-Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung Norbert Blüm ist ein wichtiger Beitrag zu einer Justiz-Kritik, die es kaum noch gibt. Fast vergessen sind die Einwände gegen eine selbstherrliche „dritte Gewalt“ aus dem inneren Kreis, zum Beispiel der Juristen Helmut Ostermeyer (1928-1984), Theo Rasehorn (*1918), Rudolf Wassermann (1925-2008) oder Helmut Kramer (*1930). Blüm hat mit seinem Buch ein wirklich heißes Eisen angepackt. Das ist ihm zu danken, denn er hat recht: „Die fatale Selbstgewissheit“ in der Justiz „gefährdet das Vertrauen in die Rechtspflege“.
 
Die Justiz ist schwarz, und vor dem Gesetz sind absolut nicht alle gleich, wie oft behauptet wird, besonders gern von Juristen. Um hier mit Kritik überhaupt noch etwas zu bewirken, muss man manchmal aggressiv sein und polemisieren. Denn die Justiz hat viel Macht, und die sie ausüben, sind überwiegend konservativ, vielfach sogar rückständig und kritikresistent. Das zeigt sich auch in dem boshaften und überheblichen Verriss des Buches von Blüm durch den Bundesrichter Dr. Thomas Fischer in der Zeit(1) vom 1. November 2014 (skandalös und zugleich symptomatisch für die Demoralisation der deutschen Medienlandschaft, dass Norbert Blüm eine Erwiderung sowohl in der Zeit als auch in mehreren anderen Zeitungen verwehrt wurde).
 
Der Richter trägt eine Robe und sitzt auf einem Podest, der Angeklagte oder Rechtssuchende ist gezwungen, zu ihm aufzublicken. Schon das allein sagt alles. Es geht weniger um die Lösung von Problemen, um sachliche Aufklärung, um Schutz der Allgemeinheit vor Übergriffen, um Interessenabwägung und Hilfe in schwierigen Lebenssituationen; es geht um Spitzfindigkeiten, raffinierte Winkelzüge, ums Aburteilen und Abstrafen. In der Strafjustiz sind wir in Jahrhunderten – abgesehen von wenigen Ausnahmen – nicht viel weiter als vom Kerker zum Knast gekommen. Und die letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass selbst der Blutrichter des Volksgerichtshofs oder der KZ-Wärter als treuer Diener seines Staates gelten konnte und deshalb nicht zur Rechenschaft gezogen wurde.
 
Norbert Blüm bringt in seinem Buch zahlreiche Beispiele für die „Verlotterung der dritten Gewalt“, wie er es nennt. Er geht mit der Justiz und ihren Vertretern, denen er „berufsbedingte Überheblichkeit“ vorwirft, hart ins Gericht. Gleich im ersten Kapitel schreibt er: „Den schwersten Schock erlitt mein bis dato nahezu unerschütterlicher Glaube an das Recht durch die Erfahrungen, die mir nahestehende Personen mit der Rechtspflege machen mussten. Wehrlos sahen sie sich den Launen eines Richters und der Skrupellosigkeit eines Gegenanwalts ausgesetzt… Willkür bedeutet in diesem Zusammenhang Verweigerung von Anerkennung und Missachtung der Würde derer, die Recht verlangen.“
 
Jedes dritte Urteil werde korrigiert, schreibt Blüm. Dennoch beanspruchten Richter für sich „Unangreifbarkeit“ („einmal Richter, immer Richter“), und die „Überschätzung der Richterfunktion“ nehme bisweilen „absonderliche Züge an“. Es fehle vielfach nicht nur an der Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion, sondern darüber hinaus an Alltagserfahrung und Empathie. Hinzu komme, dass Richter ihre Arbeit so unabhängig organisieren und ihr Zeit-Management so stark selbstbestimmen können wie in keinem anderen Beruf, was Bequemlichkeit, Pfusch und Faulheit Tür und Tor öffne.
 
Die dritte Gewalt schicke sich an – so Blüm –, Staat im Staate zu werden, „sie scheint niemandem rechenschaftspflichtig zu sein“. In der Tat ist es grotesk, wenn sich zum Beispiel ein Präsident des Bundesgerichtshofes zu der Feststellung verstieg, dass es bei der gesetzesauslegenden Urteilsfindung, „also nicht darum gehe, was der Gesetzgeber – wer immer das sein mag – beim Erlass eines Gesetzes ‚gedacht‘ hat, sondern was er vernünftigerweise gedacht haben sollte“. Dazu Blüm: „Der Richter ist also nicht nur Zensor, sondern auch eine Art von Gouvernante, die es besser weiß als die Abgeordneten des Parlaments, die von ihr erzogen werden. So nähert sich der Richter dem Beruf des ‚gesetzgebenden Richters‘.“
 
Zu Recht kritisiert Blüm eine „alltagsgewohnte Kumpanei“ zwischen Richtern, Staatsanwälten und Rechtsanwälten sowie das, was er „Kuhhandel“ vor deutschen Gerichten nennt, wenn sich manche Angeklagte durch Zahlung hoher Summen Straferlass erkaufen können. Weiter geht Blüm ausführlich auf das Scheidungsrecht ein, wobei er allerdings einseitig und kompromisslos für Ehe und Familie als „große Stabilisatoren der Evolution“ und „Ausdruck unserer eigenartigen kulturellen Natur“ plädiert. In einem zweiten Teil des Buches, spektakulär „Jagdszenen“ benannt, folgt dann die Wiedergabe von Gesprächen und Berichten Betroffener. Sie sind lesens- und bedenkenswert, zum Kopfschütteln, Empören und Erzürnen, auch wenn die subjektive Herangehensweise naturgemäß Fragen offen lässt.
 
Rechtspflege, „ein schönes Wort“, meint Blüm. „Dabei geschehen gerade hier Dinge, die ein Leben umwerfen können.“ Und er fährt fort: „Es hat lange gedauert, bis es mir dämmerte, dass die hehre Justiz doch nicht der von menschlichen Schwächen befreite Ort des ‚reinen Rechts‘ ist. Dass aber unter dem Deckmantel der Unabhängigkeit eine Rechtspflege agiert, die mit sublimer Selbstherrlichkeit und handfesten Abhängigkeiten ausgestattet ist, diese Erkenntnis traf mich jäh wie ein Blitz.“ Norbert Blüm gibt zu: Sein Buch entstand „aus Beleidigung“ und „Betroffenheit, hervorgerufen durch Demütigung von Menschen“. Das ist nicht der schlechteste Anlass, ein Buch zu verfassen, und deswegen ist es als Einblick in einen hermetischen Bereich staatlicher Gewaltausübung so wichtig.
 
Justizkritik ist vonnöten. Solange bei uns Bürgerrechte ohne Not eingeschränkt werden, an den Gerichten Parteilichkeit, grobe Ungerechtigkeiten, Kleinlichkeit und groteske Unverhältnismäßigkeit vorkommen, heißt es wachsam sein. Nicht übersehen werden sollte allerdings, dass ein Rechtsstaat nicht ohne eine dritte Gewalt denkbar ist, und nicht verschwiegen werden sollte, dass es in der Justiz hier und da auch Fortschritt gibt, Juristen, die sich bemühen, alte Zöpfe abzuschneiden und eine vernünftige, humane Rechtsprechung zu praktizieren. Das streitet Norbert Blüm aber nicht ab. Zu hoffen ist, dass er eine Debatte angestoßen hat. (PK)

Lesenswert in diesem Zusammenhang ist auch der Artikel von Luz María De Stéfano Zuloaga de Lenkait in dieser NRhZ-Ausgabe.

(1) http://www.zeit.de/2014/45/norbert-bluem-einspruch-justiz

 
Norbert Blüm: „Einspruch! Wider die Willkür an deutschen Gerichten. Eine Polemik.“ Westend Verlag, Frankfurt am Main 2014, 256 Seiten, 19,99 Euro
 
 


Online-Flyer Nr. 512  vom 27.05.2015

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