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Inland
Befreiung 70 Jahre - Hippokrates 2445 Jahre - Eid für alle Wissenschaften
"Niemals mehr für Zerstörungswerk"
Von Dietrich Schulze

Der friedensengagierte Göttinger Geologe Jürgen Schneider (1938-2015) zitierte in seinem Beitrag "Verantwortung aus Erkenntnis und Gewissen" [1] auf der VDW-Tagung 2009 aus „Galileo Galilei“ von Bert Brecht: »Hätte ich widerstanden, hätten die Naturwissenschaftler etwas wie den hippokratischen Eid der Ärzte entwickeln können, das Gelöbnis, ihr Wissen einzig zum Wohle der Menschen anzuwenden… Wie es nun steht, ist das Höchste, was man erhoffen kann, ein Geschlecht erfinderischer Zwerge, die für alles gemietet werden können.«

 
„Geschlecht erfinderischer Zwerge“
 
Nur ganz nebenbei: Zu dem folgenden geschichtspolitischen Zivilklausel-Beitrag ist der Autor aufgrund eines Kurztrips auf die Insel Kos in Griechenland motiviert worden. Kos ist der Geburtsort von Hippokrates.

Bild-Rekonstruktion der späteren Heilstätte Asklepieion des Arztes Hippokrates 430 v.Chr. auf der griechischen Insel Kos.
Quelle: http://www.ostia-antica.org/kos/asklep-p/asklep-p.htm
 
 
Nach der Befreiung hatte der Mathematiker Erich Kamke (1890-1961) im Jahre 1946 ein sehr konkretes und optimistisches Bild des angesprochenen Eids entwickelt. Dieses ist für ein Land, von dem zwei verbrecherische Weltkriege ausgegangen sind und das erneut das kriegerische Haupt erhebt, von grundlegender Bedeutung für die Hochschulen und für die Öffentlichkeit.
Die bedeutsame Nachkriegsanalyse von Erich Kamke, vorgetragen bei der Mathematiker-Tagung am 23.-27.09.1946 an der Universität Tübingen, ist praktisch die Erst-Konzeption der Zivilklausel. Kamke hatte aus der Selbstverpflichtung der einzelnen Wissenschaftler ein System für die wissenschaftliche Verantwortung und deren Überprüfung entworfen.
 

Erich Kamke
Quelle: wikipedia
„Herrn über Leben und Tod ganzer Völker“
 
Nachfolgend der volle Wortlaut des Kamke-Appels:
»Wie zum Arzt neben der medizinisch-technischen Ausbildung auch eine charakterliche Erziehung gehört, die ihn selbst die gefährlichsten Hilfsmittel - Messer, Narkotika, Gifte - nur zum Wohle des Kranken verwenden lässt, so ist es unerlässlich, dafür zu sorgen, dass auch die Wissenschaftler ihre ungeheure Macht, die sie zum Herrn über Leben und Tod ganzer Völker, ja der ganzen Menschheit machen kann, nur zu deren Wohle verwenden. Während früher die Eignung für die eigentliche wissenschaftliche Forschung das hervorstechendste Merkmal des Forschers bildete, wird in Zukunft noch etwas anderes hinzukommen müssen, ein besonders hohes Berufsethos, ein auf das feinste ausgeprägte Verantwortungsbewusstsein gegenüber den Folgen der Forschung für die Menschheit. Es wird zu erwägen sein, ob zu diesen auf moralischem Gebiet liegenden Ansprüchen an die Forscherpersönlichkeit noch organisatorische Maßnahmen hinzukommen müssen, etwa als mildeste Maßnahme die Einrichtung eines internationalen Informationsbüros, bei dem ohne Beschränkung der Freiheit des Forschens, alle Forschungen bestimmter Wissenschaftsgebiete anzumelden sind. Diese Probleme sind von solcher Bedeutung, dass sie überall, wo Wissenschaftler zusammentreffen, diskutiert werden sollten. Wir alle müssen uns mit aller unserer Kraft, mit unserer ganzen Person dafür einsetzen, dass die Wissenschaft niemals mehr einem Werk der Zerstörung, sondern nur dem Wohl der Menschheit dient.«
Diese einprägsame Einschätzung der furchtbaren möglichen Folgen von wissenschaftlicher Forschung wird derzeit 70 Jahre nach Hiroshima und Nagasaki weltweit in öffentlichen Aktionen beschworen.
In einer Klausurtagung der Initiative „Hochschulen für den Frieden – Ja zur Zivilklausel“ am 5.-7.10.2012 in Mühlhausen/Thüringen hatte der Autor einen Reader [1] zum Thema „Freiheit der Wissenschaft“ erstellt, in dem unter Bezug auf den Kamke-Appell der hippokratische Eid für alle Wissenschaften gefordert wurde.
 
Darmstädter Verweigerungsformel
 
Damals hatte die Linksfraktion mit MdB Nicole Gohlke eine Postkarten-Aktion gestartet, in der die Darmstädter Verweigerungsformel 1984 aufgrund der Proteste gegen das SDI-Programm [2] übernommen wurde:
»Ich erkläre hiermit, dass ich mich im Rahmen meiner Tätigkeit als Wissenschaftler oder Techniker an der Entwicklung militärischer Rüstung nicht beteiligen will. Ich werde mich vielmehr um eine Aufklärung des Beitrages meines Fachgebietes zur Rüstungsentwicklung bemühen und der militärischen Verwendung wissenschaftlichen und technischen Wissen entgegenwirken.«
Das ist von der Intention her die persönlich verpflichtende Erklärung einer WissenschaftlerIn. Es ist nicht bekannt, was aus dieser Aktion geworden ist. Man darf annehmen, nichts Berichtenswertes. Das hat viele Gründe, nicht zuletzt die wachsende Zahl an prekären Beschäftigungsverhältnissen in den Hochschulen. 
In einem Arbeitstreffen "6 Jahre aktuelle Zivilklausel: Erfolge, Niederlagen, Probleme" am 24./25. Januar 2015 in Berlin [3] wurde in der AG2 „Wie die Zivilklausel gegen Verstöße verteidigen?“ auf die Verweigerung anhand von Einzelbeispielen eingegangen. Im Bericht heißt es:
»Es gibt bereits Wissenschaftler, die ihre Forschungsarbeiten mit dem Zusatz versehen, ihre Erkenntnisse sollten nur zivil genutzt werden. Solche Beispiele wurden insgesamt als positiv ermunternd bewertet. Dietrich berichtet über den japanischen Wissenschaftler Yoshiyuki Sankai, der es entschieden ablehnt, dass seine Forschungen und Entwicklungen für Exoskelette für Kriegszwecke verwendet werden, sondern ausschließlich für zivile medizinische Zwecke. Damit verbunden ist jedoch eine Frage: Wie weit reichen die Einflussmöglichkeiten der Forschenden bezogen auf die Nutzung der Forschungsergebnisse? Faktisch hat der Wissenschaftler die Verwertung seiner Ergebnisse ab einem bestimmten Punkt nicht mehr in der Hand. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass Wissenschaftler die Verantwortung zur Aufklärung haben: Naturwissenschaftler verfügen über ein Expertenwissen über Potentiale und Gefährdungen technischer Neuerungen, die in den 80er Jahren den Kampf der Friedensbewegung gegen Aufrüstung bereichert haben. Streitet man für eine Zivilklausel, die eingehalten statt gebrochen wird, bedeutet dies, dass es zu einer Renaissance aufklärerischer, friedensbewegter Wissenschaft kommen kann.«
 
Kriegsforschung öffentlich skandalisieren
 
In einer Handreichung zum Arbeitstreffen unter dem Titel „Zivilklausel - Schlüsselwerkzeug gegen die Militarisierung der Hochschulen“ [4] habe ich Verstöße gegen Zivilklausel in 5 Fällen analysiert. Es bleibt im Positiven festzuhalten, dass sich seit der zitierten Klausurtagung 2012 die Anzahl an Zivilklauseln mehr als verdoppelt hat. Und erneut dürfen dazu sieben Forderungen formuliert werden:
1.         Rüstungs- und Kriegsforschung an den Hochschulen in jeder Form und Verpackung aufreißen, öffentlich skandalisieren, zurückdrängen und verhindern.
2.         Dafür sind Zivilklauseln mit Transparenzklauseln ein überzeugendes Mittel der Hochschulgemeinschaft im Interesse des Gemeinwohls und des Friedens und der Freiheit.
3.         Selbstbestimmung und Qualität erfordern die öffentliche Vollfinanzierung der alma mater.
4.         Der Charme der Zivilklausel für eine Wissenschaft der Aufklärung, der Humanisierung der Lebensverhältnisse und der weltweiten Solidarität muss noch konkreter entwickelt werden.
5.         Unten vor Ort in den Hochschulgruppen und ASten sollten mit dem sympathischen Umfeld reale mess- und vermittelbare Fortschritte gegen Militärisches erkämpft werden.
6.         Nichts ist überzeugender als ein selbst erstrittener Erfolg. Das ist aufgrund der Kriegspolitik des „Trio infernale“ nicht leichter geworden. Auch früher war das nicht „leichter“.
7.         Das Verständnis der politischen Entwicklungen ist wichtig. Es bleibt aber nutzlos, wenn nicht persönlich der Versuch einer solidarischen Umsetzung der Erkenntnisse gemacht wird.
 
Credo für verantwortungsbewusste Wissenschaft
 

Fotomontage: Einstein als Hopi-Indianer.
Das Folgende ebenfalls aus der Handreichung mag deftig klingen, bildet jedoch die Summe meiner persönlichen Erfahrungen mit Menschen im Wissenschaftsbereich:
»Im Jahr 70 nach der Befreiung habe ich ein Credo.
Mögen sich in unserem Land mehr
• kreative statt nacheifernde
• tiefschürfende statt oberflächliche
• selbstbewusste statt angepasste
• solidarische statt eigensüchtige
Menschen - Wissenschaftler und Studierende - entwickeln, die für Freiheit, Frieden und Demokratie,
für weltweite Gerechtigkeit und Verständigung, gegen Ausbeutung, Umweltzerstörung und Krieg aufstehen. Einer davon ist im nebenstehenden Bild dargestellt.«
Entgegen den benannten Problemen ist nicht auszuschließen, dass sich zusätzlich zu den Zivilklauseln persönliche Verweigerungserklärungen durchsetzen werden. Der polnisch-britische Nuklearphysiker Sir Joseph Rotblat (1908-2005) hat in „Science“ 1999 [5] gute Argumente gebracht. Rotblat war anfänglich an der Entwicklung der Atombombe beteiligt, verließ aber wegen ethischer Bedenken 1944 das Manhattan-Projekt.
Er kämpfte ein Leben lang für die Abschaffung aller Atomwaffen.

Zwischen Campus, Industrie und Militär

Zu guter Letzt der Hinweis auf einen Vortrag unter dem Titel „Forschung, Lehre und Studium zwischen Campus, Industrie und Militär“ [6] von Claudia Holzner und Julian Firges von der Uni Kassel. Er wurde im Oktober 2014 im Rahmen des Antikriegskongresses in Berlin gehalten und ist eine treffende aktuelle Übersicht zur Zivilklausel-Thematik. Der Vortrag ist im Buch "Kriege im 21. Jahrhundert. Neue Herausforderungen der Friedensbewegung", Sonnenberg Verlag 2015 (Friedenspolitische Reihe: Bd. 01) erschienen. Die AutorInnen waren freundlicherweise mit der Online-Stellung des Beitrags in der Zivilklausel-WebDoku einverstanden.(PK)
 
[1] http://www.offene-akademie.org/?p=177
[2] http://www.microenergy-foundation.com/natwiss/fileadmin/user_upload/Reader_Klausur_Freiheit_der_Wissenschaft.pdf
[3] http://www.natwiss.de/fileadmin/user_upload/Dokumentation_Zivilklausel_vorlaeufige_Version_web.pdf
[4] http://www.stattweb.de/files/civil/Doku20150112cc.pdf
[5] http://www.sciencemag.org/content/286/5444/1475.full
[6] http://www.stattweb.de/files/civil/Doku20150726hf.pdf
 
Zum Autor:
Dr.-Ing. Dietrich Schulze (Jg. 1940) war nach 18-jähriger Forschungstätigkeit im Bereich der Hochenergie-Physik von 1984 bis 2005 Betriebsratsvorsitzender im Forschungszentrum Karlsruhe (jetzt KIT Campus Nord). 2008 gründete er mit anderen in Karlsruhe die Initiative gegen Militärforschung an Universitäten (www.stattweb.de/files/DokuKITcivil.pdf). Er ist Beiratsmitglied der NaturwissenschaftlerInnen-Initiative für Frieden und Zukunftsfähigkeit sowie in der Initiative „Hochschulen für den Frieden – Ja zur Zivilklausel“ und publizistisch tätig.


Online-Flyer Nr. 521  vom 29.07.2015

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