SUCHE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Druckversion
Kommentar
Die wirkliche Gefahr
ICH HABE ANGST
Von Uri Avnery
Ich schäme mich nicht, es zuzugeben: Ich habe Angst. Ich habe Angst vor der Bewegung Islamischer Staat, alias ISIS, alias Daesh. Diese Bewegung ist die einzige reale Gefahr, die Israel droht, die der Welt droht, die mir droht. Diejenigen, die diese Gefahr heute mit Gleichmut, ja sogar mit Gleichgültigkeit behandeln, werden das noch bereuen.
AN MEINEM Geburtsjahr 1923 inszenierte ein lächerlicher kleiner Demagoge mit komischem Schnurrbart, Adolf Hitler, einen Putschversuch in München. Der Putschversuch wurde von ein paar Polizisten niedergeschlagen und war schon bald vergessen.
Online-Flyer Nr. 528 vom 16.09.2015
Druckversion
Kommentar
Die wirkliche Gefahr
ICH HABE ANGST
Von Uri Avnery
Ich schäme mich nicht, es zuzugeben: Ich habe Angst. Ich habe Angst vor der Bewegung Islamischer Staat, alias ISIS, alias Daesh. Diese Bewegung ist die einzige reale Gefahr, die Israel droht, die der Welt droht, die mir droht. Diejenigen, die diese Gefahr heute mit Gleichmut, ja sogar mit Gleichgültigkeit behandeln, werden das noch bereuen.
AN MEINEM Geburtsjahr 1923 inszenierte ein lächerlicher kleiner Demagoge mit komischem Schnurrbart, Adolf Hitler, einen Putschversuch in München. Der Putschversuch wurde von ein paar Polizisten niedergeschlagen und war schon bald vergessen.
Die Welt musste mit ernsthafteren Gefahren fertigwerden. Da war einmal die galoppierende Inflation in Deutschland. Da war die junge Sowjetunion. Da war der gefährliche Wettstreit zwischen den beiden starken Kolonialmächten Großbritannien und Frankreich. Da war 1929 die schreckliche Wirtschaftskrise, die die Weltwirtschaft zugrunde richtete.
Aber der kleine Münchener Demagoge hatte eine Waffe, die erfahrenen Staatsmännern und schlauen Politikern nicht ins Auge fiel: eine mächtige Bewusstseinskrise. Er verwandelte die Demütigung einer großen Nation in eine Waffe, die wirksamer war als Flugzeuge und Schlachtschiffe. In sehr kurzer Zeit – in gerade einmal ein paar Jahren – eroberte er Deutschland, dann Europa und machte Anstalten, die ganze Welt zu erobern.
Viele Millionen Menschen gingen dabei zugrunde. Unsägliches Elend wurde in vielen Ländern verursacht. Ganz zu schweigen vom Holocaust, einem Verbrechen mit kaum einer Parallele in den Annalen der Geschichte der Moderne.
Wie hat er das geschafft? Nicht in erster Linie mit politischer und militärischer Macht, sondern mit der Macht einer Idee, einem Bewusstsein, einer mentalen Explosion.
Im ersten Viertel meines Lebens wurde ich Zeuge davon. Es fällt mir spontan ein, wenn ich mir jetzt die Bewegung ansehe, die sich selbst IS, Islamischer Staat, nennt.
IM FRÜHEN 7. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung hatte ein kleiner Kaufmann in der gottverlassenen arabischen Wüste eine Idee. In erstaunlich kurzer Zeit eroberten er und seine Gefährten seine Heimatstadt Mekka, dann die ganze Arabische Halbinsel, dann den Fruchtbaren Halbmond und dann den größten Teil der zivilisierten Welt vom Atlantischen Ozean bis Nordindien und weit darüber hinaus. Seine Anhänger gelangten bis ins Herz Frankreichs und belagerten Wien.
Wie hat der kleine arabische Stamm alles das vollbracht? Nicht durch militärische Überlegenheit, sondern durch die Kraft einer berauschenden neuen Religion, einer Religion, die so fortschrittlich und befreiend war, dass niemand ihrer weltlichen Macht widerstehen konnte.
Gegen eine berauschende neue Idee sind materielle Waffen machtlos, Armeen und Flotten zerfallen und mächtige Reiche wie Byzanz und Persien brechen auseinander. Aber Ideen sind unsichtbar, Realisten können sie nicht sehen, erfahrene Staatsmänner und mächtige Generäle sind blind für sie.
„Wie viele Divisionen hat der Papst?“, fragte Stalin verächtlich, als ihm jemand etwas von der Macht der Kirche erzählen wollte. Und doch fiel das Sowjetreich und verschwand und die Katholische Kirche ist immer noch da.
AL-DAULA AL-ISLAMIYAH, der islamische Staat, ist eine „fundamentalistische“ Bewegung. Sein Fundament ist der islamische Staat, den vor 1400 Jahren der Prophet Mohammed in Medina und Mekka gründete. Die rückwärtsgewandte Haltung ist ein Propagandatrick. Wie könnte irgendjemand etwas, das vor so vielen Jahrhunderten einmal existierte, wieder zum Leben erwecken?
In Wirklichkeit ist der IS eine äußerst modern Bewegung, eine Bewegung von heute und wahrscheinlich von morgen. Sie nutzt die modernsten Mittel, z. B. das Internet. Sie ist eine revolutionäre Bewegung, wahrscheinlich die revolutionärste in der heutigen Welt.
Bei ihrem Aufstieg zur Macht benutzt sie barbarische Methoden längst vergangener Zeiten, um sehr modern Ziele zu erreichen. Sie schafft Schrecken. Damit meine ich nicht den Propagandaausdruck „Terrorismus“, mit dem heutzutage alle Regierungen ihre Feinde brandmarken. Sondern ich meine wirkliche Gräueltaten, entsetzliche Taten wie das Köpfen und die Zerstörung unschätzbarer Altertümer, und das alles, um lähmende Angst in den Herzen ihrer Feinde zu erregen.
Die IS-Bewegung kümmert sich nicht um Europa, die USA und Israel. Jedenfalls jetzt nicht. Sie nutzt sie bisher nur zur Propaganda für die Erreichung ihres unmittelbaren Ziels: die Eroberung der gesamten islamischen Welt.
Wenn sie das erreicht hat, kann man sich den nächsten Schritt vorstellen. Nachdem die Kreuzfahrer Palästina und die umgebenden Gebiete erobert hatten, machte sich ein kurdischer Abenteurer mit dem Namen Salah-a-Din al-Ayyubi (bei Europäern: Saladin) auf, um die arabische Welt unter seiner Führung zu vereinigen. Erst als er das erreicht hatte, wandte er sich gegen die Kreuzfahrer und vernichtete sie.
Saladin war natürlich kein Händler in Gräueltaten auf IS-Art. Er war ein zutiefst menschlicher Herrscher und als ein solcher wurde er in der europäischen Literatur, unter anderen von Walter Scott und Lessing, gefeiert. Seine Strategie jedoch ist jedem Moslem vertraut, darunter auch den Führern des heutigen islamischen „Kalifat“: zuerst die Araber einigen und sich erst dann gegen die Ungläubigen wenden.
IN DEN letzten zweihundert Jahren wurde die arabische Welt gedemütigt und unterdrückt. Die Demütigung hat die Seele eines jeden arabischen Jungen und eines jeden arabischen Mädchens noch tiefer als die Unterdrückung verletzt. Früher einmal bewunderte die ganze Welt die arabische Kultur und die arabischen Wissenschaften. Während des finsteren europäischen Mittelalters waren die Barbaren des Westens von der islamischen Kultur geblendet.
Kein junger Araber kann umhin, den Ruhm des ehemaligen Kalifats mit dem Elend der heutigen arabischen Realität – der Armut, der Rückständigkeit, der politischen Ohnmacht – zu vergleichen. Einstmals rückständige Länder wie Japan und China sind wieder aufgestiegen und zu Weltmächten geworden. Sie haben den Westen in seinem eigenen Spiel besiegt, der arabische Riese dagegen bleibt ohnmächtig und zieht die Verachtung der Welt auf sich. Selbst ein winziger Trupp Juden (ausgerechnet Juden!) schlägt die arabischen Länder.
Ein riesiger Vorrat an Verbitterung hat sich – ungesehen und unbemerkt von den Mächtigen des Westens – in der arabischen Welt angehäuft.
Aus einer solchen Situation gibt es zwei Auswege. Der eine ist der mühsame Weg: mit der Vergangenheit brechen und einen modernen Staat aufbauen. Diesen Weg ging der türkische General Mustapha Kemal, der die Tradition ächtete und eine neue türkische Nation erschuf. Es war eine tiefgreifende Revolution, vielleicht die effektivste des 20. Jahrhunderts, und sie trug ihm den Titel Atatürk, Vater der Türken, ein. In der arabischen Welt gab es einen Versuch, einen panarabischen Nationalismus zu schaffen. Es war ein schwacher Nachahmungsversuch des westlichen Originals. Gamal Abd-al-Nasser unternahm ihn und wurde leicht von Israel abgetan.
Der andere Weg ist: Die Vergangenheit idealisieren und den Anspruch erheben, man wolle sie neu beleben. Das ist der Weg des IS und er ist riesig erfolgreich. Mit wenig Mühe hat er große Teile Syriens und des Irak in den Griff bekommen und hat dabei die offiziellen, von den westlichen Imperialisten geschaffenen Grenzen ausgelöscht. Nachahmer haben Vertretungen in der gesamten muslimischen Welt eingerichtet und Daesh zieht viele Tausende potentieller Kämpfer aus den muslimischen Ghettos in West und Ost an.
Jetzt beginnt der Islamische Staat seinen Siegeszug. Es gibt anscheinend niemanden, der ihn aufhalten könnte.
ZUALLERERST weil sich niemand die Gefahr vor Augen führt. Gegen eine Idee kämpfen? Zum Teufel mit Ideen. Ideen sind für Intellektuelle und ihresgleichen. Wahre Staatsmänner sehen auf Tatsachen. Wie viele Divisionen hat der IS?
Zweitens gibt es genug andere Gefahren: Die iranische Bombe. Das syrische Chaos. Der Zusammenbruch Libyens. Die Ölpreise. Und jetzt die Flüchtlingslawine, bestehend aus Menschen, die hauptsächlich aus der islamischen Welt kommen.
Die USA sind hilflos wie ein Riesenbaby. Sie unterstützen eine imaginäre säkulare syrische Opposition, die ausschließlich an amerikanischen Universitäten existiert. Sie bekämpfen den Hauptfeind des IS, das Assad-Regime. Sie unterstützen den türkischen Führer, der gegen die Kurden kämpft, die gegen den IS kämpfen. Sie bombardieren den IS aus der Luft und riskieren damit ebenso wenig wie sie damit erreichen. Keine Bodentruppen, Gott bewahre.
Regieren heißt entscheiden, hat Pierre Mendes-France einmal gesagt. In der gegenwärtigen arabischen Welt muss man sich zwischen böse, schlimmer und am schlimmsten entscheiden. Im Kampf gegen den Schlimmsten ist der Böse ein Verbündeter.
Wir wollen es einmal freiheraus sagen: Wenn man den IS aufhalten will, so bedeutet das, das Assad-Regime zu unterstützen. Bashar al-Assad ist ein abscheulicher Bursche, aber er hat Syrien zusammengehalten, dessen zahlreiche Minderheiten geschützt und die Grenze zu Israel ruhig gehalten. Verglichen mit dem IS, ist er ein Verbündeter. Ebenso der Iran mit einer stabilen Regierung mit einer politischen Tradition, die tausend Jahre in die Vergangenheit reicht – im Gegensatz zu Saudi-Arabien, Katar und anderen, die den IS unterstützen.
Unser eigener Bibi ist, was Verstehen angeht, ebenso unschuldig wie ein neugeborenes Kind. Er ist schlau, oberflächlich und unwissend. Seine Besessenheit vom Iran macht ihn blind gegen die neuen Realitäten.
Bibi ist vom Wolf, den er vor sich sieht, fasziniert und erkennt den fürchterlichen Tiger nicht, der sich von hinten an ihn heranschleicht. (PK)
Uri Avnery, geboren 1923 in Deutschland, israelischer Journalist, Schriftsteller und Friedensaktivist, war in drei Legislaturperioden für insgesamt zehn Jahre Parlamentsabgeordneter in der Knesset. Sein neues Buch „Israel im arabischen Frühling – Betrachtungen zur gegenwärtigen politischen Situation im Orient“ hat eine unserer Mitarbeiterinnen für die NRhZ rezensiert.
Für die Übersetzung dieses Buches und von Avnerys Artikeln aus dem Englischen danken wir der Schriftstellerin Ingrid von Heiseler. Sie hat auch ein neues eBuch bei Amazon veröffentlicht: "Ira Chernus, Amerikanische Nationalmythen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft". Alle ihre Bücher findet man unter http://www.amazon.com/s/ref=nb_sb_noss?url=search-alias%3Daps&field-keywords.
http://ingridvonheiseler.formatlabor.net
http://ingridvonheiseler.formatlabor.net
Online-Flyer Nr. 528 vom 16.09.2015
Druckversion
NEWS
KÖLNER KLAGEMAUER
FILMCLIP
FOTOGALERIE