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Inland
Interview mit Rainer Rupp, der 1983 den Dritten Weltkrieg verhindert haben soll
»Retourkutschen sind tückisch«
Von Karlen Vesper

Er war Anfang der 1990er Jahre der meistgesuchte Mann, der damalige Bundesanwalt sprach von der »größten Suchaktion der Dienste in der Nachkriegszeit«. Rainer Rupp, der unter dem Decknamen »Topas« für die Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) der DDR hochbrisante Informationen aus dem Hauptquartier der NATO in Brüssel lieferte, wurde 1993 verhaftet und vom Oberlandesgericht Düsseldorf zu zwölf Jahren Haft verurteilt; er kam im Jahr 2000 frei. Mit dem Superspion, der am vergangenen Montag 70 Jahre alt wurde, sprach für das Neue Deutschland dessen Redakteurin Karlen Vesper.

Rainer Rupp – nach sieben Jahren wieder frei gekommen
Quelle: kommunisten-online.de
  
Herr Rupp, drohte 1983 wirklich ein Dritter Weltkrieg? Und waren es tatsächlich Sie, der ihn verhinderte?

Das habe ich nie gesagt und werde ich auch nie behaupten. So vermessen bin ich nicht. Ich kann dazu nur andere zitieren. Milton Bearden, ehemaliger Chef der CIA-Abteilung für die Sowjetunion und Osteuropa, ist davon überzeugt und äußerte dies auch öffentlich, so auf der Internationalen Spionagekonferenz am 7. Mai 2004 in Berlin. Auch Benjamin Fisher, langjähriger Mitarbeiter und Chefhistoriker des CIA, ist dieser Ansicht. Ebenso würdigte Vojtech Mastny, Professor für Strategie an der Kriegsakademie der US-Marine, in seiner Schrift »Did East German Spies Prevent a Nuclear War?« meine Rolle in der Krise 1983. Ähnliches kann man in Publikationen des »Parallel History Project on Cooperative Security« nachlesen, einem in Zürich ansässigen internationalen Forschungsprogramm zu Sicherheitsfragen, nicht nur während des Kalten Krieges. Und auch Wladimir Krjutschkow, der KGB-Chef in jener kritischen Zeit, hat 2005 in einem Interview mit einem deutschen Fernsehsender speziell meinen Beitrag herausgestellt, dass der Konflikt 1983 nicht eskalierte und explodierte. Last but not least bejahte eine preisgekrönte deutsche Fernseh-Dokumentation die Frage des Sprechers aus dem Off: »Hat Rainer Rupp womöglich den Dritten Weltkrieg verhindert?«
 

Milton Bearden, ehemaliger CIA-Mann
Wie kam es dazu, dass im November 1983 die Welt wieder, wie bei der Kuba-Krise 1962, am Rand eines Nuklearkrieges stand? Und was konkret war Ihr Beitrag, ihn zu verhindern?

Vom 7. bis 11. November 1983 gab es eine europaweite NATO-Kommandostabsübung, die einen Atomkrieg simulierte: »Able Archer«, was »tüchtiger Bogenschütze« heißt. Ich saß damals im Nervenzentrum der NATO, war Leiter der laufenden nachrichtendienstlichen Gruppe, der Current Intelligence Group. Hier kamen die Informationen über die Lage des Feindes und der eigenen zusammen. Sie wurden täglich, frühmorgens, unter rotierendem Vorsitz ausgewertet und auf Probleme verdichtet, die dann wiederum an die NATO-Kommandostellen, die Regierungen und Geheimdienste der NATO-Staaten geschickt wurden. In Krisenzeiten beziehungsweise zur Zeit von Stabsmanövern, in denen wir den nuklearen Erstschlag planten…
 
»Wir« - aus Ihrem Munde?

Entsprechend meiner damaligen Identität im NATO-Hauptquartier. Als Chef der Current Intelligence Group musste ich auch dem Obersten Verteidigungs-Planungsrat vortragen. Ich hatte alle Top-Secret-Informationen »at my fingertips«, wie man sagt. Ich konnte sie alle (lacht) auch sichern, nicht nur die Informationen, die ich während meiner Dienstzeit zu sehen bekam, sondern auch jene, die davor eingegangen sind.
Die Sowjets waren fest davon überzeugt, dass »Able Archer« nur der Deckmantel für einen echten Nuklearschlag sei. Sie glaubten, aus diesem Manöver heraus solle ein Enthauptungsschlag gegen Kommando-, Kontroll- und Kommunikationszentren der sowjetischen Armee, des Staatsapparates und des Parteiapparates erfolgen – und zwar mit Hilfe der neuen supermodernen und punktgenau treffenden taktischen Atomraketen, Pershing II und Cruise Missiles, bei denen man eine Vorwarnzeit von nur fünf bis maximal acht Minuten hatte. Mit diesen Raketen hoffte die Verbrecherbande im Pentagon die Sowjetarmee zu enthaupten, so dass sie – ein Zitat, das ich selbst vernommen habe - »wie ein Huhn mit abgeschlagenem Kopf über den Bauernhof läuft«.
Die sowjetische Befürchtung schien begründet angesichts des damaligen Tiefstandes in den Beziehungen zwischen Ost und West. Im März 1983 nannte US-Präsident Ronald Reagan die Sowjetunion ein »Reich des Bösen« und verkündete den Beginn des Raketenabwehrprogramms SDI.
Ich stellte nun aber als Chef der Current Intelligence Group fest, dass die Furcht vor einem Nuklearschlag unbegründet war. Nichts deutete in meinen Unterlagen darauf hin. Das machte die NATO nicht friedfertiger, war aber in dieser konkreten Situation wichtig zu wissen. Um die Sorgen der Sowjets zu zerstreuen, habe ich alle Dokumente abgelichtet – egal ob unwichtig oder nicht – und in die DDR geschickt. Da alle Dokumente offiziell nummeriert waren, war für die Genossen in der HVA und in Moskau klar zu erkennen, dass nichts fehlte, nichts Wichtiges übersehen worden war. Auf dem Höhepunkt der Krise wurde dies durch tägliche Meldungen nach Ostberlin ergänzt. Und da man schon ein entsprechendes Vertrauen in die Quelle hatte, ließ Moskau schließlich die Option eines zuvorkommenden Gegenschlages fallen.
 


ND-Redakteurin
Karlen Vesper
Im Hinblick auf die vielen neuen, nicht enden wollenden Kriege in Nahost und der sich weiter zuspitzenden Konfrontation zwischen den USA und Russland – droht wieder ein Dritter Weltkrieg? Was, wenn sich Russen und Amerikaner in Syrien beschießen? Und die Franzosen und Engländer, wie sie jüngst bekundeten, auch in Syrien bombardieren wollen?
 
Ich glaube nicht, dass ein Dritter Weltkrieg jetzt unmittelbar droht. Der syrische Funke kann aber ganz schnell auf die Ukraine überspringen. In US-amerikanischen Medien und Talkrunden wurde vor Jahresfrist ganz offen und gehässig an die Moskauer Adresse geäußert: »Die Krise in der Ukraine ist die Retourkutsche für Syrien.« Weil Wladimir Putin und sein Außenminister Sergej Lawrow vor zwei Jahren den US-Neokonservativen ihren Krieg gegen Assad vereitelt haben. Das war im Kontext der angeblich von Damaskus befohlenen Giftgasangriffe, was gefaket war. Man hat diese Baschar al-Assad in die Schuhe geschoben, um Obama in den Krieg zu drängen. Putin und Lawrow haben das verhindert, als sie sagten: »Die chemischen Waffen kriegen wir aus Syrien raus, ohne dass Ihr Krieg führt.«
 
Der Krieg in Syrien ist eigentlich kein Bürgerkrieg…

Das ist kein Bürgerkrieg. Ein amerikanischer Offizier und Dozent an einer US-Kriegsschule sagte treffend: »Das ist ein von außen hereingetragener Krieg.«
 
Der auf weitere Nachbarländer und auch auf Europa übergreifen könnte? Droht real ein Flächenbrand?

Dieser drohte schon vor zwei Jahren, als amerikanische und russische Kriegsschiffe vor der syrischen Küste auf Sichtweite aneinander vorbei kreuzten und die Amerikaner, Briten und Franzosen einen Bombenkrieg gegen Syrien vorbereiteten. Ein russisches Kriegsschiff hätte einen über syrischen Hoheitsgewässern befindlichen Bomber abschießen oder zumindest dessen Flugkoordinaten an die syrischen Flugabwehrgeschütze weiterleiten können. Man kann davon ausgehen, dass die Russen und Syrier ihre Systeme längst koordiniert haben. Und das hätte uns alle natürlich in die Bredouille gebracht. Es bestand also schon einmal eine hochgefährliche Situation. Retourkutschen nach dem Motto: »Wenn ihr uns ärgert, zünden wir mal wieder ein Feuerchen vor eurer Haustür an« sind tückisch. Deshalb hat Lawrow jetzt den US-amerikanischen Außenminister John Kerry erneut angemahnt, er möge doch mal den wirklichen Experten beiderseits, den russischen und amerikanischen Militärs, die Möglichkeit geben, miteinander zu reden, wenn er Zusammenstöße vermeiden will. Das sind Professionelle. Aber Washington sabotiert seit Jahren die Treffen der Spitzenmilitärs von beiden Seiten.
 
Ist es nicht auch eine Retourkutsche, wenn Putin einen zweiten Marinestützpunkt an der syrischen Küste aufmachen will?

Das ist seine einzige Option, wenn er verhindern will, dass in Syrien ein Szenario wie in Libyen abläuft. Bis jetzt haben die Amerikaner IS gar nicht richtig bombardiert. Das ist selbst den amerikanischen Medien aufgefallen. Da gab es Anfragen ans Weiße Haus und ans Pentagon, warum das fast einjährige Engagement überhaupt nichts bewirkt hat. Die faule Antwort lautete: Es sei extrem schwierig, die IS-Truppen und Stützpunkte zu identifizieren. Und zweitens sei man darauf bedacht, dass keine Zivilisten zu Schaden kommen. Da kann ich nur staunen: Als ob die USA in all ihren Kriegen je Rücksicht auf Zivilisten genommen hätten!
 
Siehe auch die US-Drohnenangriffe auf Afghanistan und Pakistan.

Absolut richtig. Der eigentliche Grund für das vom Westen im Verein mit der Türkei, Saudi Arabien und Katar in Syrien veranstaltete Blutbad hat weder etwas mit Demokratie noch mit religiösen Fanatikern noch mit Menschenrechten zu tun. Ein Blick in Fachzeitschriften der Öl- und Gasindustrie hätte schon vor Jahren über die tatsächlichen Hintergründe des vom Westen und den Golf-Monarchien angezettelten Konflikts in Syrien aufgeklärt. Aber in Europa haben Politiker und Mainstream-Medien diese Informationen sofort im Gedächtnisloch entsorgt. Denn wenn die Wahrheit bekannt würde, würde die angeblich humanitäre und demokratische Sorge des Westens um Syrien sofort als höchst kriminelle und mörderische Operation entlarvt. In den USA dagegen scheut man sich nicht, offener über die eigentlichen Kriegsgründe in Syrien zu reden. Im »US-Armed Forces Journal« war am 21. März 2014 ein Artikel unter der Überschrift »Wenn man nicht von Erdgas spricht, kann man den Konflikt nicht verstehen« zu lesen, in dem es gleich im ersten Absatz hieß: »Ein Großteil der Berichterstattung in den Medien legt nahe, dass es sich bei dem Konflikt in Syrien um einen Bürgerkrieg handelt, in dem das alawitische (shiitische) Bashar al Assad-Regime sich gegen sunnitische Rebellengruppen verteidigt, wobei beide Seiten auch Gräueltaten begehen. Die wirkliche Erklärung ist einfacher: Es geht um Geld.« Autor ist Major Rob Taylor, seines Zeichens Dozent am renommierten Kommando- und Generalstabs-College, Ft. Leavenworth.
Im zweiten Absatz konnte man lesen: »Im Jahr 2009 hat Katar vorgeschlagen, eine Erdgaspipeline durch Syrien und die Türkei nach Europa zu bauen. Stattdessen hat Assad mit Iran und Irak einen Vertrag unterzeichnet, so dass den von Schiiten dominierten Ländern der Zugang zum europäischen Erdgasmarkt ermöglicht würde, während er Saudi-Arabien und Katar abblitzen ließ. Wie es scheint versuchen nun Letztere, Assad zu entfernen, so dass sie Syrien kontrollieren und ihre eigene Pipeline durch die Türkei nach Europa führen können.« Die beiden kurzen Paragraphen werfen, obwohl auch sie ziemlich an der Oberfläche bleiben, plötzlich einen ganz anderen Blick auf den Konflikt. Der Grund für das ganze Fiasko ist offensichtlich, dass die USA ein weiteres menschenverachtendes imperialistisches Abenteuer begonnen haben, das – wenn es aufgeht – die globalen Machtverhältnisse verschieben wird.
 
Und wegen dieses Abenteuers haben wir, besser gesagt: die Menschen in Irak und Syrien, jetzt den mörderischen IS am Hals?

Der sogenannte Islamische Staat ist zwar nicht unbedingt von den US-Geheimdiensten aufgestellt worden, aber dennoch ein nützlicher Feind. Den man gewähren lässt, den man natürlich nicht öffentlich unterstützt, aber unter der Hand. Vor zwei Monaten wurde in Großbritannien ein Gerichtsprozess eröffnet, aber rasch wieder eingestellt. Angeklagt war ein ehemaliger IS-Kämpfer, ein Schwede, der ausgestiegen ist und sich in London niederlassen wollte. Er sollte belangt werden, weil er für den IS gekämpft hatte. Wie der »Guardian« und auch andere Blätter berichteten und mit Zitaten belegten, hat die Verteidigung die Staatsanwaltschaft gewarnt: »Wenn unser Mandant nicht freigelassen wird, weisen wir nach, dass MI6 seine Gruppe mit schweren Waffen aller Art ausgerüstet und im Umgang daran unterrichtet hat.«
Wenn die Briten das schon machen, kann man absolut sicher sein, dass die Amis das auch machen. Die Briten machen so etwas nicht im Alleingang. Es gibt sehr viele Hinweise auf Ausbildungscamps in Jordanien, wo alle möglichen Kämpfer – Al Nusra-, Al Quaida- und sogar IS-Leute – an amerikanischen Waffen von amerikanischen Ausbildern trainiert werden. Man darf sich auch nicht vormachen, Al Nusra oder Al Quaida würden isoliert und gegen IS kämpfen. Die laufen mit den Waffen, mit dem Know-how und fliegenden Fahnen zum IS über. Das wird nicht kontrolliert. Absichtlich nicht.
 
Beweise haben Sie dafür nicht?

Indizien gibt es genug, aber handfeste Beweisen kann ich – noch nicht – vorlegen. Am nächsten dazu kommt ein Bericht der Defense Intelligence Agency, des Nachrichtendienstes des Pentagons. Der warnte bereits 2012, als der IS noch nicht existierte, vor einem islamischen Emirat. Und der vor zwei, drei Monaten herausgekommene DIA-Bericht konstatiert, dass die Leute, die man in Jordanien und anderswo ausbildet, keine moderaten Partner sind, sondern Extremisten, die - sobald sie in Syrien sind - zum IS überlaufen. In dem Bericht steht der Satz: »Leider ist das auf politischer Ebene von den USA, dem Westen, Saudi-Arabien und Katar gewollt.« Es gibt Gründe, warum der nützliche Feind IS gehätschelt wird. Und warum die US-Luftwaffe, die am syrischen Himmel operiert, so ineffizient ist. Da fragt man sich natürlich auch, wozu die vielen Aufklärungsflüge über Syrien. Der eigentliche Feind heißt nach wie vor Assad, nicht IS.
 
Das widerspricht dem gesunden Menschenverstand. Schon mit den Taliban hat manerleben müssen, dass man die Geister, die man rief, nicht mehr los wird.

Mit normalem Menschenverstand versteht man das alles nicht. Erst wenn man das Öl, die Pipelines und die darauf fokussierten geostrategischen Verschiebungen mit bedenkt, bekommt das Ganze auf einmal eine ganz andere Gewichtung. Es geht nicht um irgendeine Terrorgruppe in einem kleinen mittelöstlichen Land, es geht auch nicht um Demokratie oder sonstwas. Es geht darum, Russlands Einfluss auf Europa langfristig zurückzudrängen und Europa an den amerikanischen Nabel zu binden.
 
Wo wird Deutschland stehen, wenn sich die USA und Russland auf syrischem Boden bekriegen? Außenminister Frank-Walter Steinmeier erklärte dieser Tage, man sollte Assad stützen. Das sind ganz neue Töne.

Das sind ganz neue Töne, genau. Vor dem Hintergrund der Katar-Pipeline würde Deutschland zwar vom billigen Gas aus Katar profitieren, aber die deutsche Industrie ist zu einem guten Teil auch von Aufträgen aus Russland abhängig. Katar kauft vergleichsweise wenig von Deutschland. Deutschland wäre womöglich der Verlierer, wenn Assad stürzt. Zumindest würde Deutschland nicht viel gewinnen. Deutschlands Interessen liegen also hier etwas anders als die der Franzosen und Engländer, die mit ihren großen Gas- und Ölkonzernen schon immer im Mittleren Osten präsent sind, wie auch die Amerikaner.
 
War die strategische Partnerschaft der NATO mit Russland vielleicht gar nicht gewollt?

Die war von Anfang an unehrlich. Man braucht sich nur die Agenden anzuschauen. Worüber hat man sich auf diesen NATO-Treffen unterhalten? Lächerlich – z.B. über Pensionszahlungen für Soldaten, wie die berechnet werden. Da war keinerlei ernsthaftes Bemühen, sich besser kennenzulernen oder einen gemeinsamen Nenner in der Einschätzung der geostrategischen Lagen zu finden.
 
Die strategische Partnerschaft mit Russland hatte also gar keine Chance?

Die hatte nie eine Chance! Vielleicht hatte sie eine Chance in den Köpfen von einigen Deutschen.
 
Egon Bahr zum Beispiel.

Ja. Vielleicht sogar von einigen deutschen Militärs.
 
Ist die strategische Partnerschaft beerdigt oder könnte sie wiederbelebt werden?

Sie hat nie existiert. Vielleicht hat man das in den Jahren russischer Unterwürfigkeit geglaubt, als Boris Jelzin am Ruder war und - wie mir Leute aus dem Apparat versicherten – Vertreter des Westens sich selbst in den russischen Geheimdienstbüros frei bewegen und den Kollegen bei der Arbeit über die Schulter blicken konnten. Das fand mit der Wahl Putins ein abruptes Ende. Deshalb ist Putin der große Feind, egal, was er macht.
 
Und weil er die unter Jelzin verlodderte und demoralisierte russische Armee wieder in einen »ordentlichen« Zustand gebracht hat. Gibt es ein militärisches Gleichgewicht zwischen USA und Russland?

Oh nein, auf globaler Ebene auf gar keinen Fall. Aber im Falle einer ernsten Auseinandersetzung mit Russland, meinetwegen um die Ukraine oder entlang der russischen Westgrenze, sehen sich die Amerikaner selbst auf dem schwächeren Ast, auf verlierender Position. Wegen der Logistik. Mit der Luftwaffe kann man nicht alles machen. Und die Luftwaffe der Russen ist auch nicht mehr so schlecht. Selbst wenn russische Piloten nicht die Kampferfahrung der amerikanischen haben. Außerdem: Die NATO und speziell die amerikanischen Piloten hatten schon immer Angst vor den russischen Luftabwehrraketen. Sie bekamen es immer schmerzlich zu spüren, wenn sie diese unterschätzt haben, ob über Korea oder Vietnam. Sogar die Israelis beknien die Russen, Iran und Syrien nicht die S300 oder gar die S400 zu liefern. Denn das würde ihrer Lufthoheit ein Ende bereiten.
 
Apropos: Was für eine geostrategische Bedeutung hat der Streit um einige Riffs im Südchinesischen Meer?


Man hat bei Probebohrungen im Südchinesischen Meer sehr große Gas- und Öllager entdeckt und vermutet, dass es noch viel gigantischere gibt. Trotz der gegenwärtigen Krise kann man China nicht mehr zurück in die Flasche drängen. In drei, vier oder fünf Jahren wird diese vorbei und China die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt sein und hinsichtlich des Produktionsausstoßes die größte bleiben. Dafür braucht man Energie. Den größten Teil seiner Energie muss China importieren. Das sind gigantische Mengen, das kostet gigantisch viel Geld. Warum soll man das Öl und Gas vor der eigenen Haustür nicht ausbeuten? Die Lagerstätten beim so genannten Continental Shelf, einem Seeterritorium – was ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich. China hat dieses Gebiet schon immer beansprucht, und das ist bis zurück ins Mittelalter von den Anrainern auch respektiert worden, wovon Verträge oder Landkarten aus dem 15./16. Jahrhundert zeugen. Man stellt Chinas Besitzanspruch heute infrage. Weil nach dem Zweiten Weltkrieg Japan zum amerikanischen Orbit stieß und die USA als »Pazifische Macht« die ganze Region gegen das kommunistische China neu »geordnet« haben.
Die Chinesen pochen aber darauf: »Diese Öl- und Gasfelder sind unsere. Wir beteiligen andere gerne, auch die Anrainer, aber das ist unser.« Und um das zu unterstreichen haben sie jetzt einige Riffe aufgebaut, immens viel Sand und Steine dahin verschifft, eine Airbase und andere Basen errichtet. Sie sind, so scheint es zumindest, bereit, diese Öl- und Gasfelder notfalls militärisch zu verteidigen. Sie haben ein amerikanisches Spionageflugzeug, in dem sogar eine CNN-Television-Crew saß, abgedrängt. Unter der Drohung, es von den eigenen Flugzeugen nach China geleiten zu lassen und dort zur Landung zu zwingen, haben sie erreicht, dass das Flugzeug abdrehte. Was natürlich die amerikanische Arroganz enorm kränkte.
In diesen Kontext gehört auch die japanische Aufrüstung. Unter Shinzo Abe wurde trotz großen Protestes des japanischen Volkes die Verfassung geändert. Japan darf nunmehr nicht nur das eigene Territorium, sondern auch eigene Interessen außerhalb verteidigen - ähnlich wie in der 1999 neu definierten strategischen Doktrin der NATO.
 
Mit den berüchtigten Out of Area-Einsätzen.

Zum Beispiel. Explizit genannt sind als Interessen der Zugang zu Märkten und Rohstoffen, die Sicherheit der Transportwege, also der Straße von Malakka im Golf von Aden, wo mittlerweile ja auch die NATO steht und deutsche Kriegsschiffe kreuzen, sowie – und das ist wichtig für die aktuelle Situation! - militärisches Eingreifen fern der Heimat, um ungewollte Flüchtlingsströme zu stoppen. Dies in Syrien mit der Bundeswehr zu tun, hat gerade Wolfgang Ischinger, ehemaliger Staatssekretär im Auswärtigen Amt und Botschafter in Washington, im »Merkur« gefordert. Diese Forderungen haben aber auch schon andere Politiker aufgestellt. Hier greift man unausgesprochen auf das neue strategische Konzept der NATO von 1999 zurück.
 
Sie haben als »Topas« etliche brisante Materialien der höchsten Geheimstufe aus Brüssel nach Ostberlin geschickt. Der absolute Clou war wohl das 500-seitige Dokument MC 161. Es ist so viel Zeit vergangen – können Sie uns nicht jetzt offenbaren, wem Sie diesen spektakulären Erfolg verdanken, aus wessen Händen Sie das Konvolut erhielten?

Erst wenn ich definitiv weiß, ob die Personen, die mir da unbewusst geholfen haben, nicht mehr leben, werde ich das vielleicht enthüllen.
 
Nun gut. Im Januar 1990 hörten Sie über Kopfhörer »Alle meine Entchen« und wussten damit, dass es Aus ist, Sie nicht weiter spionieren sollen. Wer hat sich als Code dieses Kinderlied einfallen lassen?

Die Zeile, die ich hörte, lautete: »Köpfchen in die Höh'«. Ich weiß nicht, wer den Einfall hatte. Ich muss bei Gelegenheit mal nachfragen.
 
Und dann haben Sie also aufgeräumt?

Ja, dann wurde aufgeräumt – alles, alles musste weg. Die Codes, Kameras, Radios, alles. Aber ich hatte sowieso nur wenig wirklich verfängliche Sachen bei mir zu Hause. Das war die Maßgabe der HVA: so wenig wie möglich Spionagematerial in der eigenen Wohnung. Natürlich brauchte man das kleine Codebuch, aber das war nicht größer als ein Daumen und nicht dicker als zwei Fingernägel. Ich hatte auch eine Aktentasche mit doppelter Rückwand. Sie war so geschickt genäht, dass ich, wäre das Versteck – ohne Inhalt freilich – entdeckt worden, hätte sagen können: »Oh, das habe ich gar nicht gesehen, das ist wohl ein Produktionsfehler.« Also kein Agentenkoffer. Ich hatte einen Schirm und einen Tennisschläger mit Versteck für Filme und Kameras im Griff. Das war alles sehr solide gearbeitet. Aber das musste auch weg.
 
Oh je, all das, was man aus kitschigen Agenten-Thrillern kennt?! Und nun haben Sie noch nicht einmal mehr einen Füllhalter mit Minikamera?

Nee. Ich habe mir neulich so einen Füller aus China gekauft. Aber die Kamera funktionierte nicht richtig. Ich habe das Ding schon wieder weggeworfen (lacht).
 
Lebten Sie seit jenem Januartag 1990, als Sie abgeschaltet wurden, in stetiger Angst vor der Verhaftung? Zumal in diesem Monat ein Oberst von der Abteilung VII der HVA die Seiten wechselte, der Ihren Decknamen kannte.

Oberst Busch kannte Decknamen und Referenznummer. Ich wusste aber damals noch nicht von seinem Übertritt zum BND, dem er quasi als Morgengabe sein Teilwissen über mich reichte. Davon erfuhr ich erst im Zuge der Gerichtsverhandlung. Da wurde unter anderem davon gesprochen, dass die NATO ein Sieb war und ich praktisch die Botschaft des Warschauer Vertrages in der NATO gewesen sei. Botschaften bekommen normalerweise alle Papiere.
Nachdem Busch den BND informiert hatte, setzte die Bundesanwaltschaft eine Untersuchungskommission ein. Die Staatsschutzabteilung des Bundeskriminalamtes, der Verfassungsschutz, der Militärische Abschirmdienst etc. wurden auf mich angesetzt. Auch im NATO-Sicherheitsapparat wurde eine spezielle Kommission gebildet, um »Topas« zu fangen. Aber ich hatte selbst eine hervorragende Quelle im Sicherheitsapparat. Gerichtsnotorisch wurde der Satz: »Ohne dass wir es wussten, saß Herr Rupp bei unseren Beratungen immer mit am Tisch«.
 
Warum haben Sie sich nicht ins Ausland abgesetzt?

Wohin denn? Das Hinterland war weggebrochen, die DDR existierte nicht mehr, die Sowjetunion hat sogar Honecker ausgeliefert und die deutsche Justiz hat ihn in den Knast geschickt. Mit mir würde man, das war klar, auf jeden Fall dasselbe tun.
 
Aber Hansjoachim Tiedge, der Überläufer aus dem Bundesverfassungsschutz, wurde von Moskau nicht ausgeliefert.

Offenbar hat sich da die Bundesrepublik nicht so angestrengt. Ich weiß, dass ich – also »Topas« - zwei Mal auf dem Sprechzettel der Themen stand, die Helmut Kohl mit Jelzin persönlich bereden wollte. Er wollte wissen, wer »Topas« ist und wie man an ihn rankommt. Ich weiß, dass der damalige Chef des Bundeskanzleramts, Geheimdienstchef Schmidbauer, mindestens sechs bis sieben Mal bei Treffen mit seinem russischen Pendant nachfragte. Aber die Russen wussten ohnehin nicht, wer und wo ich war. Die HVA hatte mich gut abgeschottet.
 
Warum flohen Sie nicht nach Lateinamerika?

Wir wollten mit drei Kindern kein Leben als Nomaden führen. Denn wir hätten immer weiter, immer weiter ziehen müssen. Die Bundesregierung hat Koffer voller Geld in alle Welt geschickt. Das war wirklich wie in schlechten Spionagefilmen. Man hat auch meinem Führungsoffizier steuerfreies Geld angeboten, wenn er meinen Namen enthüllt. Aber der hat lieber seine Strafrente genommen.
 
So ein Rummel um einen Spion, dessen Dienst nicht mehr existierte? Man hätte Kosten und Nerven sparen können, war doch Ihre Geschichte mit dem 3. Oktober 1990 Geschichte.
 
Ich war in der Tat der meistgesuchte Mann damals. Der Bundesanwalt sprach von der »größten Suchaktion der Dienste in der Nachkriegszeit«.
 
Wie haben die Kinder Ihre Verhaftung aufgenommen? Die Teenager wussten nichts von Ihrem Doppelleben.
 
Meine Frau und ich wurden verhaftet, als wir bei meiner Mutter zu Besuch waren, zu ihrem 70. Geburtstag. Die Kinder waren mit einem Schlag ohne Vater und Mutter. Ich weiß nicht, wie sie in jenem Moment reagierten. Aber sie stehen zu uns. Und neulich sagten sie feierlich, sie seien stolz auf uns. Was will man mehr? Die schlechten Zeiten sind dann nur noch ein böser Traum. (PK)
 
Dieses interessante Interview haben wir mit Dank von der Tageszeitung Neues Deutschland übernommen:
http://www.neues-deutschland.de/artikel/984992.retourkutschen-sind-tueckisch.html
 


Online-Flyer Nr. 529  vom 23.09.2015

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