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Literatur
Aus der Erinnerung nur wächst die Zukunft
Das letzte Buch von Günter Grass
Von Ulrich Gellermann

Das war´s: "Vonne Endlichkait", ist das letzte Buch von Günter Grass. War´s das? Wer kann schon so weit in die Zukunft blicken und Geschichtsmächtigkeit erkennen? Jene Summe von Zitaten und Rezitaten, die Erinnerungen künftiger Rezensionen, die Bilanz germanistischer Diplomarbeiten: "Die Auswirkungen sozialdemokratischer Politik auf die Poetik des Günter Grass", oder "Der Pferdekopf als Aalköder – das Märchen von der Gänsemagd als Material für die Blechtrommel". Endlich, denken sie, sie hätten ihn beerdigt, den Querschreiber, auf USB-Sticks abgeheftet, und sie könnten sich den Nachrichten zuwenden, in denen doch nur ein weiteres Stück von Grass über den Krieg aufgeführt wird: "Gedachten wir, vom Bildersturz verschreckt, / des Ersten, während vielerorts / der Dritte anfing, Probe nur / und Übung für den Ernstfall war." So brandet noch einmal der Grass auf, in seinem letzten Buch: "Und hielt den Atem an / haßentbrannt in diesem Sommer." 

 


Günter Grass
NRhZ-Archiv

 

Hassentbrannt? Ja hat der Alte denn nicht seinen Frieden gefunden, in seinen letzten Tagen? Es wird dieser Sommer gemeint sein, der letzte des Grasschen Lebens, ein Sommer voller Krieg, auf den die Vernunft und die Liebe zu den Menschen mit demselben Hass zurückblicken wird wie der Dichter. – Der lag mal zur Probe in seinem Sarg. Machte sich vertraut mit seinem Tod, das Holz roch frisch, zufrieden habe er ausgesehen, meinte seine Frau, bei der Anprobe. So gehen Momentaufnahmen. In langen Spannen misst sich die Unzufriedenheit: "Erst als die immer schon Heimischen / sich fremd genug waren / begannen auch sie / ihr Fremdsein zu ertragen" - das notiert uns Grass über die Vertriebenen, beschrieben werden die Millionen Deutsche des letzten großen Krieges, gemeint sind alle, die vor Kriegen geflohen in fremden Ländern die nützliche Masse der Fremden stellen.
 

Einmal, auf den gut gebundenen Seiten von dickem, weichen Papier, lädt Grass zum Vergleich mit sich selbst ein: Auf der linken Seite ist Herbstlaub mit dem Zeichenstift schraffiert zu sehen, auf der rechten malt er das Laub in seiner Sprache: "Ich beuge mich, lerne lesen. Kein Blatt ohne Inschrift. Auf einem Fächer Kastanienlaub hat Eichendorff ein Gedicht hinterlassen, das ich als Schüler hersagen konnte." Stünde der Dichter mit dem Zeichner im Wettbewerb, um Längen hätte der Dichter den Kampf gewonnen. Wie sollten auch Zeilen über das unheimliche Wort der Kindheit, nach dem Gott alles sieht, in einer Zeichnung gefasst werden können. Grass nimmt das Wort, zerschlägt es, fügt es neu und betet: "Ach, liebe Drohne / mach mich fromm, / daß ich in deinen Himmel komm." So wird das Auge Gottes in die wirklichen Machtverhältnisse bewegt, dorthin, wo aus heiterem Himmel jede Stunde ein US-Gottesurteil die Erde verfinstern kann. 

Ganze vier Seiten lang kämpft der Dichter den "Abschied vom Fleisch". Und was das Feuilleton sicher als vegetarische Handreichung überblättert hat, ist ein beißendes Gedicht vom Tod, sich noch einmal ins lebendige Fleisch krallend, noch einmal den Leib der Frauen erinnernd und auch den eigenen; den Abschied nehmen, weil anderes nicht mehr zu nehmen ist. – Die Deutschen sagen bei den langen Abschieden "Lebe wohl", das nimmt sich nach dem Ende des Lebens eher komisch aus. Einmal mehr hilft das englische Farewell: Reise gut, Grass! Reise im Gepäck derer, die erinnern können. Denn aus der Erinnerung nur wächst uns die Zukunft. (PK) 

Buchtitel: "Vonne Endlichkeit"
Buchautor: Günter Grass
Verlag: Steidl
176 Seiten
28 Euro



Online-Flyer Nr. 536  vom 11.11.2015

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